»Na schön. Wie komme ich hier raus?« fragte Sturm.
»Ich dachte schon, du würdest nie mehr fragen«, erwiderte Sir Robert glucksend.
Der Geist drehte sich plötzlich in der Luft. Hinter ihm trieften grün und leuchtend wäßrige Lichtpfützen aus seinen Locken und Kleidern, während er aus der Saalmitte durch die Türen in den Vorraum ging. Mit gezogenem Schwert erhob sich der kampfbereite Sturm und folgte ihm.
Die Fußtapsen führten zu seiner Überraschung zurück in den Keller von Kastell di Caela, wo Sir Robert, der schwerelos vor ihm her trieb, unter die Treppe zurückhuschte.
»Eine Idee von Baumeister Bradley«, murmelte er. »Damit wir den Wein rausholen konnten, nachdem der Wurm die Keller aufgerissen hatte.«
Der Geist flog an einem umgestürzten Weinfaß vorbei direkt in die hintere Wand, wo er einfach verschwand. Nur die Oberfläche der Steine schimmerte noch grün.
»Komm schon!« drängte eine Stimme von der anderen Seite der Mauer, und als Sturm die Hand an die leuchtenden Steine legte, drehten sie sich plötzlich weg zur Seite, und frische Luft und Mondlicht umströmten ihn. Er trat aus dem Keller in den Burghof, der hell im silbernen Glanz von Solinari lag.
Sturm sah zurück. Sir Robert war verschwunden. Wieder wunderte er sich – warum ihm ausgerechnet dieser Geist von all den vielen Geistern, die in dem verlassenen Schloß hausten, geholfen hatte.
Luin trottete von den Ställen über den Hof herbei. Offenbar hatte ihr die Zeit allein nicht geschadet. Sie wirkte gepflegt, sogar gut gefüttert, obwohl sie immer noch Sattel und Zaumzeug trug wie zu dem Zeitpunkt, als er sie verlassen hatte. Sturm wühlte seine Packtaschen durch, fand dabei etwas Trockenfleisch, Quith-Pa und ein Stück angeschimmeltes Brot und schlang alles hinunter. Während er aß, knabberte Luin zufrieden an seiner Schulter, und nach einer Weile streichelte Sturm ihre lange Nase und redete mit ihr, denn er schämte sich, daß er so lange nicht an sie gedacht hatte.
»Und wie hast du dich über die Tage so gut verpflegt, altes Mädchen? Wie hast – «
Da erst sah er sich um und bemerkte, daß der Schloßgarten grün war und daß zwischen den Pflastersteinen im Hof dickes, saftiges Gras wuchs. Es hatte reichlich Weidegrund gegeben.
Er war eine ganze Woche im Schloß gewesen. Ganz sicher. Wenn nicht heute schon der erste Frühlingstag war, dann zweifellos in ein oder zwei Tagen. Sturm dachte wieder an das Julfest, an die strenge Warnung des grünen Mannes, daß er rechtzeitig zu der Verabredung zu erscheinen hatte.
Er würde zu spät kommen. Und alles, was über das Schicksal seines Vaters zu erfahren war, was ihm der Herr der Wildnis versprochen hatte, würde ungehört bleiben. Niemand würde davon erfahren… vielleicht für immer.
Beim Gedanken an das »für immer« meldete sich ein dumpfer Schmerz in der Schulter des Jungen und jagte ihm einen plötzlichen Schrecken ein. Denn hatte Vertumnus nicht noch Schlimmeres versprochen, falls Sturm die Verabredung nicht einhielt?
Die Wunde würde blühen, und ihre Blüte würde tödlich sein.
Ohne weitere Gedanken sprang Sturm Feuerklinge aufs Pferd. Schnalzend und schmeichelnd ritt er ins ländliche Solamnia hinaus, wo die Monde die Landschaft verwirrten und die Wegweiser die Reisenden durcheinanderbrachten.
Er warf einen letzten Blick auf Kastell di Caela, das Heim seiner Urgroßmutter und deren Geschlecht. Irgendwie erschien es unwirklich, wie ein Teil des Nebels, der ihn zu seinen Toren geführt hatte. Als er weiterritt, konnte er die zwei hohen Türme sehen. Zum Hauptturm gehörte der Burgfried und der Saal, in dem er den Geist von Sir Robert di Caela getroffen hatte – der war für ihn nicht mehr neu. Aber hinter diesem Turm lag der andere, der Katzenturm, in dem die Familie seiner Urgroßmutter ihre spleenigen Verwandten beherbergt hatte – manchmal auch die wirklich Wahnsinnigen.
