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Paul Hagbolt hatte sich noch immer nicht an die seltsame Körperhaltung gewöhnt, in der seine Fesseln ihn festhielten. Die unsichtbare Sonne hatte die Vorderseite seines Körpers bereits völlig getrocknet, als er zwei unergründliche Katzengesichter sah, die ihn aus den Blumenbeeten heraus beobachteten. Eines davon gehörte Miau, das andere war so groß wie sein eigenes. Die beiden schwebten durch die Blüten nach vorn, bis sie nicht länger verborgen waren, und blieben dann einander zugewendet, ohne sich um Paul zu kümmern oder das geringste Interesse für ihn zu zeigen.

Das Tiger-Wesen berührte Miau mit einer ausgestreckten Pfote. Die Katze schlug spielerisch danach, während ihr Schwanz aufgeregt zuckte; dann saß sie wieder ruhig und starrte in die großen Augen des Tigers, mit dem sie sich bereits angefreundet zu haben schien. Die beiden erinnerten Paul an eine Mutter mit ihrem Kind.

Er beobachtete den Tiger aufmerksam, wobei ihm zum erstenmal einfiel, daß er es vermutlich mit einem weiblichen Lebewesen zu tun hatte, denn der Gesamteindruck, den er bisher bekommen hatte, war durchaus nicht männlich energisch, sondern eher weiblich verspielt. Für eine Katze hatte ›sie‹ einen bemerkenswert kurzen Rumpf, lange Beine und lange Arme — dem Körperbau nach mehr eine Cheetah als jede andere irdische Katze, aber gleichzeitig erheblich größer: so groß wie Paul. Die Körperproportionen erinnerten ebenfalls eher an einen Menschen, so daß er vermutete, das seltsame Wesen könne sich unter Einfluß von Schwerkraft ebensogut auf zwei wie auf vier Beinen bewegen.

Ihr Pelz war an der Unterseite des Körpers grün, aber auf dem Rücken und an der Oberseite der Pfoten grün mit violetten Streifen. Der Kopf wies hochgestellte Katzenohren auf, aber die Stirn war breiter und höher als sonst bei Katzen, wodurch die Dreiecksform noch mehr betont wurde. Das ganze Gesicht erinnerte durchaus an eine Katze, denn selbst die hellen Schnurrbarthaare fehlten nicht. Hier war der Pelz dunkelviolett, aber um die Augen lag eine grüne Maske.

Die schlanken Pfoten hatten durchaus Ähnlichkeit mit Händen, wobei nicht einmal störte, daß ein Finger zu fehlen schien. Die Krallen waren im Augenblick nicht sichtbar. Der violett gestreifte grüne Schwanz lag in einem eleganten Bogen über den Hinterbeinen.

Der Gesamteindruck — selbst der Schwanz! — erinnerte Paul an eine schlanke Frau, die ein hautenges Pelzkostüm trug, das zur Ausstattung eines phantastischen Katzenballetts gehörte. Als er daran dachte, spürte er eine seltsame Unruhe, die er sich nicht gleich erklären konnte.

In diesem Augenblick begann das Tiger-Wesen zu sprechen — aber nicht mit ihm, sondern mit Miau. Das war so unwahrscheinlich und unerklärlich, daß Paul wie in einem Traum zuhörte.

»Komm, Kleine«, sagte das Tiger-Wesen und zeigte dabei weiße Zähne zwischen dunkelroten Lippen. »Wir sind doch jetzt Freunde. Du brauchst nicht mehr so schüchtern zu sein.«

Miau starrte weiter zufrieden vor sich hin.

»Du und ich gehören der gleichen Rasse an«, sprach das Tiger-Wesen weiter. »Ich spüre, daß du jetzt nicht mehr aufgeregt bist. Warum sprichst du also nicht? Hast du keine Fragen?«

In der folgenden Pause glaubte Paul zu erkennen, was sich hier in Wirklichkeit abspielte. Dann fuhr das Tiger-Wesen fort: »Du bist wirklich schüchtern, Kleine! Brauchst du einen Namen? Ich kenne deinen. Meiner? — Tigerishka! Ich habe den Namen für dich erfunden. Du hältst mich für einen schrecklichen Tiger aber gleichzeitig auch für eine schöne Ballerina. Alle Ballettänzerinnen nennen sich ›enska, -skaya, -ishka‹. Tigerishka!«

Dann verstand Paul alles. Dieses Super-Wesen war einem Super-Irrtum erlegen! Tigerishka hatte seine Gedanken innerhalb weniger Sekunden durchsucht und dabei sogar Englisch gelernt — aber sie hatte sich eingebildet, es dabei mit Miau zu tun zu haben. Im gleichen Augenblick erkannte er auch, welches Gefühl ihn vorhin bewegt hatte — männliches Begehren nach einem attraktiven weiblichen Wesen.

Tigerishka mußte diese Gedanken ebenfalls aufgenommen haben, denn sie drohte Miau scherzhaft mit einer violetten Pfote und sagte: »Das war aber nicht nett, Kleine. Du bist wirklich nicht groß genug — und wir sind doch beide Mädchen! Komm, sprich endlich mit mir ... Paul ...«

Jetzt schien sie die Wahrheit erkannt zu haben, die für sie schrecklich sein mußte, denn sie drehte sich langsam nach dem wirklichen Paul um. Im nächsten Augenblick hatte sie die Entfernung zwischen sich und ihm mit einem Satz überwunden und schwebte mit ausgestreckten Krallen und gefletschten Zähnen dicht über ihm. Miau schien nicht im geringsten erschrocken zu sein.

