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Als Hunter den Thunderbird langsam den vorletzten Hügel hinuntersteuerte, der sie noch von der Küstenstraße trennte, war die grünliche Sonne über dem Wasserhorizont noch immer hell genug, um zu zeigen, daß der frühere Strand mindestens zwei Kilometer breiter geworden war, als die Mitglieder der Gruppe ihn in Erinnerung hatten. Hunter drehte sich kurz nach seinen Fahrgästen um und grinste fröhlich, ohne über ihre grünliche Gesichtsfarbe zu erschrecken, die von der Sonne hervorgerufen wurde. Er hätte Hixon am liebsten zugerufen: »Was habe ich Ihnen gesagt? Völlige Ebbe — oder nicht weit davon entfernt! Ich habe genau richtig vermutet!«

»Sieh doch, Mommy«, sagte Ann. »Eine Ranke über der Straße.«

Hunter wußte, daß es keine Ranke, sondern vermutlich nur ein Zweig war, den der Sturm gestern abgerissen und mit sich fortgetragen hatte. Als die Reifen darüberrollten, war ein leises Plop! zu hören. Der Wagen rutschte leicht nach rechts; Hunter fing die Bewegung ab und verringerte die Geschwindigkeit. Das war eine völlig automatische Reaktion, denn wie alle anderen konzentrierte er seine Aufmerksamkeit völlig auf die Entfernung, die das Meer zurückgewichen war. Seine erste Schätzung — etwa zwei Kilometer — war entschieden zu niedrig gewesen. Hunter war zuerst verblüfft, dann fasziniert und schließlich nur noch erschrocken.

Die Sonne stand jetzt noch dichter über dem Horizont, so daß ihr Licht grüner als zuvor wirkte. Obwohl das Meer so weit entfernt war, roch es überall durchdringend nach Fisch. Im Augenblick herrschte völlige Windstille, so daß das Brummen der beiden Motoren unnatürlich laut hörbar war. Hunter stellte fest, daß auf der Küstenstraße keine anderen Fahrzeuge auftauchten — und merkte erst dann, wie unglaublich dumm es gewesen war, überhaupt welche zu erwarten.

Sie fuhren den letzten Hügel hinab. Der Wagen rutschte nochmals. Hunter steuerte gegen die Bewegung an und schaltete herunter.

»An das zertrümmerte Haus dort drüben kann ich mich nicht erinnern«, stellte Rama Joan nachdenklich fest.

»Und das alte Boot dort drüben war vorher auch noch nicht da, glaube ich wenigstens«, warf Margo ein.

»Seht euch nur die weißen Vögel dort drüben auf dem Hügel an!« kreischte Wanda. »Das sind doch tatsächlich Möwen!«

»Noch eine Ranke«, sagte Ann. »Nein, sogar zwei. Oh, und ein Fisch.«

Dieses letzte Wort verwandelte die Szene vor Hunters Augen in einen wahren Alptraum, obwohl er noch nicht klar zu erkennen vermochte, wo die Ursache dafür lag — sein Verstand weigerte sich, irgendeine wichtige Tatsache aufzunehmen, die deutlich sichtbar sein mußte. Hixon hupte hinter ihm. Wollte der Trottel ihn etwa überholen? Eins — zwei — drei — vier. Vier Huptöne bedeuteten etwas, aber Hunter konnte sich nicht darauf besinnen, denn er war zu sehr mit der Illusion beschäftigt, bereits unter dem Meeresspiegel weiterzufahren — das Schweigen, das grünliche Licht, die schwarze Straße die allmählich unter dem rutschigen Schlick verschwand, der Fischgeruch, die seltsamen ›Ranken‹ über der Straße, die nur Algen sein konnten ...

Viermal hupen bedeutet Halt! Hunter erinnerte sich plötzlich wieder daran, was Doc festgelegt hatte. Er bremste sofort, aber äußerst vorsichtig. Zunächst verringerte der Wagen kaum seine Geschwindigkeit, aber dann fuhr er doch langsamer und kam allmählich zum Stehen, wobei das Heck zur Seite rutschte, obwohl er die Bewegung aufzufangen versuchte. Schließlich stand der Wagen weil die Räder die drei oder vier Zentimeter hohe Schlammschicht auf der Straße vor sich her zu einem Berg zusammengeschoben hatten.