Im obersten Fenster des Katzenturms leuchtete ein Licht, eine Fackel, die von einem blassen, älteren Mann in Prunkrüstung gehalten wurde. Selbst aus dieser Entfernung konnte Sturm das Wappen auf seinem Brustharnisch erkennen. Hellrote Blume auf weißer Wolke vor blauem Grund. Bonifaz war nicht weit hinter ihm. Daß Sturm aus dem Schloß entkommen war, hatte ihn überrascht. Er hatte gerade auf dem südwestlichen Erkertürmchen gedöst, wo seine blassen Augen am blassen Mond gehangen hatten. Er fluchte leise, um sich dann für diesen Fluch zu verfluchen, als der Junge sein Pferd bestieg und durch das Nordtor galoppierte, bevor er von der Mauer steigen und auch nur zum Stall gelangen konnte.
So findig hatte er den Jungen nicht eingeschätzt, der tatsächlich etwas von der Genialität der Feuerklinges in sich haben mußte. Wie sonst hätte er aus einem so fest verrammelten Schloß entkommen können?
Fürst Bonifaz Kronenhüter lächelte in sich hinein, während er sein Pferd aus dem Stall führte. Mit der selbstverständlichen Art eines Hauptmanns der Kavallerie schwang er sich geschmeidig in den Sattel und setzte Sturm und Luin nach. Der Hengst unter ihm fegte dunkel über die mondbeschienene Ebene.
Bald zügelte er ihn allerdings zum leichten Galopp. Es war nur eine Frage der Zeit. Schließlich hatte er vorgesorgt. Von hier bis zum Südlichen Finsterwald gab es noch einige Fallen. Und die nächste Überraschung war nicht mehr weit. In gestrecktem Galopp jagten Sturm und Luin nach Nordosten – oder das, was Sturm für Nordosten hielt – über die Solamnische Ebene. Mit jeder Veränderung des Horizonts sanken die Hoffnungen des Jungen. Wer hätte gedacht, daß Solamnia so weit war, so unvorstellbar groß?
Sturm schloß die Augen, während der Wind ihm um die Ohren pfiff. Also würde er nie zum Orden gehören.
Nachdem seine Panik schließlich abgeklungen war, zügelte er Luin zu leichtem Galopp. Da brachte die Luft ihnen von links den schwachen Schlammgeruch des Flusses.
Die Erforschung des Schlosses hatte seinen Orientierungssinn durcheinandergebracht. Er war nach Süden geritten, weg von der Furt und der Straße nach Lemisch. Das plötzliche Grün der solamnischen Steppe hatte Vertumnus’ grünen Pfad verschluckt, und der Junge war eine Stunde lang über eine Ebene ohne Anhaltspunkte galoppiert.
Sturm brachte Luin zum Stehen, stellte sich in den Steigbügeln auf und überblickte verzweifelt die vor ihm liegende Landschaft, die abgesehen von ein paar Ewigkeitsbäumen hier und einem einsamen Vallenholzbaum dort in jeder Richtung gleich aussah.
Er dachte daran, wie sein Versagen und die Verzögerung – vielleicht sogar sein Tod – die Fürsten Gunthar und Bonifaz enttäuschen würde. Er dachte an Derek Kronenhüters Hohn und seine Schadenfreude. Die anderen Pagen und Knappen würden sich das Maul zerreißen wie ein Rabenschwarm…
Wo sind die Vögel? Das war es! Wo sind die Vögel?
Sturm fuhr hoch und sah sich um, und seine Verwunderung wurde zu einer vorsichtig wachsenden Hoffnung. Denn in diesem Frühling in Solamnia sangen trotz der Wärme und der Gräser keine Vögel. Die Ebene war so still wie im Winter.
Noch einmal stellte sich Sturm in die Steigbügel. Am Rand seines Blickfelds, im Osten, wo der Geruch des Flusses herkam, sah er wieder Winter und etwas erstaunlich Vielversprechendes. Denn das Grün der Ebene wurde plötzlich braun, und der Nebel über dem Land war Winternebel, den das Sonnenlicht nicht auflösen konnte.
