10

Don Merriam zündete die Triebwerke, bevor er sich angeschnallt hatte und nachdem die Treibstoffpumpen kaum zu fördern begonnen hatten. Der Grund dafür war einleuchtend genug: Er spürte, daß das Schiff in den Abgrund zu rutschen begann.

Er hatte getan, was er konnte, um Zeit zu sparen. Er hatte sogar auf die Benützung der Luftschleuse verzichtet und statt dessen die Schiffsatmosphäre entweichen lassen. Dann hatte er die Schleuse nur notdürftig hinter sich verriegelt und das Sauerstoffventil in der Eile nicht völlig geöffnet, obwohl er wußte, daß der Sauerstoffvorrat seines Anzuges nicht mehr lange vorhalten würde. Und trotzdem hätte er das Rennen gegen die Zeit fast verloren.

Die kalten Triebwerke arbeiteten jedoch zum Glück hervorragend. Aus den fünf Düsen unter dem ›Baba Yaga‹ strömten weißglühende Gase mit fast drei Sekundenkilometer Geschwindigkeit. Nach einem kritischen Augenblick hob das Schiff tatsächlich ab, aber nicht senkrecht, sondern schräg — wie ein Flugzeug alter Bauart.

Aber jetzt machte Don einen großen Fehler, denn sein gegenwärtiger Kurs hätte ihn vermutlich auch ohne seine Einmischung in eine annehmbare Kreisbahn um den Mond gebracht. Aber er flog nach Sicht und hatte das Gefühl, jeden Augenblick in eine der unzähligen Spalten zu fallen, die sich plötzlich unter ihm geöffnet hatten. Außerdem wußte er, daß die Kurskorrektur weniger Treibstoff verbrauchte, wenn sie möglichst frühzeitig vorgenommen wurde, während er andererseits keine Ahnung hatte, wieviel Treibstoff ihm überhaupt zur Verfügung stand, denn er konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, in welchem der drei Schiffe er sich befand. Dazu kam noch, daß seine körperliche Erschöpfung und der Sauerstoffmangel ihn ernsthaft behinderten.

Jedenfalls betätigte er gleichzeitig alle drei Feuerknöpfe der Feststoffraketen an der Seite des Schiffes, die dem Mond zugekehrt war. Als die Raketen zündeten, wurde Don von dem plötzlichen Ruck auf das Deck geschleudert. Sein Hinterkopf krachte gegen die Innenseite des Helmes. Don verlor das Bewußtsein.

Zehn Sekunden später erloschen die Triebwerke, die automatisch stillgelegt wurden, wenn der Pilot seinen Platz verließ. Die Feststoffraketen waren eine Zehntelsekunde früher ausgebrannt. Die Kurskorrektur war unter diesen Umständen erstaunlich genau gelungen. Der ›Baba Yaga‹ stieg jetzt senkrecht nach oben und hatte fast die erforderliche Fluchtgeschwindigkeit erreicht. Aber jetzt verringerte die geringe Schwerkraft des Mondes diese Geschwindigkeit immer mehr, obwohl das Schiff sich weiter von dem Erdtrabanten entfernte.

Dons Helm lag auf der nur leicht verriegelten Luftschleuse. Durch einen kaum sichtbaren Haarriß in der Sichtscheibe seines Helmes entwich eine dünne Wasserdampfwolke. Um den Sprung herum bildeten sich weiße Eiskristalle.


Barbara Katz sagte zu Knolls Kettering III.: »Weniger als eine Minute bis zum Treffpunkt, Dad.« Mit ›Treffpunkt‹ meinte sie den Augenblick, in dem der Wanderer sich vor den Mond schieben würde, oder der Mond vor den Wanderer, oder ...

»Entschuldigung, Sir«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihnen, »aber was passiert, wenn sie zusammenstoßen?«

Barbara drehte sich erstaunt um. Das Haus hinter ihr war jetzt schwach beleuchtet. In dem Licht erkannte sie einen riesigen Neger in der Uniform eines Chauffeurs, der neben zwei Frauen stand. Die drei mußten sehr leise herangekommen sein.

