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Doc und Margo folgten dem felsigen Steilhang bis zum höchsten Punkt und suchten die Umgebung der Straße zweihundert Meter weit jenseits der Sperre ab, ohne das geringste Anzeichen für die Gegenwart anderer Menschen zu finden. Das einzige Lebenszeichen in dieser verlassenen Gegend waren einige Eidechsen, die rasch zwischen den Steinen verschwanden, als sie Schritte hörten. Das breite Tal zwischen den beiden letzten Bergrücken war schwarz verbrannt und enthielt nur einige kümmerliche Büsche an unzugänglichen Stellen, die das Feuer überstanden hatten. Vermutlich hatte hier noch vor wenigen Stunden ein Buschfeuer gewütet — was zumindest erklärte, weshalb nicht mehr Leute in diese Richtung gefahren waren.

Clarence Dodd und Harry McHeath schlossen sich dem Erkundungsteam an, so daß die von Doc gestellte Aufgabe schon eine Viertelstunde später zur allgemeinen Zufriedenheit als gelöst betrachtet werden konnte. McHeath berichtete, daß die beiden Revolver des Mannes mit dem schwarzen Hut trotz eifriger Suche unauffindbar geblieben waren.

Die beiden Wagen auf der anderen Seite des Felsens waren nicht abgeschlossen; Doc öffnete die Türen und steckte die Zündschlüssel ein. Doddsy schrieb die Namen der Besitzer von der Zulassung ab, wobei er seine Taschenlampe benützen mußte, weil das Tageslicht nicht mehr ausreichte. Dabei überlegte er sich, ob einer dieser beiden Autobesitzer der Mörder war. Er und seine Begleiter mußten in den beiden Wagen gekommen sein; das Mädchen in dem roten Sportwagen war aus der anderen Richtung gekommen. An dieser Stelle hatten alle drei Fahrzeuge anhalten müssen — und dann, vermutlich vor dem Regen, während im Hintergrund noch das Feuer wütete ... am besten dachte man gar nicht darüber nach.

In der Zwischenzeit hatten Hunter und die Hixons die Leiche der jungen Frau in die Plane des Lieferwagens gewickelt. Das mit einem Seil verschnürte Bündel wurde dann zwanzig Meter weit den Abhang hinaufgetragen und in einer niedrigen Höhle abgelegt, die der junge Harry McHeath entdeckt hatte. Doddsy legte einen kurzen Bericht bei, den er mit wasserfester Tinte geschrieben hatte, und schilderte darin die Auffindung der Leiche. Darunter standen die mit einem großen Fragezeichen versehene Adresse und der Name der jungen Frau, wie sie auf der Zulassung des Thunderbirds wiedergegeben waren. Der Ladestock murmelte ein kurzes Gebet und bekreuzigte sich dann, während die anderen mit gesenkten Köpfen hinter ihm standen.

Dann fühlten sie sich alle wieder etwas besser, obwohl ihnen jetzt deutlicher als zuvor zu Bewußtsein kam, daß sie müde und erschöpft waren, so daß eine Weiterfahrt nicht in Frage kam — die wegen der versperrten Straße ohnehin nicht ohne weiteres möglich gewesen wäre. Sie richteten sich für die Nacht ein und brachten vor allem die beiden Verletzten in dem Schulbus unter, weil es vor Tagesanbruch noch erheblich kühler werden würde. Hixon machte sich wegen der Felsen über der Straße Sorgen und fürchtete, daß sie bei einem weiteren Erdbebenstoß auf die Fahrzeuge herabstürzen könnten. Aber Doc beruhigte ihn mit dem Hinweis darauf, daß die Anziehungskraft des Wanderers vermutlich bereits in den ersten Stunden nach seinem Erscheinen alle Erdbewegungen ausgelöst hatte, die zu erwarten waren. Außerdem hatten die Felsen bisher alle Stöße überstanden, ohne ihre Lage zu verändern.