Hunter sah nach rückwärts, was ganz einfach war, weil der Wagen jetzt fast entgegengesetzt zu der ursprünglichen Fahrtrichtung stand. Der Lieferwagen hielt etwa zwanzig Meter hinter ihnen — oder vor ihnen, wenn man die neue Richtung berücksichtigte. Hunter spürte, daß seine Hände zitterten.

Rama Joan drückte das Furchtbare in Worten aus, als sie gelassen feststellte: »Wir müssen die Hochwassermarke vor einem halben Kilometer passiert haben.«

Das war also der Grund für seine Erregung, merkte Hunter — einfach der Gedanke daran, daß das Salzwasser vor nur sechs Stunden hier noch meterhoch gestanden hatte. Dabei hatte es Tiere, Pflanzen, Schlamm und Trümmer abgelagert und würde in weiteren sechs Stunden wieder den gleichen Abschnitt der Küste überschwemmen. Hunter dachte an die früher so wenig extremen Gezeiten und erschrak fast, als er sich überlegte, daß jetzt die Ebbe das Kontinentalschelf freigab, während die Flut die Vorhügel der Gebirge überschwemmte.

Die Frauen sind eigentlich unnatürlich ruhig, dachte er. Er wäre weniger überrascht gewesen, wenn sie geweint oder gejammert hätten.

Hixon, Doddsy, Wojtowicz und McHeath kamen die Straße entlang. Sie bewegten sich seltsam — mit steifen Beinen und leicht angehobenen Armen. Aber das kam wohl daher, daß die Straße so rutschig war.

Hixon und Doddsy blieben neben dem Thunderbird stehen, während die beiden anderen weitergingen. Der kleine Mann sah auf das Meer hinaus und sagte: »Das ist ...« Dann fehlten ihm die Worte.

Die grüne Sonne war inzwischen am Horizont untergegangen, aber der Himmel schimmerte weiterhin grünlich — blaß wie eine durchsichtige Woge im Westen, dunkel wie ein Wald im Osten.

Irgend etwas pochte leise. Hunter merkte, daß der Motor des Sportwagens noch immer lief. Er drehte den Zündschlüssel nach links.

Erst dann wurde ihm klar, daß alle ebenso verblüfft wie er waren.

Einige Minuten später hatten sie den ersten Schock allmählich überwunden. Sie waren aus den beiden Wagen geklettert und standen auf der Straße.

Wojtowicz und McHeath kamen langsam den Hügel herauf. Die Schuhe des jungen Mannes waren schlammverkrustet, seine Hose bis zu den Knien ebenfalls. »In der Richtung ist die Straße nicht befahrbar, Mister Hunter«, berichtete er. »Auf der Küstenstraße liegt der Schlamm noch viel höher.«

Wojtowicz nickte zustimmend. »Harry ist weiter als ich gegangen«, bestätigte er. »Sie brauchen sich nur seine Schuhe anzusehen.«

»Und das alles ist von nur drei Fluten abgelagert worden«, sagte der kleine Mann und schüttelte den Kopf. »Unglaublich.«

Hunter runzelte die Stirn. »Uns bleibt keine andere Wahl«, stellte er fest. »Wir müssen zurückfahren und die andere Straße benützen, die ebenfalls nach Vandenberg führt.« Er sah Hixon an. »Sie haben also doch recht gehabt.«

Hixon nickte wortlos. Er bückte sich und untersuchte die Räder des Sportwagens, der bis zu den Achsen im Schlamm festsaß. »Ich nehme an, daß ich Sie aus dem Zeug hier herausziehen kann«, sagte er. »Zum Glück habe ich ein langes Abschleppseil im Wagen, und dort hinten, wo wir stehen, ist der Schlamm nicht so hoch. Außerdem liegen im Werkzeugkasten auch Schneeketten, falls wir sie brauchen.«

»Ich möchte nicht als Schwarzseher gelten«, warf der kleine Mann ein, »aber wenn wir zurückfahren, besteht die Gefahr, daß wir mit den jungen Leuten in den Sportwagen zusammentreffen.«

Hixon zuckte mit den Schultern. »Das gehört zu den Risiken, die wir eingehen müssen. Es gibt keine andere Straße. Wir können nur hoffen, daß sie die Sperre nicht beseitigt haben und statt dessen in Richtung Malibu gefahren sind. Ich hole jetzt das Abschleppseil.«

»Hier sind wir nur fünf oder sechs Kilometer von Vandenberg entfernt«, sagte Margo zu Hunter. »Können wir nicht einfach zu Fuß gehen? Selbst in dem Schlamm hier müßten wir es in zwei bis drei Stunden schaffen.«

»Benützen Sie doch Ihren Kopf«, antwortete Hunter mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Innerhalb der nächsten Stunden steht die Küstenstraße längst wieder unter Wasser. Dann hätten Sie sogar hier zehn Meter Ozean über sich.«

»Oh, ich werde immer dümmer«, seufzte Margo. »Am liebsten würde ich ...« Sie sprach nicht weiter.

