Nach ein paar Minuten hatte Sturm das Elfenmädchen beruhigt, indem er sie mit Entschuldigungen überhäufte und zugab, ja, er sei wirklich der dämlichste Junge des Kontinents, und um einen noch größeren Trottel zu finden, müßte man sich unter die Goblins von Trot wagen. Das befriedigte sie offenbar vorläufig. Sie seufzte, nickte und sah sich dann abgestoßen um, als ob die Lichtung, auf der sie zwei Monate gewohnt hatte, um das Aufeinandertreffen der Monde abzuwarten, plötzlich wirklich ein Netz von Spinnen geworden wäre.
»Hier kann ich nicht bleiben«, erklärte sie und ging in die Hütte. Sturm trat draußen von einem Fuß auf den anderen. Hinten zwischen den Ewigkeitsbaumen gab es eine kleine Bewegung, ein Rascheln im Unterholz, doch als er nachsah, was sich dort bewegte, war nichts zu entdecken.
»Spinnen«, murmelte er. »Ich wette, hier verwandelt sich alles in Spinnen, sogar das Mädchen und ich.«
Aber sie tauchte sehr unspinnenhaft kurz darauf wieder auf. Ihre Habseligkeiten hatte sie in einem Paket aus Sackleinen, Schlingpflanzen und Spinnweben zusammengepackt. Das Bündel war fast doppelt so groß wie sie, und sie trug es wie etwas Unhandliches, Zerbrechliches über der Schulter.
»Gut, dann bringst du uns eben nach Hause«, stellte sie fest, während ihre Knie unter dem Gewicht des Bündels einknickten. Sturm wollte ihr helfen, aber sie wehrte ihn mit einer Kopfbewegung ab.
»Nichts für dich. Ich pack’ das auf ein Pferd«, kommandierte sie mit einem Nicken in Richtung Luin, die vorsichtig am Rand der Lichtung stand. Nach dem Kampf mit der Spinne war sie immer noch etwas scheu.
»A-aber das geht nicht, meine Dame. Das geht einfach nicht«, protestierte Sturm. »Sie hat ein Eisen verloren, und ich kann sie nicht beladen.«
Niedergeschlagen setzte das Elfenmädchen das Bündel ab.
»Das heißt, wir müssen zu Fuß nach Silvanost ziehen?«
Sturm schluckte. Obwohl er nicht besonders gebildet war, wußte er ungefähr, wie der Kontinent aufgeteilt war. Silvanost war fünfhundert Meilen Luftlinie entfernt, und eine solche Reise schien unendlich lang und mühsam.
»Aber ich muß nur in den Südlichen Finsterwald«, protestierte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht mehr. Jetzt müssen wir nach Silvanost, damit ich mich Meister Calotte zu Füßen werfen kann.«
Sturm runzelte verständnislos die Stirn.
»Der Zauberer«, erklärte sie trocken. »Wie du dich vielleicht erinnerst, Junge, ist mein Geliebter immer noch eine Spinne.«
Sie standen da und starrten einander an.
»Es… es tut mir leid, Lady«, murmelte Sturm. »Um so mehr, als mein Weg nur bis zum Südlichen Finsterwald führt. Die fernen Grenzen von Silvanost sind, fürchte ich, jenseits meiner… meiner Möglichkeiten. Ich habe keine Zeit. Ich werde vielleicht sogar verfolgt.«
Er hustete und räusperte sich.
»Unsinn«, sagte sie mit kalter, gepreßter Stimme. »Silvanost könnte am anderen Ende der Welt sein, und du müßtest mich trotzdem hinbringen. Das verlangt deine Ehre. Wie sagt ihr noch? Est Sularis oth Mithas’?«
Sturm nickte widerstrebend. »›Die Ehre ist mein Leben.‹ Aber woher weißt du – «
Sie lachte bitter. »Daß du zum Orden gehörst? Wenn es ums Schwert geht, ist keiner so unbesonnen wie ein solamnischer Jüngling. Du kannst in deinen Finsterwald ziehen und dort erledigen, was du mußt, aber ich komme mit. Und hinterher bringst du mich nach Silvanost. So einfach ist das. So verlangen es dein blöder Eid und Maßstab.«
Das ist eine Prüfung, dachte Sturm mit wachsender Angst. Das Elfenmädchen starrte ihn wütend, aber unschuldig an. Schließlich kann der Herr der Wildnis so leicht mit den Jahreszeiten spielen und sie wechseln lassen – warum sollte er keine Verbündeten haben? Fremde, aus dem Elfenvolk und wer weiß was für anderem Volk, die seinen Befehlen willig Folge leisten.
