15

Doc fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und sagte: »Ich könnte gut noch ein Sandwich vertragen.«

»Wir wollen lieber die Hälfte aufheben«, antwortete die hagere Frau von der anderen Seite des Tisches her.

»Eigentlich war es meine Idee«, warf Harry McHeath verlegen ein.

»Wirklich vernünftig, junger Mann«, versicherte Doc ihm. Er holte eine kleine Flasche Whisky aus der Jackentasche und hielt sie hoch. »Möchte irgend jemand einen Schluck versuchen?« fragte er dabei. Die dicke Frau räusperte sich tadelnd.

»Heben Sie den Schnaps lieber für einen Notfall auf, Rudi«, meinte Hunter.

Doc seufzte und steckte die Flasche wieder ein. »Vermutlich hat die Kommission für Öffentliche Sicherheit auch etwas gegen eine zweite Tasse Kaffee einzuwenden«, murmelte er vor sich hin.

Harry McHeath schüttelte nervös den Kopf und ging mit einer Thermosflasche herum, um die Papierbecher nochmals zu füllen.

Rama Joan sagte: »Rudolf, Sie haben vorhin nach einer Erklärung für die Farben des Wanderers gesucht. Ich glaube, daß es sich dabei nicht um eine natürliche Erscheinung handelt. Meiner Meinung nach dient die Färbung nur zu ... Dekorationszwecken.« Sie machte eine Pause und fuhr dann fort: »Wenn es Lebewesen gibt, die durch den Hyperraum fliegen, können sie ihren Planeten bestimmt auf eine Art und Weise verzieren, die sie für künstlerisch halten. Die Steinzeitmenschen haben ihre Höhlen nicht von außen bemalt, aber wir streichen unsere Häuser an.«

»Gar nicht übel«, meinte Doc beifällig. »Ein Planet mit Zweifarben-Lackierung. Selbstverständlich gegen Aufpreis.«

Wojtowicz und Harry grinsten. Hunter sagte leise: »Wenn sie so fortgeschritten sind, brauchen sie gar keine natürlichen Planeten mehr. Dann können sie selbst einen bauen.« Er schüttelte den Kopf. »Ganz schön verrückt, wie?«

»Keineswegs«, versicherte Doc ihm. »Überlegen Sie nur, wie vorteilhaft es wäre, wenn man den gesamten Hohlraum eines Planeten ausnützen könnte — für Lagerräume, Schlafsäle, Maschinenräume und so weiter. Natürlich müßte alles gut abgestützt werden, damit es nicht ...«

»Das ist gar nicht nötig, wenn sie die Antigravitation für sich nutzbar gemacht haben«, warf Rama Joan ein.

»Toll«, flüsterte Wojtowicz tonlos.

»Du bist wirklich nicht dumm, Mommy«, meinte Ann schläfrig.

»Hebt man die Gravitation eines rotierenden Planeten auf, muß man ihn irgendwie zusammenhalten, weil die Zentrifugalkraft ihn sonst zerreißt«, sagte Hunter.

»Stimmt nicht«, widersprach Doc. »Masse und Bewegungsenergie verschwinden in diesem Fall gleichzeitig.«

Paul räusperte sich. »Nehmen wir einmal an, diese Lebewesen seien wirklich so weit fortgeschritten — würden sie dann nicht alles tun, um zu verhindern, daß sie bewohnten Planeten Schaden zufügen?« Er lächelte unsicher. »Ich setze dabei natürlich die Existenz einer friedliebenden Galaktischen Föderation voraus oder was man sonst dazu sagen könnte ...«

»Kosmischer Wohlfahrtsstaat«, schlug Doc ironisch vor.

»Nein, Sie haben völlig recht, junger Mann«, sagte Wanda energisch, während die hagere Frau zustimmend nickte. »Die Lebewesen aus dem All schaden niemand, sondern schützen und ernähren alle.«

Rama Joan lächelte ungläubig und fragte Paul: »Welche speziellen Vorkehrungen treffen Sie vor Antritt jeder Autofahrt, um zu verhindern, daß Sie Katzen oder Hunde überfahren? Sind die Ameisenhaufen in Ihrem Garten alle genau bezeichnet?«

»Denken Sie noch immer an Ihre Teufel und Dämonen?« wollte Doc wissen.

