16

Während Doc, Rama Joan und der Ladestock sich mit Ray Hanks' gebrochenem Bein beschäftigten, führte Clarence Dodd die übrigen Männer zu den verschütteten Autos. Wenn drei oder vier den Lieferwagen anschoben, kam er auch in dem Sand gut in Fahrt, aber als sie alle aufsteigen wollten, blieb er fast stehen. Schließlich fuhren nur Hixon, der kleine Mann und Harry McHeath, während Paul, Hunter und Wojtowicz hinterher marschierten.

Als sie erst die Hälfte der Entfernung zur Straße zurückgelegt hatten, kam McHeath bereits wieder an ihnen vorbei. Er trug eine Beinschiene und Verbandzeug aus Doddsys Autoapotheke.

»Langsamer, Freundchen!« rief Wojtowicz hinter ihm her. »Du bekommst auf keinen Fall eine Goldmedaille! Der Junge übertreibt wirklich«, sagte er dann zu Paul. »Ich bin seinen Tanten gegenüber für ihn verantwortlich.«

Der kleine Mann und Bill Hixon waren bereits damit beschäftigt, den nur zur Hälfte verschütteten Caravan zu entladen. Auf dem Lieferwagen türmte sich allmählich ein ganzer Stapel nützlicher Dinge auf — Konservendosen, Bier in Büchsen, Wolldecken, zwei Lederjacken, ein kleines Zelt, Holzkohlebriketts, Petroleum, ein Primuskocher — und sogar zwei Macheten, über die Paul unwillkürlich grinsen mußte. Dann folgten zwei Armeekarabiner mit Munition, drei Benzinkanister und ein Stück Schlauch, mit dessen Hilfe sie die Benzintanks der verschütteten Wagen leerten, um den Tank des Lieferwagens und die Kanister zu füllen, so daß sie sechzig Liter Reserve hatten.

Wojtowicz hing sich ein Gewehr um und verkündete laut: »Jetzt bin ich wieder Soldat! Im Gleichschritt ... marsch!«

Der schwer beladene Lieferwagen schaffte auch die Rückfahrt ohne größere Schwierigkeiten, obwohl die Hinterräder einige Male in losem Sand durchdrehten. Hixon machte sogar noch eine elegante Kurve und bremste dann scharf, so daß der Wagen weiterrutschte, bis die Klappe der Ladefläche auf die Plattform wies.

Doc betrachtete die aufgehäuften Schätze und schüttelte dann langsam den Kopf. »Doddsy, ich sehe alles, was man für Katastrophenfälle braucht — nur keinen anständigen Schnaps«, stellte er dann fest.

»Ich habe einen reichlichen Vorrat an Barbituraten und Dexedrin«, antwortete der kleine Mann gelassen.

»Kümmerlicher Ersatz«, meinte Doc bedauernd. »Wenn Sie wenigstens etwas Meskalin und ein paar Marihuana-Zigaretten hätten ...«

Wanda starrte ihn an. Harry McHeath lachte nervös, und Wojtowicz warf Doc einen warnenden Blick zu, bevor er sagte: »Er macht nur Spaß, Kleiner.«

Doc nickte grinsend und wandte sich an die hagere Frau. »Schenken Sie den letzten heißen Kaffee aus, Ida. Die Hixons haben noch keinen bekommen, und wir können alle ein Sandwich mit einem Becher Kaffee vertragen. Doddsy hat eine große Büchse Pulverkaffee mitgebracht, so daß wir nicht mehr zu sparen brauchen. Außerdem brauchen wir die Thermosflaschen für Wasser aus dem Tank hinter dem Haus — ich habe bereits festgestellt, daß es trinkbar ist. Wahrscheinlich glauben die meisten von Ihnen, daß ich nur auf C2H5OH Wert lege, aber ich trinke tatsächlich gelegentlich auch H2O.«

Die anderen waren sofort mit seinem Vorschlag einverstanden. Alle waren müde und nahmen dankbar die Gelegenheit wahr, sich endlich für kurze Zeit auszuruhen. Ray Hanks, dessen Bein geschient und dick bandagiert war, lag zwischen ihnen auf dem Liegebett. Er fühlte sich verhältnismäßig wohl, seitdem Doc ihm den restlichen Inhalt seiner Whiskyflasche eingeflößt hatte.