Spielt sie nicht auch Flöte?
Und woher sollte eine Elfe vom solamnischen Eid wissen, den der Maßstab so auslegt, daß Schwachen und Hilflosen geholfen werden muß?
Argwöhnisch schaute er das Mädchen an, das die Augen nicht niederschlug. Sie schien alles andere als schwach und hilflos.
Und doch würde Vertumnus es wissen, würde mich an Eid und Ehre messen, würde mich weiter prüfen…
Er schüttelte den Kopf. Was wußte der Herr der Wildnis schon von Ehre? Was scherte der sich schon darum? Es war lächerlich, solche verqueren Verbindungen zu ziehen und ein grünes Komplott hinter dem Zwischenfall zu sehen.
»Tut mir leid«, begann Sturm.
Und ein tobender Schmerz zuckte durch seine Schulter, gegen den alle früheren Schmerzen nur ein leises Zwicken und Kitzeln gewesen waren.
Das ist der Tod, dachte er wieder, als er vor dem Elfenmädchen in die Knie ging. Es ist mein Zuspätkommen, meine Feigheit, meine Ehrlosigkeit…
Und er dachte nichts mehr. Das Elfenmädchen schüttelte ihn ziemlich unsanft wach.
Benommen sah Sturm zu dem Mädchen hoch, bis ihm alles einfiel: der Kampf mit der Spinne, der Zorn des Mädchens, ihre Geschichte und ihre Bitte, seine Ablehnung…
Und der Schmerz, der darauf gefolgt war, stechend, zerreißend und weißglühend in seiner verletzten Schulter.
»Na schön«, murmelte er mit trockenem Mund und kratzender Kehle. »Also nach Silvanost. Aber denk dran, erst in den Südlichen Finsterwald.«
Bevor das Mädchen etwas erwidern konnte, war Sturm aufgestanden und hatte sich mit schnellem, geübtem Schwung ihre Sachen auf die Schulter geladen.
Der Schmerz in seiner Schulter war wunderlicherweise völlig verschwunden. Das überraschte ihn nicht. Bei der ganzen Begegnung hier im Wald hatte er Vertumnus’ Hand gespürt, bei dem ganzen Abend voll Kampf, Musik, Versprechen und Mondlicht.
Sturm ächzte etwas unter dem Gewicht des Bündels. Plötzlich war die Last fünfmal so schwer, die Straße fünfmal so lang. Er dachte an Silvanost. Er dachte an die lange Reise über das Khalkistgebirge, an der Grenze zu Neraka durch die Schicksalsberge nach Sanction, dann hinunter nach Bled und nach Süden in den großen Wald. Immer zwischen Räubern und Ogern hindurch, wie er gehört hatte. Beinahe hoffte Sturm, daß Vertumnus ihn am ersten Frühlingstag umbringen würde. Sie hieß Mara, und ihre Geschichte war die einer Kagonesti-Elfe, voller Magie, verbotener Liebe und Verhängnis.
»Vor vier Jahren ist es losgegangen«, erzählte sie auf Sturms Frage hin, als die beiden aus dem Wäldchen herauskamen. Es war früh am Morgen, und die Sonne, die über den Osthorizont blinzelte, war ihr Orientierungspunkt.
Sturm verlagerte das Gewicht des Gepäcks auf seinem Rücken. Obwohl die Sonne gerade erst aufging, war er jetzt schon müde, denn er war die ganze Nacht, beladen mit Mögen-es-die-Götter-wissen-was-für-Sachen, durch den Wald gelaufen. Mara, die Luin am Zügel führte, folgte ihm, und hin und wieder hatte er ganz in der Nähe das beunruhigende Geräusch gehört, wie eine Spinne von Ast zu Ast kletterte.
»Vor vier Jahren?« fragte er träge. Müde versuchte er, aufmerksam zu bleiben. Es fiel ihm schwer.
»Unten in Silvanost, wo die blonden, braunäugigen Hochelfen herrschen. Cyren war ein Calamon, Sproß einer der höchsten Familien, während ich nur die Magd seiner Cousine war.«
»Verstehe«, sagte Sturm. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich verstand.
»Hindernisse von Anfang an. So daß die Sache nie einen geraden Verlauf nehmen konnte«, erklärte Mara.
