17

Obwohl Doc demonstrativ zu schnarchen begonnen hatte, um die anderen zu beruhigen, folgte nur Rama Joan seinem guten Beispiel. Etwa eine halbe Stunde später richtete Doc sich wieder auf und mischte sich in die Diskussion zwischen Hunter und Paul ein, in der es um die Frage ging, wie die zukünftigen Bahnen von Erde und Wanderer sich zueinander verhalten würden.

»Ich habe alles schon im Kopf ausgerechnet — selbstverständlich nur überschlägig«, erklärte Doc ihnen. »Wenn wir voraussetzen, daß beide ungefähr die gleiche Masse haben, werden sie um einen Punkt kreisen, der von beiden gleichweit entfernt ist. Der Monat dauert dann etwa neunzehn Tage.«

»Nein, er muß kürzer sein«, widersprach Paul. »Sie sehen doch selbst, wie schnell der Wanderer sich bewegt.« Er wies auf den neuen Planeten, der unterdessen schon dicht über dem Horizont stand.

Doc machte eine wegwerfende Handbewegung. »Diese Bewegung wird nur durch die Erdrotation hervorgerufen — aus dem gleichen Grund geht auch die Sonne angeblich auf.« Als Paul sich mit der flachen Hand an die Stirn schlug, weil ihm klar wurde, wie dumm seine Bemerkung gewesen war, fuhr Doc gelassen fort: »Das ist allerdings ein ganz natürlicher Irrtum, dem jeder gelegentlich erliegt, weil wir uns noch nicht von den Vorstellungen der Höhlenmenschen gelöst haben. Seht euch bloß an, wie weit das Wasser schon zurückgegangen ist! Ross, ich fürchte, daß die Gezeitenschwankungen sich rascher als erwartet bemerkbar machen werden.«

Paul überlegte sich, daß achtzigmal höhere Fluten auch achtzigfach niedrigere Ebben mit sich bringen würden — an den meisten Küsten in einem Abstand von etwa sechs Stunden.

»Übrigens dauert es wahrscheinlich ungefähr zehn Tage, bis die Erde die höhere Kreisbahngeschwindigkeit erreicht hat, die für einen neunzehntägigen Monat erforderlich ist«, fügte Doc hinzu. »Vorläufig beträgt die Beschleunigung höchstens viereinhalb Meter pro Stunde. Die des Mondes — ebenfalls im Verhältnis zu dem Wanderer — muß etwa vier Stundenkilometer erreicht haben.«

Ein kalter Windstoß ließ Paul zusammenfahren. Er duckte sich und schlug den Kragen seiner Jacke hoch — er hatte sie von Margo zurückbekommen, nachdem der kleine Mann ihr eine der beiden Lederjacken aus seinem Wagen gegeben hatte. Trotzdem behielt sie Miau in der Jacke, denn die Katze wirkte wie eine Wärmflasche.

»Siehst du, wie das Licht auf den nassen Steinen glitzert?« fragte Margo Paul. »Wie eine ganze Ladung Edelsteine, die jemand am Strand ...«

»Psst!« flüsterte die dicke Frau neben ihr. »Er hört gerade etwas.«

Der Ladestock saß neben Wanda, starrte den Wanderer wie hypnotisiert an und hatte dabei das Kinn auf die Faust gestützt, als wolle er die Haltung von Rodins Statue ›Der Denker‹ kopieren.

»Der Kaiser sagt: ›Terra wird keinen Schaden erleiden‹«, murmelte Fulby vor sich hin. »›Die Wogen werden geglättet, und das aufgewühlte Meer wird die Küsten nicht überfluten.‹«

»Ein Planet voller Friedensapostel«, stellte Doc sarkastisch fest.

»Ihr Kaiser hätte lieber die Erdbeben verhindern sollen«, meinte Mrs. Hixon. Ihr Mann legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm und flüsterte ihr etwas zu. Mrs. Hixon zuckte mit den Schultern, machte aber keine Bemerkungen mehr.

Rama Joan öffnete die Augen. »Wie stehen die Aktien jetzt Rudolf?« erkundigte sie sich. »Engel? Oder Teufel?«

»Ich warte noch ab, bis ich einen aus nächster Nähe gesehen habe, damit ich mir selbst ein Urteil bilden kann«, antwortete Doc. Er stand auf, reckte sich umständlich und ging an den Rand der Plattform.