Rama Joan zuckte mit den Schultern. »Auch die Teufel sind vielleicht nichts anderes als Lebewesen, die ihre Absichten verfolgen, die in diesem Fall unseren entgegengesetzt sind.«

»Dann ist das Böse also nur ein Verkehrsunfall?«

»Vielleicht. Denken Sie nur daran, daß es leichtsinnige Fahrer gibt — und sogar Autofahrer, die ihren Wagen als Ausdruck ihrer Persönlichkeit benützen.«

»Selbst wenn das Fahrzeug zufällig ein ganzer Planet ist?« fragte Paul.

Rama Joan nickte.

Wojtowicz sprang auf. »Seht euch das an!« sagte er laut und streckte den Arm aus. Die anderen drehten sich um und sahen ein Scheinwerferpaar, das rasch näher kam. Jetzt war auch das dumpfe Röhren eines Automotors zu hören.

»Vielleicht hat der Major sich die Sache anders überlegt und läßt Sie abholen, Paul«, meinte Hunter.

»Der Wagen kommt aus der falschen Richtung«, warf Doc ein.

Die Scheinwerfer beschrieben einen weiten Bogen und waren jetzt voll auf die Gruppe gerichtet. Sie blendeten so stark, daß der Wagen trotz der allgemeinen Helligkeit kaum zu erkennen war.

»Hoffentlich bleiben sie nicht stecken«, sagte Margo.

»Bei dieser Geschwindigkeit bestimmt nicht«, antwortete Wojtowicz.

Der Wagen raste auf sie zu, als wolle er die Plattform rammen, wurde aber zehn Meter von ihr entfernt abgebremst. Die Scheinwerfer erloschen.

»Das ist doch Hixons Lieferwagen!« rief der kleine Mann erstaunt.

»Und da kommt Mrs. Hixon«, sagte Doc, als eine Frau in grauer Hose und gleichfarbigem Pullover von der Ladefläche kletterte und auf die Plattform zurannte.

Vorher war Mrs. Hixon noch eine gutaussehende junge Frau gewesen, aber jetzt waren ihr Gesicht, ihre Hände, die Hose und der Pullover schmutzverkrustet, ihr Haar hing unordentlich herab und ihre Augen waren glasig.

»Die Autobahn ist in beiden Richtungen blockiert«, keuchte sie. »Wir haben die anderen verloren. Ich glaube, daß sie tot sind. Ich glaube, die ganze Welt ist zertrümmert. Mein Gott, haben Sie nicht einen Schluck zu trinken?«

»Sehen Sie«, sagte Doc zu Hunter, während er die Whiskyflasche aus der Tasche holte und einen Papierbecher bis zur Hälfte füllte. Mrs. Hixon nahm ihm den Becher aus der Hand, bevor er den Whisky mit Wasser verdünnen konnte, trank ihn mit einem Schluck aus und schüttelte sich dann unwillkürlich. Doc legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Erzählen Sie uns alles der Reihe nach«, forderte er sie auf.

Sie nickte, schloß eine Sekunde lang die Augen und sagte dann: »Wir haben drei Wagen ausgegraben. Einer gehörte Rivis, der andere war Wentchers Kleinbus und schließlich unser Lieferwagen. Die übrigen waren zu sehr verschüttet, aber wir hatten alle genügend Platz. Bill, Ray und ich sind in dem Lieferwagen gefahren. Als wir die Autobahn erreichten, herrschte dort kein Verkehr. Das hätte uns warnen müssen, aber wir Idioten waren noch froh darüber! Rivis bog nach Norden ab. Wir fuhren in Richtung Los Angeles und folgten dabei dem Kleinbus. Unser Autoradio brachte mehr atmosphärische Störungen als Nachrichtensendungen. Immer wieder war von schweren Erdbeben bei Los Angeles die Rede. Wir mußten öfters einzelnen Felsbrocken und Erdrutschen ausweichen. Noch immer keine anderen Fahrzeuge. Der Kleinbus war schon weit voraus. Wir hatten eben das Stück Autobahn erreicht, wo der Abhang neben der Straße direkt zum Meer abfällt.