Sie machte eine Pause, als würde sie sich erinnern. Sturm hörte, wie die Vögel hinter ihm aus den Lärchen aufflogen, weil sie etwas aufgeschreckt hatte – ohne Zweifel besagter Sproß.
»Wir sind uns«, fuhr Mara fort, »beim großen Friedensfest zum ersten Mal begegnet, bei dem Fest, das an die Unterzeichnung der Schwertscheidenrolle erinnert. Es findet jedes Jahr statt, und jedes Jahr ist es wie etwas ganz Neues. Der Wald füllt sich mit unvorstellbar vielen Lichtern, und zwischen den Bäumen leuchten Fackeln, die in Qualinost und Ergod entzündet wurden.«
Mara seufzte. »Es ist ein grandioser Abend. Wie du dir vorstellen kannst, werden die Frauen aus dem Königshaus, alle von der Tochter bis zur Dienerin, vor den Blicken der Männer bewahrt, weil… nun, weil es einen unglücklich machen kann.«
Sie wurde rot und zog gedankenlos an Luins Zügeln. Die Stute wieherte und senkte widerspenstig den Kopf.
»Es war ein unvergleichliches Fest damals«, sagte Mara träumerisch. »Ich erinnere mich an seine Augen – an Cyrens natürlich. Er stieg aus dem Kanu, stand etwas unsicher am flachen Ufer des Thon-Thalas und schloß sich fast augenblicklich dem Traumtanz an, dem fünften und schönsten Tanz des Festabends. An seinem Tanzen konnte man erkennen, daß er ein adliger Qualinesti war, aber als die Cellos erklangen, sah ich ihm lange in die Augen. Braun waren sie und so tief wie der Wald, und sein Blick so klar, daß man meinen konnte, er würde nie die Augen schließen, würde nicht einmal blinzeln, wenn er in die Mittagssonne starrte. Obwohl ich die Augen seither nur dreimal gesehen habe, erinnere ich mich so genau an sie wie an die Lichter im Wald oder die schrägstehenden Sterne der Mishakal – die Sterne, die ich monatelang beobachtet habe, während ich auf die eine Nacht in fünf Jahren gewartet habe…«
Sturm sackte in sich zusammen. Bei Maras Erzählung schien der Weg in den Finsterwald länger und länger zu werden.
»Aber genug davon«, beschloß Mara. »Du hast gefragt, wie es zu dem gekommen ist, was gestern abend stattfinden sollte.«
Sturm verlagerte wieder das Gewicht des Bündels. Spinneneier? Felsbrocken? Häuser? Was war in diese Decken und Blätter und Spinnweben eingeschnürt?
»Lord Cyren mochte mich auf Anhieb«, sagte Mara. »Im wechselnden Licht machte er mir zum Lied der Harfe und des tiefen Cellos mit Blicken den Hof. Aber ich war ein Dienstmädchen, meine Familie Kriegsbeute. Und obwohl Cyren gut aussah, verdrängte ich jeden Gedanken an eine Verbindung zwischen uns, denn das war einfach unvorstellbar. Und zudem war er ein merkwürdiger Exot – fast ohne Geschichte, denn er kam von den äußersten Grenzen des Waldes, und keiner seiner vielen Cousins hatte ihn je gesehen, nur wenige hatten überhaupt von ihm gehört.«
Schweigend wanderten sie weiter. Nach einer Weile erzählte sie weiter.
»In den nächsten Tagen schickte er mir Botschaften – auf kleinen Blätterbooten, wie Kinder sie als Spielzeug machen. Er ließ seine Botschaften auf dem langsam fließenden Thon-Thalas flußabwärts treiben, wenn ich hüfttief im Wasser stand, um die Kleider meiner Herrin zu waschen. Seine Worte waren neckisch und frech und verführerisch – er wollte mich zu sich locken.
Cyren schrieb, es gäbe eine Brücke am äußersten Westrand des Waldes. Wenn ich einverstanden wäre, mit ihm fortzugehen, sollte ich ihn im Mondlicht an der Brücke treffen. Wir würden gemeinsam über die Staubebenen davonreiten – in ein Land, wo kein Unterschied zwischen Kagonesti und Silvanesti gemacht wird, in dem die Leute Hochelfen nicht von Wildelfen unterscheiden können.«
»Solche Länder gibt es«, gab Sturm zu. »Ich glaube, Solamnia gehört durchaus dazu.«
»Selbst die Ritter können Elfen von Spinnen unterscheiden«, erwiderte Mara bitter. »Aber das kommt später.