Doc entschied, daß jeweils zwei Mitglieder der Gruppe in warme Decken gehüllt auf einem Felsvorsprung über der Straße Wache halten sollten. Die Posten würden eines der beiden Gewehre und Margos graue Pistole mit auf Wache nehmen. Doddsy und McHeath waren bis Mitternacht an der Reihe, Ross Hunter und Margo von Mitternacht bis zwei Uhr dreißig, er selbst und Rama Joan von halb drei bis Tagesanbruch. Hixon erhielt das zweite Gewehr und sollte im Fahrersitz des Busses schlafen. Die beiden Frauen, die als Posten eingeteilt waren würden im Führerhaus des Lieferwagens mit Ann schlafen. Als Wanda eine halblaute Bemerkung über die seltsame Wacheinteilung machte, fuhr Doc sie an, sie solle lieber froh sein, daß sie nicht selbst auf Wache stehen müsse, sondern friedlich schlafen könne.

Der Primuskocher wurde in Betrieb genommen. Als das Wasser heiß war, gab es Pulverkaffee. Das Abendessen bestand aus Kaffee, Milch und den Sandwiches aus dem Bus, die mit Erdnußbutter und Marmelade bestrichen waren.

Margo hatte sich eingebildet, dieses süßliche oder klebrige Zeug nicht essen zu können, stellte aber nach dem ersten Bissen fest, wie ausgehungert sie war, und aß vier Sandwiches, die sie mit einem Liter Milchkaffee hinunterspülte. Nach dem Essen lehnte sie sich zufrieden zurück und wandte sich an den Ladestock, um ihm eine Frage zu stellen, die sie schon lange beschäftigte. »Mister Fulby, ist es wahr, daß Sie mit Ida und Wanda verheiratet sind?«

Der Ladestock nickte und antwortete sofort: »Richtig, Miß Gelhorn. In unseren Augen sind sie beide meine Frauen, und ich bin für ihr Wohlergehen verantwortlich. Im großen und ganzen ist unser Verhältnis zueinander immer recht erfreulich gewesen. Ich habe Wanda ursprünglich des Aussehens wegen geheiratet — sie war früher Tänzerin in einer Revue — und Ida um des Verstandes willen. Daran hat sich inzwischen natürlich einiges geändert ...«

Der alte Busfahrer hatte die Unterhaltung verfolgt und wandte sich jetzt entrüstet ab.


Tigerishka hatte Miau eben zum drittenmal gefüttert und wandte sich jetzt Paul zu. Sie starrte ihn lange an, zuckte dann in bewußter Nachahmung einer menschlichen Geste mit den Schultern, schwebte davon und kam eine Minute später mit einem kleinen Kasten zurück, an dem zwei kurze Schläuche herabhingen. Dann betrachtete sie ihren Gefangenen nochmals nachdenklich, als sei sie nicht darüber im klaren, ob sie ihn durch den Mund oder durch eine Vene füttern sollte.

Pauls Kehle schmerzte jetzt vor Durst, was allerdings gut zu den übrigen Muskelschmerzen paßte, und er konnte nicht mehr klar denken, weil der Hunger alle anderen Überlegungen verdrängte. Im Augenblick beschäftigte er sich vor allem mit der Veränderung in Tigerishkas Auftreten, die ihn aufrichtig bekümmerte. Während Miau fraß, hatte Tigerishka einen seltsamen Tanz vorgeführt, der von leiser Musik aus dem Hintergrund und einem rhythmischen Pulsieren des künstlichen Sonnenlichts begleitet wurde.

Tigerishka war tatsächlich eine geborene Tänzerin, stellte Paul bewundernd fest. Ihre Vorführung hatte ihn so verzaubert, daß er für kurze Zeit sogar seine mißliche Lage und alle seine Sorgen vergessen hatte. Aber jetzt hatte die Ballerina sich wieder in ein hochmütiges, unnahbares Wesen verwandelt — eine bedauerliche Transformation.