Dann bewegte sich plötzlich der Boden — die Straße begann einfach zu schwanken! Der Wagen schaukelte wie ein Boot. Die rechte Tür ging auf, Ray Hanks fiel hinaus. Ich hielt mich an Bill fest. Er bremste mit aller Kraft. Überall stürzten riesige Felsbrocken auf die Straße. Als Bill den Wagen endlich zum Stehen gebracht hatte, hörte das Beben auf. Trotzdem fielen noch immer große Felsbrocken bis ins Meer, so daß die Spritzer bis zu uns hinauf kamen.

Mit einemmal war wieder alles ruhig. Die Straße vor uns war völlig blockiert. Ich weiß nicht, ob unser Wagen den Erdrutsch überwunden hätte, aber wir wollten es jedenfalls versuchen weil wir nicht wußten, was mit den Leuten in dem Kleinbus passiert war. Dann kam plötzlich noch ein Erdrutsch. Ein Felsbrocken hätte mich fast erwischt, aber ich konnte noch rechtzeitig ausweichen. Jetzt wußten wir, daß wir nur noch umkehren konnten. Bill ging zu Fuß voraus, während ich den Wagen nach seinen Anweisungen steuerte.

Irgend jemand hinter uns rief laut um Hilfe und fluchte zwischendurch wütend. Es war Ray. Wir hatten ihn ganz vergessen. Sein Bein ist über dem Knie gebrochen, aber wir haben ihn auf einer Plane in den Wagen geschafft. Ich bin neben ihm auf der Ladefläche geblieben. Bill wendete und fuhr wieder zurück.

Die vorher so kleinen Erdrutsche waren größer geworden, aber irgendwie kamen wir darüber hinweg. Wir hielten nach anderen Fahrzeugen Ausschau, sahen aber keine. Bill wollte von einer Notrufsäule aus telefonieren, bekam aber nicht einmal ein Besetztzeichen. Im Radio waren nur noch atmosphärische Störungen zu hören.

Zuerst sind wir an dieser Abzweigung vorbeigefahren, aber nach ungefähr einem Kilometer war die Autobahn schon wieder blockiert. Nirgendwo eine Menschenseele, nirgendwo ein Licht — nur das verdammte Ding dort oben. Deshalb sind wir hierher zurückgekommen ...«

»Wie steht es mit den Nebenstraßen, die über die Berge bei Santa Monica führen?« wollte Doc wissen. »Was ist mit der neuen Bergstraße?«

»Nebenstraßen?« Mrs. Hixon starrte ihn verwundert an und lachte und schluchzte dann gleichzeitig. »Sie Idiot, die Berge sind doch alle in Bewegung geraten!« Sie lachte hysterisch weiter, bis Doc ihr den Mund zuhielt; dann hörte sie auf und ließ erschöpft den Kopf sinken. Wanda und die hagere Frau führten sie fort.

»Ich frage mich nur, weshalb die Hixons keine anderen Fahrzeuge gesehen haben«, sagte Paul zu Doc. »Das verstehe ich einfach nicht.«

»Wahrscheinlich haben sie die ersten kleineren Erdrutsche überwunden«, meinte Doc. »Und alle anderen haben es vermutlich nach dem zweiten Beben gar nicht erst versucht. Ich glaube übrigens noch immer, daß einige sich über die Bergstraße gerettet haben, selbst wenn Mrs. Hixon darüber lacht.«

»Los, kommt und bringt die Tragbahre mit!« rief Hunter. »Wir müssen Ray hierher bringen, damit die anderen mit dem Wagen zu unseren Autos zurückfahren können.«


»Stellen Sie die Verbindung zur Weihnachts-Insel her, Jimmy!« schnauzte General Spike Stevens. »Sagen Sie den Kerlen dort, daß ihr Bild auch zu schwimmen anfängt.«

Die Beobachter in dem unterirdischen Bunker saßen jetzt vor dem rechten Bildschirm und ignorierten den linken, der seit über einer Stunde nur noch Störungen zeigte.