»Macht Ihnen das Leben in der neuen Wirklichkeit nicht mehr soviel Spaß wie gestern?« erkundigte Hunter sich spöttisch.

Sie sah zu ihm auf. »Nein, Ross«, antwortete sie dann.

»Und wenn wir zu Fuß gehen, müssen wir Ray Hanks transportieren«, warf der kleine Mann ein. »Sein Zustand gefällt mir nicht, Ross. Ich habe ihm alle Schlafmittel gegeben, die er meiner Meinung nach vertragen kann. Als der Lieferwagen angehalten hat, ist er sofort eingeschlafen, aber ich nehme an, daß er wieder aufwacht, wenn wir weiterfahren. Er hat ziemliche Schmerzen.«

Dann kam Pop herangehumpelt. »Mister Hunter«, sagte er weinerlich, »ich kann einfach nicht mehr auf der offenen Ladefläche fahren. Mir tut schon der ganze Rücken weh.«

Hunter wollte eine heftige Antwort geben, aber Ida kam ihm zuvor. »Sie können an meiner Stelle vorn sitzen«, tröstete sie Pop. »Die Männer wissen ohnehin nicht, wie man sich richtig um Mister Hanks kümmern muß, und schließlich ist das eigentlich meine Aufgabe.«

Hixon kam zurück und hielt ein Ende des Abschleppseils in der Hand. »Machen Sie es irgendwo an der Vorderachse fest«, wies er Hunter an. »Kommen Sie damit zurecht?«

»Geben Sie das Seil mir«, sagte Wojtowicz und griff danach.

»Ich nehme an, daß der Wagen nicht mehr viel Benzin hat«, sagte der kleine Mann zu Hunter.

»Richtig, Mister Dodd«, warf Ann ein, die neben ihrer Mutter stand. »Die Benzinuhr steht schon auf Reserve.«

»Ich hole einen vollen Kanister«, meinte der kleine Mann und ging auf den Lieferwagen zu.

Hunter nickte wortlos. Er kam sich gleichzeitig überflüssig und ohnmächtig vor, was ihn wütend machte. Doc hätte an seiner Stelle vermutlich eine witzige Bemerkung gemacht, aber er war eben nicht Doc. Er warf Margo einen Blick zu und wandte sich schulterzuckend ab, als er sah, daß sie spöttisch lächelte.


Barbara Katz hatte die niedrige und enge Kabine der Albatros zuerst fast deprimierend gefunden, aber jetzt war sie froh über diese geringen Abmessungen, denn dadurch fand man immer in nächster Nähe einen Halt, wenn das Boot stampfte oder weiter überholte, als sie erwartet hatte. Und das leicht gewölbte Dach wirkte wegen seiner geringen Höhe irgendwie sicherer, wenn wieder ein Brecher dagegen schlug.

In der Kabine herrschte tiefe Dunkelheit, die nur unterbrochen wurde, wenn ein Blitz seinen Lichtschein von draußen durch die vier winzigen Bullaugen warf, die an beiden Seiten in den Rumpf eingelassen waren, oder wenn Barbara einige Sekunden lang ihre Taschenlampe einschaltete.

Der alte KKK lag in Decken gehüllt in einer der engen Kojen. Hester saß am Kopfende, hielt den Alten fest, wenn er zu rutschen drohte, und wiegte gleichzeitig das namenlose Baby in den Armen. Helen lag ausgestreckt in der zweiten Koje und jammerte leise vor sich hin — sie war seekrank —, während Barbara zusammengedrückt am Fußende dieser Koje hockte. Von Zeit zu Zeit hob sie eine Klappe im Fußboden der Kabine auf um in dem darunterliegenden Hohlraum nach Wasser zu fühlen. Bisher hatte sich in dem doppelten Boden kaum welches angesammelt.