»Also… also ist immer noch Winter!« rief Sturm aus, der sich wieder in den Sattel setzte. Plötzlich erklang vor ihm frisch und lockend die Musik, die ihn über die Winterebene zog. Voller Überschwang spornte er sein Pferd an und trieb es in vollem Galopp nach Osten.
Er lächelte in sich hinein. Jetzt ging das Abenteuer erst los.
Luin schaukelte unter ihm, als sie auf ihrem Galopp durch bestellte Felder und Viehweiden über einen alten Zaun setzte. Die ganze Zeit spielte vor ihnen die Musik, lockte sie weiter, und hinter ihnen verwandelte sich das frühlingshafte Grün plötzlich wieder in das braune, eisverkrustete Land des Winters.
Sturm lachte. Von jetzt an war es leicht. Das war sein Gedanke, als er merkte, wie sein Pferd einknickte und strauchelte. Sie hatten noch Glück, daß sie sich nicht verletzten oder gleich zu Tode stürzten. Sturm hatte blitzschnell reagiert und die Stute so nachdrücklich gezügelt, daß sie sofort in Schritt fiel und dann stehenblieb. Er saß ab und untersuchte den Schaden an ihrem rechten Hinterhuf.
Das war kein Zufall gewesen. Da er sich mit Pferden ausgezeichnet auskannte, war ihm sofort klar, daß jemand einen, vielleicht auch mehrere Hufnägel gelockert hatte. Das Hufeisen hatte bei jedem längeren Galopp verlorengehen müssen.
»Warum nicht früher?« fragte er laut, während er die Stute auf ein Ewigkeitsbaumwäldchen zuführte, weil sie Schutz vor dem Wind brauchten, der wieder kräftig und winterlich geworden war. »Wir sind zusammen durch den Nebel gerast, vor diesem… diesem komischen Monster davon. Über viel unwirtlicheres Gelände als dieses. Warum hast du das Eisen nicht schon da verloren, Luin?«
Außer…
Der Junge schüttelte den Kopf. Jemand hatte das Eisen in Kastell di Caela gelockert. Derselbe jemand, der ihn eingesperrt hatte. Jemand, der ihm folgte und wollte, daß er zu spät kam.
Sturm lief in ungefähr östlicher Richtung weiter, während er verschiedene Möglichkeiten in Gedanken durchspielte. Luin folgte ihm am langen Zügel. Hin und wieder hielt sie an, um das trockene Gras abzurupfen. Wie die zwei jemals in den Südlichen Finsterwald gelangen sollten, war noch fraglich.
An diesem Nachmittag war die Musik, die aus dem smaragdgrünen Wäldchen vor ihnen drang, fast eine Erleichterung. Nachdem er die Stute festgemacht hatte, zog Sturm sein Schwert und drang in das Dickicht aus Wacholder und Ewigkeitsbäumen ein. Es war nicht Vertumnus, der da spielte, wie Sturm sich erhofft hatte. Allerdings wirkte das Mädchen, das die Flöte hielt, fast ebenso wild und wissend. Ihre Mandelaugen und die spitzen Ohren wiesen sie deutlich als Elfe aus, und die Malereien auf ihrem Körper waren die der Kagonesti.
Das war alles, was Sturm von jenem zurückgezogenen Waldvolk wußte. Denn die Kagonesti waren die seltensten aller Elfen. Die Wildelfen lebten nicht in Städten, wie ihre Vettern aus Silvanesti und Qualinesti. Sie gehörten kleinen Stämmen an oder durchstreiften die Wälder und Sümpfe von Krynn allein. Sturm war überrascht, daß eine von ihnen sich hier so lange zum Flötespielen niedergelassen hatte. Er senkte sein Schwert, duckte sich hinter eine kleine Tanne und beobachtete sie voller Staunen.
Die junge Elfe saß im Schneidersitz auf dem Strohdach einer kleinen Hütte inmitten des Wäldchens auf einer Lichtung. Ihre dunklen Haare glänzten im Mondlicht. Gegen den Wind und die Kälte hatte sie sich in Pelze gewickelt, aber eins der braunen Beine hatte sie provozierend ausgestreckt. Es war nicht von Polarfuchs oder Hermelin bedeckt, sondern mit grünen Kreisen und Spiralen bemalt. An den Lippen hielt sie eine silberne Flöte, auf der sie eine langsame, getragene Melodie spielte.