Ida schenkte zuerst den Hixons ein, die nebeneinander saßen. Sie sahen sich an und hoben dann ernst die Papierbecher, als wollten sie sich zutrinken. Diese Geste bestimmte auch das Verhalten der anderen, die jetzt alle ernste Gesichter machten, als sie den letzten Kaffee tranken. Jeder spürte in diesem Augenblick, was Hunter schon vorher empfunden hatte — daß er sich hier an einem Zufluchtsort befand, den man nur schweren Herzens verließ.

Hier am Strand gab es keine Felswände, die über einem zusammenstürzen konnten, keine Gebäude, die einstürzen und in Brand geraten konnten, keine Gasrohre, die zersplittern und explodieren konnten, und keine Hochspannungsleitungen, die blitzschnell den Tod bringen konnten, wenn die Drähte rissen. Das niedrige Haus hinter ihnen, dessen Wände seit dem letzten Beben große Risse aufwiesen, wirkte nicht gefährlich, denn es war klein, dunkel und genügend weit entfernt.

In dieser Umgebung gab es keine Fremden, die einen beobachteten, und keine Opfer der Katastrophe, denen man helfen mußte. Die atmosphärischen Störungen hatten die Verbindung zur Außenwelt unterbrochen, so daß keiner der Anwesenden wußte, welche dringenden Anweisungen und Hilferufe Polizei, Rotes Kreuz und Zivilschutz unterdessen durch den Äther sandten. Hier in dieser friedlichen kleinen Strandkolonie konnte man ruhig abwarten, wie sich die Dinge weiterentwickeln würden — und dabei den Wanderer beobachten, der sich langsam über dem Meer dem Horizont näherte, während der Mond wieder einmal hinter ihm verschwunden war.



»Aber wir müssen trotzdem von hier fort — in drei oder vier Stunden«, sagte Doc plötzlich, als habe er eben gemerkt, daß die anderen davon träumten, vorläufig hier zu bleiben. »Wegen der Flut«, fügte er noch hinzu.

Als Hunter ihm einen warnenden Blick zuwarf, erklärte Doc hastig: »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch — wir sind im Augenblick keineswegs in Gefahr, ganz im Gegenteil. Das Flutintervall beträgt hier etwa zehn Stunden, was bedeutet, daß die Ebbe ungefähr vier Stunden nach dem Zeitpunkt einsetzt, an dem der Mond am höchsten steht. In anderen Worten dauert es noch eine Stunde, bis die Ebbe ihren tiefsten Stand erreicht hat. Folglich haben wir reichlich Zeit für eine längere Ruhepause, die ich persönlich auszunützen gedenke.«

»Aber was wollten Sie von der Flut sagen, Doc?« fragte Wojtowicz.

Hunter runzelte die Stirn und schüttelte leicht den Kopf.

»Nein, Ross, sprechen wir lieber jetzt davon solange wir uns ausruhen können«, sagte Doc. Er wandte sich an Wojtowicz: »Sie wissen natürlich, daß die Masse des Mondes für Ebbe und Flut verantwortlich ist? Schön, aber jetzt steht der Wanderer dort oben. Er befindet sich ungefähr an der gleichen Stelle, deshalb können wir annehmen, daß Ebbe und Flut sich etwa wie gewohnt abwechseln werden.«

»Prima«, meinte Wojtowicz erleichtert. »Vorher hätten Sie mir beinahe Angst eingejagt.«

Doc seufzte leise und fuhr fort: »Wenn wir berücksichtigen, wie schnell der Wanderer den Mond eingefangen hat, müssen wir annehmen, daß seine Masse etwa der der Erde entspricht. In anderen Worten — seine Masse beträgt vermutlich das Achtzigfache der Masse des Mondes.«

Dann herrschte lange betroffenes Schweigen. Das Wort ›achtzigfach‹ schien wie ein dunkler Felsen über der Versammlung zu schweben und wurde von Sekunde zu Sekunde riesiger und drohender. Nur der Ladestock und seine beiden Frauen machten sich anscheinend keine Sorgen. Hunter runzelte nachdenklich die Stirn und beobachtete die Reaktionen der anderen. Rama Joan zupfte an der Decke, die sie über ihre schlafende Tochter gebreitet hatte, und sah dann lächelnd zu Doc hinüber. Mrs. Hixon hob die Hände, als wolle sie sagen: »Aber das ist ...« Ihr Mann legte ihr den Arm um die Schultern und nickte Doc ernst zu. Paul und Margo starrten besorgt zu dem Wanderer hinauf. Der kleine Mann verschränkte die Arme und sah Doc erwartungsvoll an.