»Aha, der Lieferwagen ist also schon beladen worden, während ich geschlafen habe«, stellte er mit einem zufriedenen Nicken fest. »Das nenne ich überlegte Planung. Sogar die Wasserbehälter sind an Bord — das haben Sie vermutlich erledigt, Doddsy.« Dann fragte er Hunter leise: »Wie geht es Ray Hanks?«

»Er ist nicht einmal aufgewacht, als wir das Liegebett auf den Lieferwagen gestellt haben. Bill Hixon hat ihm noch eine zweite Decke gegeben.«

Von irgendwoher dröhnte etwas durch die Luft. Alle hielten unwillkürlich den Atem an. Einige sahen sogar zu dem Wanderer auf, als glaubten sie, das Geräusch könne von dort stammen. Dann rief Harry McHeath aufgeregt: »Ein Hubschrauber aus Vandenberg — glaube ich jedenfalls ...«

Der olivfarbene zweisitzige Hubschrauber flog auf den Strand zu, bog dann ab und folgte den Fahrspuren von Hixons Lieferwagen in kaum fünfzehn Meter Höhe. Dann schwebte er über dem Haus am Strand und sank dabei noch etwas tiefer. Der Triebwerkslärm war ohrenbetäubend; der Luftzug von den Rotoren wirbelte den Stapel unbenutzter Programme durcheinander, so daß sie wie weiße Blätter im Herbststurm davonflogen.

»Will der verdammte Idiot etwa auf uns landen?« fragte Doc wütend. Er bückte sich wie die anderen und starrte ebenfalls nach oben.

Eine laute Stimme übertönte das Dröhnen. »Verschwindet! Verschwindet so schnell wie möglich!«

»Unverschämtheit!« brüllte Doc. Die nächsten Worte aus dem Lautsprecher waren unverständlich, weil Doc seinem Herzen Luft machte. »Zuerst knallen sie uns die Tür vor der Nase zu! Und jetzt wollen sie uns auch noch fortjagen!« Der kleine Mann neben ihm drohte mit der geballten Faust nach oben.

»Verschwindet sofort vom Strand!« schloß die laute Stimme, als der Hubschrauber seinen Flug fortsetzte.

»He, Doc!« sagte Wojtowicz aufgeregt. »Vielleicht wollten sie uns vor der Flut warnen!«

»Aber die kommt doch erst in sechs Stunden ...«

Doc schwieg betroffen, als ihm klar wurde, daß das Dröhnen mit dem Verschwinden des Hubschraubers nicht völlig abgeklungen war. Aus den Fußbodenritzen drang plötzlich Wasser, gegen den Rand der Plattform brandete weißer Schaum. Die erste Welle war gekommen, während sie alle den Hubschrauber beobachteten, dessen Triebwerkslärm das Brausen des Wassers übertönt hatte.

»Aber ...«, begann Doc verblüfft.

»Das ist gar nicht die Flut«, stellte Hunter fest. »Das sind Erdbebenwellen!«

Doc schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn.

Das Wasser wich ebenso rasch zurück, wie es gekommen war und hinterließ bizarre Muster aus Schaum auf dem nassen Sand.

»Da kommt die nächste«, brüllte Paul und zeigte auf eine hohe Woge, die majestätisch heranrollte. »Los, weg mit dem Lieferwagen!«

Die Hixons kletterten bereits auf ihre Sitze. Der Motor stotterte und blieb stehen. Der Anlasser surrte mehrmals vergeblich. Hunter, Doddsy, Doc und Harry McHeath sprangen von der Plattform in den Sand und wollten den Wagen anschieben. Rama Joan schleppte Ann über die Plattform und stieß sie auf die Ladefläche. »Bleib sitzen und halt dich fest!« schrie sie ihre Tochter an Wanda wollte ebenfalls auf den Wagen steigen, aber Wojtowicz hielt sie am Arm fest und sagte: »Diesmal nicht, Dickerchen!« Paul hob die Ladeklappe und machte sie fest.