Vorläufig sei gesagt, daß Cyren Calamon vom Königshaus jeden Tag seine grüne Flotte den Thon-Thalas hinuntersegeln ließ, doch jede Nacht kehrte ich in den Turm meiner Herrin zurück, ohne auf seine Briefe zu antworten. Es gehört sich nicht für ein Mädchen, so… unüberlegt zu handeln. Er drängte und drängte, bis ich wußte, daß er es längst gelassen hätte, wenn seine Absichten unehrenhaft gewesen wären. Da willigte ich ein, mich mit ihm zu treffen – nicht an der Brücke, wo der Wald endete und die wilden, freien Länder jenseits unserer Grenzen winkten, sondern an einem sichereren Platz, an der Fähre westlich von Silvanost. Das war ein Ort, der außer Sichtweite der Marmorbauten lag, in denen König Lorac und seine Tochter im Sternenturm leben, und doch war es ein weniger… riskanter und versteckter Platz als alles, was mein neuer Freund mir vorgeschlagen hatte.
Unsere Freude machte uns dumm. Obwohl unsere Begegnungen vorsichtig und sogar anständig verliefen, hat uns jemand gesehen, und vielleicht«, fügte sie zweideutig hinzu, »war dieser Jemand eifersüchtig. Und jemand hat die Geschichte von unseren Stelldicheins im Königshaus verbreitet. Ich bekam andere Arbeit, und meine Herrin zog in hochliegende Gemächer im Sternenturm um. Für sie war es eine Ehre – diese hohlköpfige, kleine Gans glaubte, ihre Wichtigkeit würde mit der Höhe steigen. Ihr wurde nie so recht bewußt, daß ihre neue Stellung am Hof irgend etwas mit ihrer Dienerin zu tun haben könnte. Aber für mich war es eine Qual.
So litten wir beide monatelang einsam vor uns hin. Beide sehnten wir uns nach einer mitternächtlichen Flucht an einen Ort, wo Herkunft und Abstammung nichts mehr zählen.«
»So einen Ort gibt es nicht!« rief Sturm aus, wurde aber sofort still, weil er sich über seine heftige Reaktion wunderte. Mara schien nichts zu bemerken, denn sie war in Gedanken bei ihrer Geschichte.
»Hier wird die Geschichte noch düsterer, Solamnier. Denn Cyren durfte den Turm nicht betreten, und die hohen Fenster waren außerhalb seiner Reichweite, solang er nicht die Flügel eines Vogels hatte oder klettern konnte…«
»Wie eine Spinne?« fragte Sturm.
»Ja, wie eine Spinne«, nickte Mara. »Du verstehst den Plan, oder? Tja, sieh es als das, was es war – ein törichtes Risiko. Wie seit Tausenden von Jahren führte die Liebe das unkluge Herz zum Zauberer. Cyren ging zu Meister Calotte, in den dunkelsten Teil des Waldes, wo grau und fensterlos der Turm von Waylorn liegt, dessen Schatten sich mit den Schatten der Weiden und Espen mischt, bis alles Licht, ob Sonne oder Mond, von Blatt und Zweig und Knospe abgeschirmt wird. Es heißt, die Schmetterlinge dort wären schwarz und die Eichhörnchen blind, weil es so dunkel ist, daß sie sich nur nach Geruch und Gehör orientieren, so daß ihre Augen seit Generationen nicht mehr gebraucht werden.«
Sturm unterdrückte ein Lächeln. Für ihn klang das märchenhaft, dieser dunkle Wohnsitz des Zauberers. Aber er hörte zu, wie Mara das traurige Ende der Geschichte vortrug.
Unter scheinbarer Hilfsbereitschaft hatte Meister Calotte offenbar seine eigene Neigung zu Mara verborgen. Er war ein alter Elf und, soweit das Mädchen gehört hatte, unaussprechlich häßlich, so daß er so wenig hoffen konnte, sie zu gewinnen. Dem alten Calotte hätte auch kein Zauber helfen können, denn das Haus der Mystiker konnte feststellen, ob ein Wesen bezaubert oder herbeigerufen oder anderweitig verzaubert war, und die Silvanesti erkannten eine durch Hexerei zustande gekommene Heirat nicht an. Aber mit Geschick und Umsicht schien dem alten Magier alles möglich.