Doc erwiderte die Blicke der anderen mit einem bedauernden Schulterzucken und einem aufmunternden Lächeln.

Der junge Harry McHeath sprach schließlich aus, was alle dachten. »Sie glauben also, Mister Brecht, daß Ebbe und Flut zwar in ungefähr gleichen Zeitabständen auftreten werden ... aber achtzigmal stärker?« fragte er ungläubig.

»Das hat er nicht gesagt!« warf Hunter rasch ein. »Rudi, Sie haben nicht berücksichtigt, daß Ebbe und Flut nur langsam auf irgendwelche Veränderungen reagieren. Wir haben mindestens noch einen Tag Zeit. Außerdem sind die Gezeiten ein Resonanzphänomen — es dürfte also ziemlich lange dauern, bis die Schwingungen größere Amplituden annehmen.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht«, gab Doc sofort zu. »Ich nehme sogar an, daß der Faktor achtzig durch Rückstau und andere Erscheinungen erheblich gemildert wird. Aber der zweifarbige Planet existiert trotzdem und besitzt eine gewisse Masse, die nicht dadurch geringer wird, daß wir hier unten darüber diskutieren. Sie alle haben mit eigenen Augen gesehen, wie er den Mond zugerichtet hat. Ob es nun sieben Stunden oder sieben Tage dauert — die große Flut kommt jedenfalls, und wenn sie kommt, möchte ich ein paar größere Hügel unter mir haben. Deshalb habe ich mich nach der Bergstraße bei Santa Monica erkundigt«, erklärte er den Hixons. Als die anderen alle gleichzeitig zu sprechen begannen, fuhr er mit erhobener Stimme fort: »Wer eine Anstrengung unternimmt, sammelt zunächst seine Kräfte — und genau das habe ich jetzt vor.«

Er streckte sich auf vier Stühlen aus, legte den Arm über die Augen und begann übertrieben laut zu schnarchen.


Don Merriam, der jetzt zum zweitenmal um den Wanderer kreiste, dachte plötzlich an die ungeheure Bedrohung der Erde durch die bloße Existenz dieses geheimnisvollen neuen Planeten. Vielleicht kam es zu Erdbeben und riesigen Flutwellen — ganz bestimmt sogar, obwohl Don nicht wußte, wie rasch sie entstehen würden — und vielleicht sogar ... Er bezweifelte, daß der Wanderer die Erde aus dieser Entfernung ernsthaft beschädigen konnte, wünschte sich aber trotzdem, er wäre schon wieder auf der anderen Seite des neuen Planeten, von wo aus er die Erde mit dem Fernrohr beobachten konnte.

Es war seine Pflicht, die Erde zu warnen oder wenigstens den Versuch zu unternehmen, obwohl er selbst nicht an den Erfolg dieser Bemühungen glaubte. Don schaltete das Funkgerät des ›Baba Yaga‹ ein und begann zu senden. Zwischendurch machte er längere Pausen, in denen er den Kopfhörer fester an die Ohren drückte, weil er auf eine Antwort hoffte. Einmal glaubte er schon, sein eigenes Rufzeichen gehört zu haben, aber dann herrschte wieder tiefes Schweigen.


Die Massenhysterie einzelner Abteilungen der New Yorker Polizei und Feuerwehr, durch die alle Vorkehrungen für etwaige Katastrophenfälle wirkungslos gemacht wurden, beruhte auf einer ganzen Reihe verschiedener Faktoren, die in diesem Fall zusammenwirkten: übertriebene Berichte über eine Flutwelle am Hell Gate und über die Erdbebenschäden im Zentralkrankenhaus der Stadt, sinnlose Anweisungen des durch Wassereinbrüche kurzgeschlossenen Computers in der unterirdischen Koordinationszentrale und Falschmeldungen über Unruhen in Harlem.

Trotzdem spielte auch die allgemeine Nervosität eine große Rolle — jeder hatte Angst und spürte gleichzeitig den unwiderstehlichen Drang in sich, irgendwohin zu rasen und irgendwie den Helden zu spielen. Unbeteiligte Beobachter hätten fast glauben können, der Wanderer erzeuge in den Menschen wirklich die Verrücktheit, die sonst in alten Märchen der Wirkung des Mondscheines zugeschrieben wird. Überall in der westlichen Hemisphäre — in Buenos Aires und Boston, in Valparaiso und Vancouver — kam es zu den gleichen sinnlosen und überhasteten Aktionen der Männer, von deren energischem Eingreifen soviel abhing.

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