Endlich sprang der Motor an. Wojtowicz gab Wanda einen kräftigen Stoß und schob dann gemeinsam mit Paul den Wagen an. Sie fielen beide auf die Nase, als das Fahrzeug sich mit einem Ruck etwa zwei Meter weit bewegte. Die Hinterreifen drehten in dem nassen Sand leer durch. Als die Männer mit vereinten Kräften schoben, fuhr der Lieferwagen ein Stück weit, blieb nochmals stecken, setzte sich wieder langsam in Bewegung und fuhr dann plötzlich schnell und immer schneller davon. Die Rücklichter spiegelten sich in dem Wasser, das hinter dem Wagen den Strand überspülte.

Die zweite Woge war bereits so hoch, daß sie eine Ecke der Plattform überspülte und die Bretter schwanken ließ, während gleichzeitig dünne Wasserstrahlen aus den Ritzen emporstiegen. Als die Woge zurückflutete, führte Paul Margo rasch über die rutschig gewordenen Bretter. Sie hielt Miau mit beiden Händen fest. Paul blieb am Rand der Plattform stehen und sah auf die Männer hinab, die erst jetzt in dem seichten Wasser auf die Beine kamen.

»Los, weiter! Schnell, bevor die dritte Welle kommt!« rief er ihnen zu und rannte mit Margo hinter dem Lieferwagen her.


Die Untertassen-Beobachter hatten sich vor den drei ersten Erdbebenwellen in Sicherheit gebracht, die in Wirklichkeit mehr aus Schaum als aus Wasser bestanden und noch dazu kaum kniehoch gewesen waren. Sie hatten wieder trockenen Sand unter den Füßen und legten dort eine kleine Pause ein, um wieder zu Atem zu kommen — besonders der Ladestock und Ida, die Wanda mitgeschleppt hatten. Aber dann kamen die wirklich großen Brecher und jagten sie wieder in die Flucht.

Vor ihnen ragte das Santa-Monica-Gebirge düster gegen den bleifarbenen Himmel auf, an dem sich im Osten bereits ein hellerer Streifen zeigte. Etwas näher, aber trotzdem schon in beträchtlicher Entfernung, tanzten die Rücklichter des Lieferwagens auf und ab. Hixon hatte instinktiv den kürzesten Weg eingeschlagen, auf dem er die besten Aussichten hatte, dem Meer zu entkommen. Er fuhr jetzt durch ein ehemaliges Flußbett landeinwärts, das sich zwischen dem Hochplateau von Vandenberg und den Felsklippen erstreckte, vor denen ein Erdrutsch die anderen Fahrzeuge begraben hatte. Das war die einzige Möglichkeit — auf jedem anderen Weg hätte er zunächst parallel zum Strand fahren müssen; bedauerlich war nur, daß selbst hier der Boden über eine längere Strecke hinweg fast waagrecht blieb, bis er endlich allmählich anstieg.

Hinter ihnen schien der Wanderer das Meer zu berühren. Der Planet zeigte jetzt wieder sein erstes Gesicht — zwei purpurfarbene und gelbe Hälften, die durch eine verschwommene Linie getrennt waren. Doc runzelte verblüfft die Stirn. Damit hat es doch angefangen, dachte er. Das Ding hat schon eine Umdrehung hinter sich — folglich dauert sein Tag nur sechs Stunden. Dann ragte etwas Viereckiges im Wasser vor ihm auf und nahm ihm die Sicht auf den Wanderer. Es war die Plattform, auf der die Stühle gestanden hatten. Ein Brecher hatte sie losgerissen und fortgeschwemmt.

Dann hörte er das Dröhnen.



Die anderen hatten sich bereits wieder in Bewegung gesetzt. Doc rannte hinter ihnen her.

Dann ... nun, man hätte glauben können, der Wanderer habe im Bruchteil einer Sekunde vierhunderttausend Kilometer zurückgelegt und stehe jetzt nicht mehr hoch am Himmel, sondern unmittelbar über ihnen am Strand, so daß der Himmel bis auf einen hellen Streifen am Horizont verdeckt war.

Die Fliehenden blieben unwillkürlich stehen, obwohl hinter ihnen wieder neue Brecher heranrollten, im Verhältnis zu denen die ersten Wellen harmlos gewesen waren.

Hunter war der erste, der Entfernungen und Ausmaße richtig beurteilte, denn er dachte: Es ist eine Fliegende Untertasse mit fünfzehn Meter Durchmesser, die drei Meter hoch schwerelos über uns schwebt und mit einem violett-goldenen Yin-Yang verziert ist.