Wie hypnotisiert von dem Grün auf Braun und den kreisförmigen Schwüngen der Bemalung merkte Sturm, wie ihm der Atem stockte.
Über dem Mädchen bewegten sich die Tannenzweige im Wind, um sich dann anmutig zur Seite zu biegen, als ob sie dem Mondlicht erlauben wollten, sie zu einem geheimnisvollen, einzigartigen Zweck zu beleuchten.
Als ob sie ihn mit ihrem Lied herbeigerufen hätte, tauchte schon bald der Mond in der Lücke zwischen den Bäumen auf und schien genau auf sie herab – oder eher zwei Monde, denn der weiße Solinari in seiner strahlenden, vollen Scheibe erwartete seine rote Schwester Lunitari, bis sie ihm am allerhöchsten Punkt des Himmels begegnete. Langsam schob sich der rote Mond in Sicht, während das Mädchen spielte und ihre Musik den Hain erfüllte.
Sturm war seltsam angerührt. Es lag ein solcher Friede in dieser Szene, als ob alles Gute – Schönheit, Gesundheit, Tugend, Reinheit – einen Augenblick lang zum Takt der Flöte tanzte. Es war auch etwas Trauriges daran. Nur zu bald, wußte Sturm, würde dieser Moment vergangen sein.
Deshalb ging er auch, steckte sein Schwert weg und wollte zum Weg zurückkehren, als er die Spinnwebe sah.
Die Stränge waren fingerdick und zwanzig Fuß lang, mit Zwischenräumen so groß wie Sturms Schild, und zogen sich wie ein riesiges Fischernetz von Baum zu Baum über die Lichtung. Sturm hob das Schwert. Die Spinne, die so etwas spinnen konnte, mußte so groß sein wie ein Hund… ein Mensch… ein Pferd. Mit hocherhobenem Schild fuhr Sturm herum und hielt nach dem Untier Ausschau, doch bis auf trockene Blätter und ein paar Knochen von Raben und Eichhörnchen war das Netz leer. Geduckt lief der Junge zur Lichtung zurück, um das Mädchen zu warnen.
Er kam fast zu spät. Da war die Spinne, wulstig und riesig und grau-weiß gesprenkelt. Ihre Vorderbeine hingen über der ahnungslosen Elfe, die mit geschlossenen Augen und wehenden Haaren weiterspielte. Sturm schrie auf und sprang auf die Lichtung.
Die Musik hörte sofort auf. Erschrocken sah das Mädchen ihn an. Die Spinne sprang zurück und krabbelte mit kantigen, schnellen Bewegungen an der Seite der Hütte herunter. Augenblicklich stand sie mit erhobenen Vorderbeinen und blitzenden, klackernden, langen Fangzähnen zwischen Sturm und dem Mädchen.
Das Tier war mindestens sieben Fuß groß, doch Sturm hielt sich nicht mit Messen auf. Geschickt rollte sich der Junge aus dem Weg, wobei er an einen blauen Ewigkeitsbaum prallte und seinen Schild verlor. Die Spinne sprang ihm vergeblich nach, ihre tödlichen Fangzähne fuhren durch die Luft.
Hinter dem Monster sprang das Elfenmädchen vom Dach der Hütte und huschte selbst wie eine Spinne krabbelnd durch die dunkle Tür hinein.
Nachdem Sturm zur anderen Seite des Baums durchgebrochen war, hob er sein Schwert hoch über den Kopf, um dann auf die heranstürzende Spinne einzuschlagen. Das Tier erzitterte, lief zur Seite und kletterte dann einen Vallenholzbaum hinauf. Dort hockte es sich in die unteren Äste über dem Jungen, der schnell zur Seite sprang. Die Spinne sprang herunter und hätte Sturm augenblicklich zerquetscht, wäre er nicht nach vorn gehechtet, wobei er an den Stamm des Vallenholzbaums prallte und sich dann benommen und atemlos aufrappelte, um das Unterholz nach seinem Schwert zu durchsuchen. Die Spinne kam näher, stellte sich auf die Hinterbeine und warf sich dann wild nach vorn. Aber ihre Fangzähne trafen auf Angriff Feuerklinges Brustharnisch und prallten, ohne Schaden anzurichten, von der Bronzezier ab.