Obwohl Paul heftigen Durst litt, schüttelte er jetzt traurig den Kopf und versuchte, seine gefühllosen Lippen zusammenzupressen. Dann zog er die Augenbrauen in die Höhe und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die bittend wirken sollte — und war sich gleichzeitig darüber im klaren wie sehr er in diesem Augenblick vermutlich einem gefesselten und geknebelten Affen glich, der freigelassen werden wollte.

Sie grinste ihn an, ohne dabei die Zähne zu zeigen — wieder eine Imitation einer menschlichen Ausdrucksweise, dachte Paul —, und starrte weiter auf ihn herab.

Paul wußte, daß es draußen unterdessen wieder dunkel geworden war, denn er befand sich seit über zwölf Stunden in der Untertasse. Die letzte Szene, die er hatte beobachten können, war unverkennbar gewesen — San Francisco bei Sonnenuntergang: Stadtteile von Bränden verwüstet, bevor schwere Regenfälle das Feuer gelöscht hatten, Hunderte von großen und kleinen Schiffen im Hafen, kaum Fahrzeuge auf den Straßen, aber überall aufgeregte Menschenmassen. Dann war die Untertasse schräg nach oben gestiegen, so daß Paul einen kurzen Blick auf den Wanderer werfen konnte, der im Osten über dem Horizont erschien. Der asymmetrische glitzernde Ring um den neuen Planeten hatte Paul zunächst verblüfft, bis ihm einfiel, daß es sich dabei vermutlich um die Überreste des zertrümmerten Mondes handelte.

Tigerishka streckte die Pfote aus, berührte damit sein rechtes Handgelenk und zog die Pfote wieder zurück. Paul stellte zu seiner Überraschung fest, daß er den rechten Arm jetzt unbehindert bewegen konnte. Er bewegte prüfend die Finger und beugte mehrmals den ganzen Arm; dann wollte er die Hand an die Lippen bringen, ließ sie aber plötzlich wieder sinken.

Wenn er nur mit den Fingern seinen Mund berührte, konnte sie aus dieser Geste schließen, daß er mit einem Schlauch durch den Mund gefüttert zu werden wünschte.

Paul berührte die Stirn mit den Fingern, zeigte dann auf seinen Mund und schließlich Tigerishkas spitze Ohren. Dann hatte er eine neue Inspiration — er wies auf ihren Rachen mit den gefährlich aussehenden Reißzähnen und deutete dann wieder auf seine Ohren.

»Ja, ich weiß, daß du reden willst«, antwortete Tigerishka. »Der Affe möchte mit der Katze schwatzen, wie?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein! Dann kommen nur unwichtige Fragen — eine, zehn, tausend! Ich kenne die Affen gut genug.«

Paul ließ enttäuscht die Hand sinken.

»Trotzdem habe ich vor, dir einiges zu erzählen«, fuhr Tigerishka nach einer kurzen Pause fort. Sie sprach rasch weiter, als langweile sie die Aufzählung: »Ich gehöre einer überlegenen galaktischen Zivilisation an. Wir lesen Gedanken, verständigen uns telepathisch, fliegen durch den Hyperraum, leben unendlich lange und können Sonnen zur Explosion bringen. Wir sehen wie Tiere aus, weil wir die Körperformen unserer Vorväter wieder angenommen haben, wodurch das Gehirn kleiner, aber in Wirklichkeit riesig wird — Psychophysiosubmikrominiaturisation! Wir bleiben überlegen. Das glaubst du nicht? Hör zu. Pflanzen leben von anorganischer Materie: Sie sind überlegen! Tiere fressen Pflanzen: Sie sind überlegen. Katzen essen frisches Fleisch: wir sind noch überlegener! Affen wollen alles fressen: ein fürchterliches Durcheinander!«

Dann fügte sie noch hinzu: »Der Wanderer fliegt durch den Hyperraum. Ja, ich weiß — die Himmelsaufnahmen. Wir brauchen Treibstoff — viel Materie für die Konverter. Euer Mond ist ausgezeichnet dafür geeignet; wir zertrümmern, pulverisieren und saugen ihn auf. Wenn wir genügend Treibstoff haben, fliegen wir wieder fort. Die Affen brauchen sich also nicht aufzuregen.«

