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Während nur sehr wenige Menschen unmittelbar mit dem Wanderer und seinen Bewohnern in Berührung kamen, was ihnen je nach Veranlagung als spannend oder erschreckend erschien, und während eine etwas größere Zahl die Ursachen seines plötzlichen Erscheinens wissenschaftlich zu ergründen versuchte, kannte der überwiegende Teil der Menschheit den neuen Planeten nur durch Beobachtungen am Nachthimmel und die Zerstörungen, die er überall anrichtete. Die erste Rate der Verwüstungen bestand aus Vulkanausbrüchen und Erdbebenstößen. Die hohe Anziehungskraft des Wanderers wirkte sich zunächst vor allem auf die Erdkruste aus, in der sich Veränderungen dieser Art rascher als in den Wassermassen der Erde fortpflanzen.

Schon sechs Stunden nach dem Erscheinen des Wanderers war es bereits zu heftigen Beben in den traditionell gefährdeten Gebieten um den Pazifik und entlang des Mittelmeeres bis in das Herz Asiens gekommen. Das Land erzitterte; Häuser wurden wie Spielzeug durcheinander geworfen und zerstört. Vulkane, die seit Jahrhunderten nicht mehr aktiv gewesen waren, spuckten plötzlich wieder rotglühende Lavaströme aus. Zwischen Alaska und der Antarktis kam es zu Hunderten von Erdbebenstößen, die teilweise unter Wasser begannen. Riesige Flutwellen wälzten sich über die Weltmeere und verwandelten sich in alles zerstörende Springfluten, sobald sie Küsten erreichten, hinter denen das Land nur flach anstieg. Hunderttausende starben.

Trotzdem gab es noch viele Gebiete — selbst in Meeresnähe —, wo alle diese Zerstörungen und Verwüstungen nur Gerüchte oder eine Schlagzeile in den Zeitungen waren. Oder vielleicht eine Stimme im Radio, bevor der Wanderer über dem Horizont aufstieg und sämtliche Funkverbindungen nachhaltig störte.

Die zweite und größere Rate der Zerstörungen, an denen der Wanderer schuld war, wurde durch die Meere verursacht, die fast drei Viertel der Erdoberfläche bedecken. Diese Wasserschicht mag unbedeutend erscheinen, wenn man sie nach kosmischen Maßstäben mißt, aber für die Menschen ist sie seit Urzeiten fast unendlich weit, tief und mächtig gewesen. Und sie hat immer ihre Götter gehabt: Dagon, Nun, Nodens, Ran, Rigi Neptun, Poseidon. Und die Musik des Meeres sind die Gezeiten.

Die Harfe der Meere, die von der Mondgöttin Diana gespielt wird, ist mit Saiten aus Salzwasser bespannt, die einige Kilometer dick, Hunderte von Kilometern breit und Tausende von Kilometern lang sind.

Über die großen Wasserflächen des Stillen und des Indischen Ozeans erstrecken sich die Baßsaiten: von den Philippinen nach Chile, von Alaska nach Kolumbien, von der Antarktis nach Kalifornien, von Arabien nach Australien, von Basutoland nach Tasmanien. Hier werden die tieferen Töne angeschlagen; manche Vibrationen halten einen ganzen Tag lang an.

Der Atlantik ist für die mittlere Stimmlage verantwortlich. Hier ist das Tempo rascher und gleichmäßiger; das Halbtagsintervall ist die Regel, so daß die Gezeiten einander etwa alle sechs Stunden abwechseln. Die wichtigsten Saiten verbinden Neufundland mit Brasilien, Grönland mit Spanien, Südafrika mit der Antarktis.

Wo die Saiten einander kreuzen, dämpfen die Schwingungen sich unter Umständen gegenseitig, wie es vor der norwegischen Küste, bei den Windward-Islands und in Tahiti der Fall ist, wo allein die Sonne die unbedeutenden Fluten hervorbringt — der weit entfernte Apollo schlägt die Harfe schwächer als Diana an, so daß die Flut regelmäßig zu Mittag und um Mitternacht kommt, während morgens und abends die Ebbe eintritt.

Die höchsten Töne der Meeresharfe werden durch Gezeitenechos in Buchten, Fjorden, Straßen und Meeresteilen hervorgerufen, die zum größten Teil von Land umgeben sind. Diese kurzen Saiten ertönen oft am lautesten, wie eine Violine oft ein Cello übertönt: die hohen Fluten von Fundy, am Severn, in Nordfrankreich, in der Magalhaesstraße, im Arabischen und Irischen Meer.