Mit einem Aufschrei riß sich Sturm von der Spinne los. Als er sich umsah, bemerkte er sein Schwert, das nur gut zehn Fuß entfernt lag. Er rannte hin, riß es hoch und rollte über den Boden, um anschließend mit erhobener Klinge, die auf die Spinne zeigte, auf die Beine zu kommen.
Doch die Spinne war nicht mehr da. Denn mitten in Sturms Turnerei war sie auf einen höheren Ast des Vallenholzbaumes geklettert, dann auf eine danebenstehende Lärche gesprungen, die sie wie ein Affe mit den beiden Vorderbeinen umklammert hatte, dann einen dicken, ausladenden Ast entlanggerast, bis sie wieder direkt auf dem Dach der Hütte saß.
Mit einem Aufschrei rannte Sturm auf die Hütte zu, rutschte auf dem Untergrund aus, stolperte über Wurzeln, Büsche und Brombeerranken. Die Spinne sprang über seinen Kopf und landete geschickt hinter ihm, wobei aus ihren Spinndrüsen eine dicke, zähflüssige Spirale drang. Diesmal war der Junge schnell genug, denn er wich dem Faden aus und stürmte mit vorgestrecktem Schwert auf das Tier zu.
Aber wieder war die Spinne verschwunden. Sturm sah sich verwirrt um, dann blickte er nach oben – gerade rechtzeitig, um dem Monster auszuweichen, das sich mit mörderischer Geschwindigkeit gerade zwanzig Fuß tief herunterließ. Als er auf die Lärche zurannte, wo das große Spinnennetz über ihm schimmerte, hob Sturm sein Schwert und schlug mehrmals in die dicken Seile des Netzes, bis ein langer Strang weich und fest in seinem Handschuh lag.
»So«, murmelte er, während er sich zu dem angreifenden Untier umdrehte, »wenn Schwert und Kraft mir nicht helfen…«
Er wich aus und tauchte zwischen den zuckenden Beinen der Spinne durch, wobei er das Tau hinter sich herzog. Die Fangzähne klackten über seinem Kopf, doch dann war er unter dem Tier durch und hatte zwei von seinen Beinen mit seinem Seil umschlungen. Sofort wickelte der Junge das Seil fest um einen Baum und drehte sich wieder um, um erneut unter dem Tier durchzukriechen. Ein Fangzahn streifte vergeblich seinen Rücken.
Nachdem er so fünf ihrer Beine festgezurrt hatte, stürzte die Spinne auf den Waldboden. Sie wirbelte Staub und Blätter auf, als sie wütend um sich schlug. Ihr Schrei klang wie das Zirpen von Zikaden, ohrenbetäubend und schrill. Sturm schlüpfte aus seinem Handschuh, den er am Faden kleben ließ, hob sein Schwert auf und ging auf das gefesselte Tier zu. Triumphierend erhob er die Klinge…
… doch das Elfenmädchen steckte den Kopf aus der Tür und schrie entsetzt auf.
»Nein!« rief es. »Halt ein, Mensch!«
Wie vom Donner gerührt trat Sturm von dem Tier zurück und senkte das Schwert. Voller Zorn schlüpfte das Mädchen aus der Hütte und lief über die Lichtung. Ihre dunklen Mandelaugen glühten.
»Mach das arme Ding los, du Schuft!«
Sturm konnte nicht glauben, was er da hörte.
»Mach ihn los, sage ich! Oder, bei Branchala…«
Sie zog ihr Messer. Instinktiv riß Sturm den Schild hoch, doch sie war bereits bei ihm, kniete sich neben dem Monster hin und schnitt die Spinnweben durch, die es festhielten.
»Ich… aber ich…«, setzte Sturm an, doch aus dem Blick, den ihm die Elfe zuwarf, sprach eine so schäumende Wut und so viel Haß, daß er seine Erklärungsversuche aufgab. Verlegen stand er dabei und sah zu, wie sie an dem Strang herumsäbelte. Schließlich kniete er sich widerwillig neben sie und setzte die Klinge seines Breitschwerts gegen die groben, klebrigen Stränge ein.
Nach ungefähr einer Minute war die Spinne frei. Sie stand wackelig da, als wäre sie gerade aus dem Schlaf erwacht. Sturm sah vorsichtig zu, hielt das Schwert tief, den Schild hoch, doch das Ungetüm taumelte, zirpte und rannte schnell in den Wald. In seinem Schrei lag ein seltsam schluchzender Ton, als würde es weinen. Völlig perplex sah Sturm, wie das Tier zwischen den Zedern, Pinien und Lärchen verschwand, wobei es ein verletztes Bein nachzog.