»Du ... Affe!« fauchte Tigerishka. Sie senkte den Kopf mit den scharfen Reißzähnen noch mehr, so daß Paul unwillkürlich die Augen zusammenkniff. Dann sprach sie langsam und sehr deutlich weiter, als habe sie es mit Analphabeten zu tun: »Ihr behandelt ... die Kleine ... wie ein Tier ... wie ein gewöhnliches Tier ... als Haustier?« Die Verachtung in ihrer Stimme war nicht zu verkennen.

In seiner Angst erinnerte Paul sich an eine Behauptung, die Margo ständig wiederholte, und stotterte: »Nein! Nein! Katzen sind Leute!«


Don Merriam hatte früher einmal am Rand des Grand Canyon gestanden und hatte einen Blick in die Leibnitz-Schlucht in der Nähe des Südpols des Mondes geworfen. Aber er hatte noch nie in seinem Leben — außer während seines Fluges durch den Mond — einen so unglaublich tiefen Schacht gesehen. Wie tief erstreckte er sich? Fünf Kilometer? Fünfundzwanzig? Fünfhundert? Er schien an keiner Stelle weniger als zwei Kilometer breit zu sein, obwohl er irgendwo weit unten in einem leuchtenden Punkt endete — aber diese Erscheinung beruhte nur auf einer perspektivischen Veränderung, an der Don selbst schuld war.

Er spielte mit dem Gedanken, daß der Schacht geradewegs durch den Mittelpunkt des Planeten bis zur entgegengesetzten Seite führte, so daß er niemals den Boden berühren würde, wenn er jetzt hineinsprang, sondern nur etwa sechstausend Kilometer weit fallen würde. Ein langsamer Fall, wenn hier die gleichen Gesetze galten, die auf der Erde physikalische Erscheinungen beeinflußten — mindestens zwanzig Stunden lang, in denen er wahrscheinlich bereits verdurstet wäre. Aber dann würde er schließlich im Mittelpunkt des Planeten zur Ruhe kommen und durch die Luft an die Wand des Schachtes schwimmen können, wie er es in der Kabine des ›Baba Yaga‹ getan hatte, als das Schiff sich im freien Fall befand.

Am seltsamsten war jedoch, daß der Schacht nicht einfach einer senkrechten Röhre glich, die durch felsiges Gestein nach unten gebohrt worden war — tatsächlich waren nirgendwo Felsen zu sehen —, sondern daß seine Wände in Stockwerke aufgeteilt waren, die sich unendlich weit fortzusetzen schienen. Don zählte einige Dutzend Stockwerke, bevor die beleuchteten Abstufungen vor seinen Augen verschwammen und undeutlich wurden. Weit unter sich erkannte er auch winzige Schiffe, die wie bunte Käfer durch den Schacht schwebten.

Nachdem Don alles das in sich aufgenommen hatte, fragte er sich, ob die Stimme, die er gehört zu haben glaubte, nicht doch nur eine Illusion gewesen war. Aber dann überlegte er sich, daß sie dort unten leben mußten, daß ihre Wissenschaft und Technik dieses Wunder geschaffen haben mußte. Wo waren sie? Weshalb hatten sie ihn so lange allein gelassen? Vielleicht bildete er sich nur ein, auf Englisch angesprochen worden zu sein. Oder doch? Ihre Fähigkeiten waren bestimmt ...

»Komm!«

Don drehte sich erschrocken um, obwohl er die Stimme bereits zu erkennen glaubte. Dann zuckte er noch mehr zusammen, als er sah, was hinter ihm stand — ein riesiger Tiger, dessen Körperformen ihn allerdings entfernt an einen Menschen erinnerten. Der Tiger öffnete die Lippen, so daß Don seine weißen Reißzähne sehen konnte, und wiederholte seine Aufforderung: »Komm!«

Ohne zu überlegen und ohne wirklich zu wissen, was er tat, bewegte Don sich wie in einem Traum auf das seltsame Wesen zu. Als er nur noch zwei Meter von ihm entfernt war, nickte der Tiger zweimal, woraufhin der Boden unter seinen Füßen nachgab, so daß er mit Don in das Innere des Wanderers sank. Das Wesen trat einen Schritt nach vorn, bis seine ausgestreckte Pfote leicht auf Dons Schulter lag. Don dachte in diesem Augenblick unwillkürlich an Doktor Faust, der sich von Mephisto in die Hölle hatte führen lassen. Mit Hilfe seiner magischen Spiegel hatte Mephisto dem Doktor Faust alles gezeigt, was dieser sehen wollte. Aber welche Zaubervorrichtung konnte das dazugehörige Verständnis vermitteln?

Don Merriam und der Tiger waren eben erst knietief im Boden versunken, als es am Himmel plötzlich aufblitzte. Einen Augenblick später hingen zwei Untertassen über dem ›Baba Yaga‹ — und ein kleines Schiff, das Dons so ähnlich war, daß er zuerst an Dufresne dachte. Aber dann erkannte er die geringfügigen äußeren Unterschiede und sah den Sowjetstern an der Seite.

Seine Beobachtungen wurden unterbrochen, als die Plattform langsam und gleichmäßig versank.

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