Alle diese Saiten vibrieren nur leise, wenn die Mondgöttin sie mit leichten Fingern zupft — die Gezeiten verändern sich einen Meter auf und ab, vielleicht auch zwei oder drei, selten sechs und noch seltener mehr.

Aber jetzt hatte der Wanderer Diana und Apollo die Meeresharfe entrissen und spielte selbst darauf — mit Fingern, die achtzigmal stärker waren. Am ersten Tag nach seinem Erscheinen am Himmel erreichten Ebbe und Flut bereits das Fünfzehnfache des gewohnten Wertes, am zweiten Tag schon das Fünfundzwanzigfache, als die Wassermassen auf das wilde Harfenspiel des Wanderers ansprachen. War früher das Wasser einen Meter gestiegen, betrug die Flut jetzt zehn Meter; hatte der Gezeitenunterschied früher zehn Meter betragen, erreichte er jetzt hundert — und mehr.

Die riesigen Fluten folgten dem alten Zeitplan — ein neuer Spieler, aber die gleiche Harfe. Tahiti war nur einer der vielen Punkte der Erde — nicht alle weit vom Meer entfernt landeinwärts —, auf die sich die Gegenwart des Wanderers nicht auswirkte, so daß die Menschen dort den neuen Planeten nur als astronomische Kuriosität ansahen.

Die Küsten sind vor dem Meer durch Wälle geschützt, zu deren Entstehung das Wasser selbst beigetragen hat. Nur an wenigen Stellen hat das Meer lange, flache Küstenstreifen vor sich, wo die Gezeiten täglich kilometerweit ins Land vordringen und wieder zurückweichen: in den Niederlanden, in Norddeutschland und an der Küste Nordwestafrikas.

Aber es gibt zahlreiche flache Küsten, die nur wenige Meter über dem Meeresspiegel beginnen. Hier strömten die durch den Wanderer hervorgerufenen Fluten zehn, zwanzig, fünfzig und mehr Kilometer landeinwärts. An den Stellen, wo hohe Fluten mit deutlich abgesetzten, aber nicht allzu hohen Küsten zusammentrafen — Fundy, der Bristol-Kanal, die Mündungen der Seine und Themse —, ergossen die Wassermassen sich plötzlich nach allen Richtungen über das umliegende Land.

Seichte Kontinentalschelfe wurde von der Ebbe leergefegt, so daß ihr Sand in den Abgründen des Meeres verschwand. Längst versunkene Riffe und Inseln tauchten wieder auf; andere wurden ebenso tief verschüttet. Seichte Meeresteile und Golfe wie der Persische Golf wurden täglich mehrmals trockengelegt; Meeresstraßen wurden tiefer, während gleichzeitig an anderen Stellen niedrige Landengen mit Salzwasser überflutet wurden. Weite Landstrecken, die ehemals fruchtbare Felder gewesen waren, verwandelten sich jetzt in Salzwüsten. Viehherden wurden fortgeschwemmt und ertranken. Bauernhöfe, Dörfer und Städte verschwanden unter den Wassermassen und wurden in Trümmer gelegt. Große Hafenstädte standen völlig unter Wasser und waren von der Außenwelt abgeschnitten.

Obwohl die Katastrophe sich so plötzlich in diesem ungeahnten Ausmaß ereignete, kam es überall auf der Welt zu Rettungsversuchen, deren Gelingen fast an ein Wunder grenzte. Organisationen und Vereinigungen aller Art, die auf Katastrophenfälle eingerichtet waren — das Rote Kreuz, die Küstenwache, der Seenotrettungsdienst und andere — nahmen sofort die Arbeit auf; einige der Vorbereitungen für den Fall eines nuklearen Krieges erwiesen sich endlich als nützlich.

Trotzdem mußten Millionen sterben.

Einige sahen die Katastrophe kommen, hatten Gelegenheit zur Flucht und ergriffen sie auch. Andere — selbst in den am meisten betroffenen Gebieten — dachten nicht einmal an Flucht.


Barbara Katz warf einen bedauernden Blick auf ihren Teller, auf dem noch immer ein halber Buttermilchpfannkuchen mit Ahornsirup lag, mußte aber zugeben, daß sie selbst bei bestem Willen nicht mehr davon essen konnte. Das war allerdings kein Wunder, denn sie hatte bereits eine reichliche Portion Rührei mit Schinken verschlungen. Jetzt schob sie ihre Kaffeetasse über den Tisch in der gemütlichen alten Küche, um sich von Hester nachschenken zu lassen. Der verschnörkelte Zeiger der Pendeluhr wies auf acht Uhr dreißig. Daneben hing ein farbenprächtiger Kalender mit einer Ansicht von Miami.