»Ich habe euch doch gesagt, daß ihr zu Bett gehen sollt«, erklärte Mr. Kettering. »Ihr wißt genau, daß ich es nicht vertragen kann, wenn ihr euch zuviel um mich kümmert.«

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte die Stimme nochmals, »aber alle Leute sind im Freien und beobachten das Ding dort oben. Bitte, Sir, was passiert, wenn es mit dem Mond zusammenstößt?«

»Keine Angst, dazu kommt es nicht«, stellte Barbara fest, als Mr. Kettering keine Antwort gab. »Der Mond bewegt sich vor dem Wanderer vorbei.« Dann fügte sie impulsiv hinzu: »Oh, Dad, jetzt glaube ich erst wirklich, daß er dort oben steht.«

Die beiden Hausmädchen klammerten sich erschrocken aneinander.

»Der Wanderer?« fragte der Chauffeur leise.

Knolls Kettering III. ergriff die Initiative. Er sagte energisch: »Richtig, das ist der Name, den Miß Katz und ich ihm gegeben haben. Geht jetzt endlich wieder ins Haus zurück und zu Bett!«


Eine kleine Prozession bewegte sich langsam durch Sand und Seegras auf das Strandtor von Vandenberg zu. An ihrer Spitze marschierten Doc, Paul und Margo mit Miau auf dem Arm. Dann kamen Hunter, der Ladestock und die beiden anderen Männer, die gemeinsam mit ihnen das Liegebett schleppten, auf dem Wanda — die dicke Frau — ruhte und gelegentlich leise stöhnte. Neben ihr ging die hagere Frau, die ihr Kofferradio in dem Erdrutsch eingebüßt hatte. Sie sprach beruhigend auf Wanda ein. Die Nachhut bestand aus Rama Joan, Ann und Clarence Dodd, der seinen nervösen Schäferhund an einer kurzen Leine führte.

Das Liegebett stammte ebenfalls aus dem offenbar unerschöpflichen Vorratslager, das der kleine Mann im Kofferraum seines Wagens eingerichtet hatte. Als Margo ihn aus Spaß gefragt hatte, ob er auch einen Primuskocher bei sich habe, hatte der kleine Mann ohne mit der Wimper zu zucken geantwortet: »Selbstverständlich, aber ich glaube nicht, daß wir ihn schon jetzt brauchen.«

Der Wanderer hatte sein Aussehen in der Zwischenzeit schon wieder verändert. Die neue purpurrote Fläche, die jetzt sichtbar geworden war, enthielt einen großen gelben Fleck, der entfernt an ein D oder ein gleichseitiges Dreieck erinnerte.

»Hinter dem D taucht ein schwarzer Schatten auf!« rief Rama Joan plötzlich. »Der Mond verdeckt ihn allerdings zum größten Teil.«

»Das ist der Schatten des Mondes auf dem neuen Planeten!« antwortete Doc nach einigen Sekunden aufgeregt. »Und der Schatten ist nicht einmal kleiner. Ross, die beiden sind bestenfalls einige tausend Kilometer voneinander entfernt! Jetzt wissen wir endlich, daß der neue Planet so groß wie die Erde sein muß.«

»Mommy, heißt das, daß sie fast zusammengestoßen wären?« flüsterte Ann. »Warum ist Mister Brecht so fröhlich? Weil sie nicht zusammengeprallt sind?«

»Nicht ganz, Liebling. Wahrscheinlich hätte er den Zusammenstoß sogar begeistert verfolgt. Mister Brecht ist fröhlich, weil er gern für alles eine genaue Erklärung hat.«


Die Kabine des ›Baba Yaga‹ füllte sich allmählich mit einer Mischung aus Sauerstoff und Helium aus dem Tank, dessen Ventil Don teilweise geöffnet hatte. Der dadurch entstehende Druck verriegelte die Luftschleuse und öffnete zwei Ventile in Dons Helm. Ein halbes Dutzend Ventilatoren in der Kabine sorgten dafür, daß die frische Luft rasch verteilt wurde Sie drang in den Helm des Bewußtlosen ein und ersetzte dort allmählich die verbrauchte Atemluft. Don bewegte sich und verzog das Gesicht dann atmete er tiefer und schlief fest ein.

Der ›Baba Yaga‹ erreichte den höchsten Punkt seiner Flugbahn, blieb dort einige Sekunden lang fast unbeweglich und fiel dann wieder auf die Mondoberfläche zurück. Dabei kam er langsam ins Trudeln, so daß auf den Bildschirmen abwechselnd der Mond und die Erde erschienen. Der staubbedeckte Raumanzug, in dem Don steckte, bewegte sich ebenfalls sehr langsam über das Deck.