Die Kamera des Satelliten über der Weihnachts-Insel war weiterhin auf den Wanderer gerichtet, hinter dem jetzt eben der Mond verschwand, aber der Planet und der Erdtrabant wurden nur noch als verzerrte Schatten wiedergegeben.

»Ich habe schon alles mögliche versucht, General, kann die Relaisstation aber nicht erreichen«, antwortete Captain James Kidley. »Die Kurzwellenverbindung ist unterbrochen. UKW-Sprechfunk scheint nicht mehr zu funktionieren. Nur noch Kabel und Richtfunkstrecken sind in Betrieb. Aber selbst dadurch ...«

»Aber wir sind doch ein Hauptquartier!«

»Tut mir leid, General, ich ...«

»Verbinden Sie mich mit HQ eins.«

»General, von dort haben wir ...«

In diesem Augenblick schwankte der Fußboden unter ihnen heftig. Das Licht flackerte und ging aus. Dann schaltete sich die trübe Notbeleuchtung ein. Der Bunker erzitterte unter schweren Stößen. Überall rieselte der Putz von den Wänden. Die Lichter gingen erneut aus, so daß der Raum nur noch von dem blassen Schein des Bildschirmes beleuchtet wurde.

Plötzlich verschwand das schattenhafte Bild des neuen Himmelskörpers und wurde durch die Silhouette eines riesigen Katzenkopfes mit spitzen Ohren und scharfen Reißzähnen ersetzt. Die vier Beobachter hätten glauben können, ein schwarzer Tiger habe in siebenunddreißigtausend Kilometer Höhe über dem Pazifik in das Objektiv der Satellitenkamera gegrinst. Das Bild blieb etwa eine Sekunde lang unbeweglich. Dann verschwamm es, und der Bildschirm wurde schwarz.

»Großer Gott, was war denn das?« fragte der General laut in die Dunkelheit hinein.

»Haben Sie es auch gesehen?« erkundigte Oberst Mabel Wallingford sich. Sie lachte mit einem deutlich hysterischen Unterton.

»Halten Sie den Mund, Sie dumme Gans!« fuhr der General sie an. »Jimmy?«

»Das muß ein Zufall gewesen sein«, sagte der junge Mann mit zitternder Stimme. »Eine optische Täuschung. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ...«

»Ruhe!« brüllte Oberst Willard Griswold die anderen an. »Was ist das?«

Sie hörten es alle: Irgendwo sprudelte und rauschte Wasser.


Das Magnetfeld des Wanderers, das wesentlich stärker als das der Erde war, breitete sich ebenso rasch wie sein Schwerefeld aus und beeinflußte fast augenblicklich alle Instrumente, die dafür empfindlich waren. Aber gleichzeitig machten sich noch andere Einflüsse bemerkbar, die allerdings vorläufig nur die Seite der Erde trafen, die dem neuen Planeten zugekehrt war. Sie zerstörten die Van-Allen-Gürtel und überschütteten die Erde mit einem wahren Hagel aus Protonen und Elektronen.

Diese Einflüsse verstärkten sich noch, als der Mond in eine Kreisbahn um den Wanderer eintrat und dabei allmählich auseinanderbrach. Unter anderem erreichte die Ionisierung der Erdatmosphäre unglaublich hohe Werte, durch die schon nach kurzer Zeit sämtliche elektromagnetischen Nachrichtenverbindungen unterbrochen wurden. Diese Vergiftung der Ätherwellen, auf denen sonst der Funkverkehr stattgefunden hatte, breitete sich um die ganze Erde aus und trug wesentlich dazu bei, die Katastrophe zu verschärfen, durch die bald Land von Land, Stadt von Stadt und schließlich auch Mensch von Mensch getrennt wurde.

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