Die Albatros war fast gekentert, bevor die nach Westen stürmende Flut sie aus den Mangrovenzweigen gehoben hatte. Dann war sie nur knapp einem Zusammenstoß mit einem großen Baumstamm entgangen, der im Wasser trieb. Von dann ab war das Ganze fast ein Vergnügungsausflug gewesen, bis die sturmgepeitschten Wellen das Boot so heftig zum Schlingern brachten, daß alle bis auf Benjy unter Deck Zuflucht suchten.

Nach einer langen Stille — das heißt, nach einer längeren Zeitspanne, in der nur das leise Weinen des Babys das Arbeiten des Holzes und die Geräusche von Wind und wehen hörbar gewesen waren — fragte Barbara: »Hester, wie geht es Mister K.?«

»Er ist vor ein paar Minuten gestorben, Miß Barbara«, antwortete Hester. »Ruhig, Baby, du hast doch genügend Büchsenmilch bekommen.«

Barbara verarbeitete diese Information. Dann sagte sie langsam: »Hester, vielleicht wickeln wir ihn einfach in die Decke und schaffen ihn nach vorn. Dort ist gerade Platz genug — und dann könnten Sie sich endlich hinlegen.«

»Nein, lieber nicht, Miß Barbara«, antwortete Hester entschlossen. »Wir dürfen nicht riskieren, daß der Nagel in seiner Hüfte bricht oder daß etwas anderes mit ihm passiert. Er ist jetzt in guter Verfassung, obwohl er tot ist, und wenn er ruhig liegenbleibt, ändert sich daran nichts mehr. Dann haben wir einen Beweis dafür, daß wir uns nach besten Kräften bis zuletzt um ihn gekümmert haben.«

»Mein Gott, eine Leiche in der Kabine!« rief Helen und richtete sich entsetzt auf. »Das halte ich nicht aus — ich muß nach oben!«

»Leg dich hin, dumme Gans!« fuhr Hester sie an. »Miß Barbara, halten Sie Helen fest!«

Das war nicht mehr nötig. Helen hatte einen neuen Anfall von Seekrankheit und sank kraftlos in ihre Koje zurück.

Etwas später stampfte und rollte die Albatros weniger heftig. Die Brecher schlugen nicht mehr bis über das Kabinendach.

»Ich muß Benjy etwas Kaffee bringen«, sagte Barbara.

»Nein, das dürfen Sie nicht, Miß Barbara.«

»Doch, ich tue es aber«, sagte Barbara zu Hester.

Als sie die Schiebetür an der Rückseite der Kabine vorsichtig geöffnet hatte und den Kopf nach draußen steckte, sah sie Benjy hinter dem Steuerrad hocken. Die dichte Wolkendecke am Himmel war aufgerissen, so daß der Wanderer jetzt wieder sichtbar wurde.

Barbara kroch auf das Deck hinaus. Der Wind kam vom Bug her, aber er war etwas abgeflaut. Sie zog die Schiebetür hinter sich zu und kroch weiter auf Benjy zu.

Er trank den Kaffee aus der kleinen Thermosflasche, die sie mitgebracht hatte, und dankte ihr mit einem kurzen Kopfnicken.

Sie richtete sich auf den Knien auf und starrte über das niedrige Kabinendach. Der Wanderer, der jetzt wieder hinter den Wolken verschwand, zeigte in seinem letzten Licht nur Wellen, die allerdings recht gefährlich wirkten.

»Ich habe mir eingebildet, es sei etwas ruhiger geworden«, rief Barbara Benjy zu. Sie mußte laut schreien, um den Wind zu übertönen.

Benjy wies auf den Bug der Albatros, der eben wieder fast in den Wogen verschwand. »Ich habe eine Matratze«, rief er zurück, »und sie mit einer langen Leine am Bug festgebunden. Dann habe ich sie über Bord geworfen. Sie hält das Boot im Wind, so daß es die Wellen im rechten Winkel anschneidet.«

Barbara erinnerte sich daran, als was diese Vorrichtung bekannt war — als Seeanker.

»Wo sind wir Ihrer Meinung nach, Benjy?« fragte sie laut.

Er lachte und übertönte dabei sogar den Wind. »Ich weiß nicht, ob wir im Atlantik oder im Golf oder sonstwo schwimmen, Miß Barbara! Wichtig ist nur, daß wir noch immer obenauf sind!«

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