Hester lächelte Barbara freundlich zu, während sie ihr die Tasse vollschenkte, und sagte dann: »Ich bin wirklich froh, daß der alte KKK sich jetzt ein nettes Mädchen zugelegt hat, anstatt nur mit der Puppe zu spielen, die Sie auf seinem Bett gesehen haben.«

Helen, die jüngere Negerin, kicherte und drehte sich dann verlegen um, aber Barbara ließ sich keineswegs erschüttern.

»Die Puppen heißen doch alle ›Barbie‹, nicht wahr?« meinte sie. »Mein Name ist zufällig auch Barbara — Barbara Katz.«

Hester lachte herzhaft, und Helen kicherte nochmals.

»Warum nennen Sie ihn den alten KKK?« erkundigte Barbara sich.

»Sein zweiter Vorname ist Kelsey«, erklärte Hester ihr. »Knolls Kelsey Kettering III. Sie sind also das vierte K.« Dann lachte sie nochmals.

Hinter ihnen quietschte etwas leise. »Mach die Fliegentür zu, Benjy«, sagte Hester scharf, aber der riesige Neger bewegte sich nicht, sondern blieb in der geöffneten Tür stehen. Benjy trug ein weißes Hemd und silbergraue Hose mit einem dunklen Streifen entlang der Naht.

»Eine so niedrige Ebbe habe ich hier noch nie erlebt«, stellte er jetzt ernsthaft fest. »Die Leute gehen hinaus, als könnten sie die Bahamas erreichen, ohne nasse Füße zu bekommen. Manche schleppen sogar ganze Körbe mit Fischen zurück!«

Barbara richtete sich auf, setzte die Kaffeetasse ab und runzelte die Stirn.

»In der ganzen Nachbarschaft funktioniert kein einziger Fernsehapparat — und kein Radio«, fügte Benjy hinzu. Hester und Helen starrten Barbara fragend an.

»Wissen Sie genau, wann die Ebbe den tiefsten Stand erreicht?« fragte Barbara.

»Ungefähr um halb acht«, antwortete Benjy sofort. »Vor einer Stunde. Das steht alles auf den Rückseiten der Kalenderblätter.«

»Reißen Sie das oberste Blatt ab und nehmen Sie es mit«, wies sie ihn an. »Was für einen Wagen hat Mister K.?«

»Nur die beiden Rolls«, antwortete Benjy. »Ein Kabriolett und eine Limousine.«

»Machen Sie die Limousine für eine längere Fahrt fertig«, sagte Barbara rasch. »Nehmen Sie alles Benzin mit, das zur Verfügung steht — auch aus dem Tank des Kabrioletts! Wir brauchen Decken, Mister K.'s Medizin, eine Menge Essen und Kaffee in Thermosflaschen ... und mindestens zwei Dutzend Tafelwasserflaschen!« Sie machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Geben Sie mir das Kalenderblatt, Benjy.«

Die drei starrten sie fasziniert an. Ihre Aufregung war ansteckend, aber nicht ganz erklärlich. »Was soll das alles, Miß Katz?« wollte Hester wissen. Helen kicherte wieder einmal.

Barbara starrte sie ernst an. »Wir müssen fort von hier, weil eine hohe Flut kommt!« sagte sie nachdrücklich. »So hoch, wie die Ebbe jetzt niedrig ist — und höher!«

»Ist daran der ... Wanderer schuld?« erkundigte Benjy sich, während er ihr das Kalenderblatt gab.

Barbara nickte und las gleichzeitig die Rückseite. »Mister K. hat ein kleineres Teleskop«, stellte sie dann fest. »Wo bewahrt er es auf?«

»Teleskop?« wiederholte Hester ungläubig. Dann grinste sie breit und sagte: »Ja, natürlich — Sie und Mister K. sind doch Astronomen. Ich nehme an, daß er das kleinere in das Gewehrzimmer zurückgebracht hat.«

»Gewehrzimmer?« fragte Barbara mit blitzenden Augen. »Wie steht es mit Bargeld?«

»Das muß in einem der Wandsafes liegen«, antwortete Hester.

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