Nachdem Tigerishka ihren kleinen Vortrag beendet hatte, war Paul fünf Sekunden lang wütend, weil er sich über ihre herzlosen Vereinfachungen ärgerte. Dann fiel ihm ein, daß er im Augenblick nichts unternehmen konnte, was die gegenwärtige Situation verändert hätte. Deshalb holte er langsam tief Luft und hoffte, daß sein Gesicht jetzt weniger rot angelaufen war. Als nächstes drückte er die Hand auf den Mund und nahm sie plötzlich wieder fort, als wolle er sagen: »Weg mit dem Knebel!«

Dabei fiel ihm ein, daß diese Geste im Grunde genommen sinnlos war, denn Tigerishka kannte seine Gedanken schließlich ebensogut wie er selbst. Aber dann wurde ihm klar, daß es sich dabei um ein Spiel handelte. Katzen spielen gern mit hilflosen Opfern, und Tigerishka war in diesem Fall keine Ausnahme.

Sie bestätigte Pauls Verdacht, indem sie langsam den Kopf schüttelte und dabei höhnisch zu grinsen schien.

Paul entschied sich für eine leichte Veränderung seiner Geste. Er wiederholte die vorher gemachte Handbewegung, führte aber dann die Hand zum Mund, als halte er ein Glas, aus dem er trinke. Schließlich legte er noch den Zeigefinger über die Lippen.

Tigerishka starrte ihn aufmerksam an. »Du sprichst nicht, wenn ich dich trinken lasse? Kein einziges Wort?«

Paul nickte ernsthaft.

Tigerishka klappte den Deckel des Kastens auf und holte eine weiße Plastikflasche daraus hervor, die etwa einen Liter Flüssigkeit enthielt. Dann hielt sie Paul die Flasche an den Mund und sagte: »Ich drücke vorsichtig, während du trinkst.« Sie fuhr ihm mit der anderen Pfote über die Lippen. Der Knebel verschwand augenblicklich, dann spürte Paul die kalte Flüssigkeit, die eine Wohltat für seinen ausgetrockneten Hals war. Nach dem ersten Schluck merkte er auch, was er trank: Milch. Er konnte nicht beurteilen, ob sie überhaupt für seinen Körper verdaulich war, verließ sich aber in dieser Beziehung ganz auf Tigerishka.

Als Paul den ersten Durst gestillt hatte, hob er die Hand, um die Plastikflasche selbst zusammenzudrücken. Tigerishka hatte nichts dagegen einzuwenden, ließ aber trotzdem nicht gleich los, so daß er einen Augenblick lang den samtweichen Pelz ihrer Pfote berührte, unter dem sich die eingezogenen Krallen deutlich abzeichneten. Dann zog sie ihre Tatze zurück und sagte dabei nur: »Langsam und vorsichtig!«

Als die Flasche leergetrunken war, gab Paul sie ihr zurück und sagte unwillkürlich: »Danke ...« Aber bevor er noch etwas hinzufügen konnte, berührte Tigerishka wieder seine Lippen, so daß er nicht weitersprechen konnte.

Paul fragte sich, ob der Knebel vielleicht nur in seiner Einbildung existierte, aber bevor er zu einer Entscheidung darüber gekommen war, wurde er von einer unerklärlichen Müdigkeit erfaßt. Er merkte nur noch, daß die unsichtbare Sonne nicht mehr so hell wie zuvor schien, und spürte undeutlich, daß Tigerishka die Fesseln an seinem linken Arm und am linken Bein löste, so daß er nur noch mit dem rechten Bein an das Deck gefesselt war.

In der letzten wachen Sekunde glaubte er, Tigerishkas Stimme noch einmal zu hören. »Schlaf gut, Affe«, hatte sie gesagt — oder war das nur eine Einbildung gewesen?

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