Der kleine Mann rief Paul zu: »Nichts gegen Sie persönlich, Mister Hagbolt, aber das Tor von Vandenberg zwei scheint doch erheblich weiter entfernt zu sein, als Sie vorher behauptet haben. Ruhig, Ragnarok!«

»Es liegt dort vorn unter dem roten Blinklicht«, antwortete Paul und wünschte sich, er wäre wirklich davon überzeugt. Dann fügte er hinzu: »Ich muß zugeben, daß ich die Entfernung unterschätzt habe.«

»Keine Angst, Doddsy. Paul bringt uns schon hin«, meinte Doc zuversichtlich.

Die drei Männer bereiteten sich darauf vor, Hunter, den Ladestock und einen der beiden Männer abzulösen, die das Liegebett mit der dicken Frau schleppten.

»Wie geht es dir, Wanda?« fragte die hagere Frau und kniete neben ihr im Sand. »Willst du noch ein paar Baldriantropfen?«

»Etwas besser«, antwortete die Dicke mit schwacher Stimme und öffnete dabei die Augen. »Großer Gott«, seufzte sie, als sie den Wanderer sah. Dann drehte sie sich auf die andere Seite und schwieg verbissen.



Der Mann an der vierten Ecke der improvisierten Tragbahre, ein untersetzter Schweißer namens Ignaz Wojtowicz, wollte vermutlich nur die Pause verlängern, als er sich erkundigte: »Weshalb spüren wir eigentlich nichts von der Schwerkraft dieses Planeten, der angeblich so groß wie die Erde ist? Zumindest müßten wir doch leichter geworden sein.«

»Aus dem gleichen Grund, aus dem wir nichts von der Schwerkraft der Sonne oder des Mondes merken«, antwortete Hunter rasch. »Außerdem haben wir keine Ahnung, wie groß seine Masse wirklich ist. Falls der Planet wirklich aus dem Hyperraum kommt, muß seine Schwerkraft sich von einem Augenblick zum anderen ausgewirkt haben — aber der Übergang ist offenbar reibungslos vor sich gegangen.«

»Richtig«, stimmte Doc zu. »Aber seit wann bezweifeln Sie meine Hyperraum-Theorie, Ross? Wo soll das Ding sonst hergekommen sein?«

»Vielleicht war es nur irgendwie getarnt oder unsichtbar«, wandte Hunter ein. »Wir müssen alle Möglichkeiten berücksichtigen. Das haben Sie selbst gesagt.«

»Hmmm«, meinte Doc. »Nachdem Paul uns von den Verzerrungen auf den Fotografien erzählt hat, dürfte Brechts Hyperraum-Hypothese vorläufig die beste Lösung sein. Übrigens können wir bereits gewisse Rückschlüsse auf die Masse des neuen Planeten ziehen.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Es ist jetzt sieben Minuten nach eins — der Planet ist also vor ungefähr zwei Stunden aufgetaucht.«

»Zwei Stunden und fünf Minuten«, warf der kleine Mann ein.

»Sie sind wirklich Gold wert, Doddsy. Jedenfalls müßte der Mond um diese Zeit bereits den höchsten Punkt überschritten haben und in etwa einer Stunde untergehen. Jetzt steht er aber noch östlich von diesem Punkt — etwa drei oder vier Grad, was sechs bis acht Monddurchmessern entspricht. Das könnte bedeuten, daß die Anziehungskraft des neuen Planeten den Mond auf seiner Bahn beschleunigt hat. Folglich ist der Neue bestimmt kein Leichtgewicht.«

»Toll«, sagte Wojtowicz anerkennend. »Wieviel höher ist die Geschwindigkeit, Doc?«

»Sie muß sich von etwa einem Sekundenkilometer auf ...« Doc machte eine Pause, als könne er selbst nicht glauben, was er ausgerechnet hatte. »Die Geschwindigkeit muß sich auf mehr als sechs Sekundenkilometer erhöht haben«, sagte er dann langsam.

Er warf Hunter einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Toll«, wiederholte Wojtowicz. »Bleibt der Mond auf seiner alten Bahn, Doc, obwohl seine Geschwindigkeit sich erhöht hat? Dann müßte er doch pro Monat eine Woche oder so ähnlich gewinnen, wie?« Der Abstand zwischen dem Mond und dem neuen Planeten hatte sich unterdessen ein wenig vergrößert.

»Kommen Sie, wir müssen selbst sehen, daß wir uns von der Stelle bewegen«, sagte Doc und bückte sich nach seiner Ecke der Tragbahre.

»Richtig«, meinte Hunter und griff nach einer anderen.

Загрузка...