Der erste große Brecher überschüttete sie mit Schaumflocken und rauschte kniehoch an ihnen vorüber den Strand hinauf. Obwohl sie sich alle auf das Ding über ihnen konzentrierten, reagierten ihre Körper in diesem Augenblick instinktiv. Sie hielten sich aneinander fest; Hände griffen nach nassen Händen, ausgestreckten Armen oder triefenden Kleidungsstücken. Als Wanda untertauchte, zerrte Wojtowicz sie wieder nach oben.

Margo stieß Paul in die Rippen und schrie ihm ins Ohr: »Miau! Du mußt Miau holen!« Gleichzeitig wies sie mit der anderen Hand auf das Wasser. Er sah einen winzigen Schwanz und kleine Ohren in dem Schaum verschwinden und tauchte mit geschlossenen Augen danach. Auf diese Weise sah Paul nicht, was sich als nächstes ereignete.

Dicht über den Köpfen der wie versteinert stehenden Zuschauer öffnete sich ein rundes Luk mit etwa zwei Meter Durchmesser. Dann wurden krallenbewehrte Pfoten, ein dicht behaarter Schwanz und ein violetter Pelz mit grünen Streifen sichtbar.

»Teufel!« kreischte Ida. »Sie hat gesagt, daß es Teufel sein müssen!«

»Tiger!« rief Harry McHeath. Doc nickte überrascht und dachte: Wie in einem utopischen Film — die Tigermenschen vom Mars!

»Kaiserin!« flüsterte der Ladestock und sank in die Knie.

Riesige violette Augen mit schwarzen Pupillen betrachteten die Menschen nacheinander, aber ohne großes Interesse.

Der zweite große Brecher war nur noch dreißig Meter entfernt. Die Plattform ritt auf ihrem Kamm wie ein Surfboard überall schwammen Klappstühle, und im Hintergrund tauchten auch große Trümmer des Hauses auf.

Eine grüne Pfote richtete eine graue Pistole mit kegelförmiger Mündung auf das Wasser und bewegte sie rasch hin und her.

Die erstaunten Beobachter sahen weder einen Lichtblitz noch ein Glühen noch etwas anderes, aber der Brecher sank trotzdem in sich zusammen und löste sich auf. Die Plattform wurde wieder auf das Meer hinausgetragen, die Trümmer des Hauses schwammen in Richtung Vandenberg davon. Auch der Schaum war mit einem Schlag verschwunden. Das Wasser war kaum noch hüfthoch und nicht mehr so gefährlich wie der erste Brecher, als es endlich herankam.

Die graue Pistole wurde weiter von links nach rechts und wieder zurück bewegt.

Ein heftiger Windstoß kam vom Land her auf das Wasser zu. Doc verlor das Gleichgewicht und wäre fast gefallen. Rama Joan hielt ihn an der Schulter zurück.

Pauls Kopf und Schultern tauchten aus dem Wasser auf. Er hielt eine tropfnasse Katze fest, die sich an seiner Jacke festkrallte.

Der Wind verstärkte sich noch.

Das seltsame Lebewesen aus der Untertasse beugte sich nach vorn und schien immer länger zu werden, bis es Paul fast erreichte.

Die graue Pistole fiel nach unten. Margo fing sie geistesgegenwärtig auf.

Violette Krallen gruben sich in Pauls Schultern, dann wurde er gemeinsam mit Miau mit geradezu übermenschlicher Kraft durch das Luk gehoben. Margo und Doc und Rama Joan, die sich gegenseitig festhielten, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren, beobachteten diesen Vorgang ganz deutlich.

Der violett-grüne Tiger schob Paul und Miau durch das Luk und schwang sich hinter ihnen in die Untertasse zurück.

Dann war die Untertasse plötzlich übergangslos mehrere hundert Meter über den Köpfen der Menschen. Sie wurde rasch kleiner und sah jetzt wirklich wie eine Untertasse aus.

Margo steckte die graue Pistole in ihre Lederjacke.

Der Wind legte sich plötzlich, wie er gekommen war.

Die Untertasse verschwand.

Dann stolperten sie alle Hand in Hand den Strand hinauf, während das knietiefe Wasser ins Meer zurückströmte.

Загрузка...