»Was – «, setzte er an, doch er brachte den Satz nicht mehr zu Ende. Die Ohrfeige des Elfenmädchens saß.
»Wie kannst du es wagen, mit deinem Schwert auf meine Lichtung zu platzen und hier ein Chaos anzurichten!« schrie sie. Dann hob sie die Hand, um ihn erneut zu ohrfeigen. Sturm wich stolpernd zurück.
»Ich dachte, du wärst in Gefahr«, erklärte er und zuckte zusammen, als sich das Mädchen plötzlich wieder bewegte. Diesmal allerdings strich sie sich nur die dunklen Haare zurück. Auf ihrem Gesicht rang Trauer mit Ärger.
»Du dummer Junge«, sagte sie still. »Du hast keine Ahnung, was du angerichtet hast, nicht wahr?«
Sturm sagte nichts. Mit schwachem, melancholischem Lächeln zeigte das Elfenmädchen zum Himmel.
»Guck nach oben«, sagte sie. »Was siehst du?«
»Eine Lücke in den Bäumen«, erwiderte Sturm unsicher. »Den Nachthimmel. Die zwei Monde…«
Sein Kopf drehte sich, als sie ihm wieder eine Ohrfeige verpaßte.
»›Die zwei Monde‹, richtig, du Knallkopf! Du vorschneller, bartloser, zwergenhirniger Möchtegernritter!«
Die Elfe wankte und klammerte sich an die stützende Rinde eines Vallenholzbaums.
»Zwei Monde«, sagte sie ruhiger, »die sich im Zeichen der Mishakal am Winterhimmel begegnen… wie oft, was meinst du?«
»Ich bin kein Astronom, Lady«, gestand Sturm. »Ich weiß nicht, wie oft.«
»Ach, nur so etwa alle fünf Jahre«, sagte das Mädchen mit aufeinandergebissenen Zähnen, wobei ihre glitzernden Augen den Jungen mit schwer beherrschtem Zorn fixierten. »Alle fünf Jahre, und dann kann eine besondere Melodie aus der neunten Tonart der Harmonien von Branchala, deren Feinheiten ein Musiker drei Jahre lang geübt hat, benutzt werden, um die Magie von Druiden und Zauberern zu brechen.«
»Verstehe ich nicht«, sagte Sturm, der zurückwich, als das Mädchen zornig einen Schritt auf ihn zu machte.
»Du verstehst es nicht«, wiederholte sie kalt. Ihre Hand spielte mit dem Messer: Klinge, Heft, Klinge. »Das Lied löst Verzauberung, hebt Flüche auf und erlöst die Transmogrifizierten.«
»Transmogrifizierte?«
»Alle, die in Spinnen verwandelt wurden!« fauchte das Mädchen und warf das Messer knapp an Sturms Ohr vorbei. Bestürzt stand er reglos da, während der Dolch gute zwanzig Fuß hinter ihm in einer kahlen Eiche zitterte. Eine Haarsträhne, die unterhalb seines Ohrs sauber abgetrennt war, fiel auf seine Schulter.
»Im unpassendsten Augenblick der letzten fünf Jahre«, sagte die Elfe, »bist du auf diese Lichtung getreten. Und hast so dafür gesorgt, daß Cyren vom Königshaus in Silvanost, Nachfahre von Königen und Herr über mein Herz, noch einmal fünf Jahre allein in seinen Netzen herumklettern muß. Mit acht Beinen und sechs Augen kann er Ungeziefer und Aas fressen, bis der weiße Solinari und der rote Lunitari auf ihren getrennten Pfaden durch den ganzen gottverdammten Himmel gesegelt sind, an Fixsternen und Wandelsternen vorbei, und sich wieder vereinen!«
»Ich… es tut mir…«, fing Sturm an, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken.
»Keine Entschuldigungen«, sagte das Mädchen mit schiefem, gefährlichem Lächeln, als Solinari hinter die schwankenden Lärchen tauchte und die Lichtung nur noch im unbehaglich roten Licht von Lunitari lag. »Keine Entschuldigungen. Ich würde dich immer noch am liebsten umbringen.«