»Es war leicht«, erklärte Mara wütend, als sie und Sturm nachmittags auf einer felsigen Anhöhe mitten in der Steppe Rast machten. »Leicht, einen vertrauensvollen Cyren, der verzweifelt zu ihm kam, zu betrügen. Leicht, jemanden, der freiwillig dazu bereit ist, in eine beliebige Kreatur zu verwandeln. Leicht war es auch für Cyren, an der Wand des Sternenturms bis zu dem Fenster hochzuklettern, wo ich wartete.«
Mara lächelte und streckte auf dem harten Boden die Beine aus. Sturm stand neben ihr und starrte über die Solamnische Ebene, wo er weit im Osten den Dunst und das Schimmern von Wasser zu erkennen glaubte. Waren sie in der Nähe des Vingaard, oder waren das jene Luftspiegelungen, von denen Reisende aus Burg Thelgaard oder der Stadt der verlorenen Namen immer wieder berichteten?
»Zuerst habe ich mich erschrocken. Wenn eine Spinne, die doppelt so groß ist wie du, auf deinem Fensterbrett auftaucht und dich zirpend hinauswinkt, wärst du auch vorsichtig.«
Sturm nickte. »Vorsichtig« war nicht das Wort, das ihm eingefallen war.
»Aber Cyren hat mir schnell zu verstehen gegeben, daß er keine gewöhnliche Spinne, sondern mein verwandelter Geliebter war.«
»Wie hat er das geschafft?« fragte Sturm, der sich ein Lächeln verbeißen mußte, denn er stellte sich vor, wie das Tier mit seiner schrillen, nichtmenschlichen Stimme Liebeslieder sang oder mit seinen Spinnweben Maras Namen schrieb.
»Er hat eine Art Leiter gesponnen. Ein Webgerüst, wie es die Druiden nennen, denn darauf spinnen die Tiere ihre Netze von Baum zu Baum. Es sind komplizierte Speichen und Spiralen. Aber dieses Webgerüst war nur eine Leiter. Sie führte von meinem Fenster aus sechzig oder siebzig Fuß am Turm hinab in die Tiefe, in die dunklen Äste darunter. Bei Branchala, hatte ich eine Angst!« lachte sie.
»Es war eine mondlose Nacht, so daß ich ungesehen herunterklettern konnte, doch daher habe auch ich nichts gesehen. Als ich einen Fuß unter den anderen setzte, war es, als würde ich durch Giftschlangen waten, aber das nächste, was ich weiß, ist, wie meine Füße das Gras des Waldes berührten und Cyren nach Westen zum Turm von Waylorn stürmte. Er hielt an, drehte sich um und spann einen Faden hinter sich, den ich aufhob, um ihm zu folgen wie… wie deine Stute dem Zügel.
So liefen wir durch den Wald. Kein Auge sah mich, kein Ohr hörte mich, bis wir den Thon-Thalas überquerten, durch ein Waldstück kamen, das ich nicht kannte, und eine Lichtung vor dem Turm erreichten.«
Sie erschauerte bei der Erinnerung daran.
»Sofort als ich sah, daß der Zauber von Meister Calotte stammte«, sagte sie, »fürchtete ich um uns – besonders um den armen Cyren. Denn ich hatte auch die Blicke des Zauberers schon bemerkt, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen, und ich befürchtete, daß seine Hilfe uns teuer zu stehen kommen würde. Und so erfuhren wir auch augenblicklich, wie wir bezahlen sollten.«
Mara stand auf. Indem sie Luins Zügel aufnahm, zeigte sie Sturm, daß die Rast vorbei war und daß es Zeit zum Weiterwandern war. Sie gingen den Hügel hinunter, gefolgt von der munteren Luin und dem Rascheln der Spinne im hohen Gras, während das Elfenmädchen den letzten, dunkelsten Teil der Geschichte erzählte.
»Wie du dir sicher denken kannst, Solamnier, weigerte sich der Zauberer, Cyren zurückzuverwandeln. Er saß bequem in der Astgabel einer Eiche, die so schwarz und verfault und düster war wie sein eigenes Herz.
›Mara‹, sagte er, ›meine süße Mara. Du weißt genau, wie Prinz Cyren wieder die Gestalt annehmen kann, die du so liebst, und du kennst den Preis sehr genau.‹«
»Schuft«, murmelte Sturm.
»Cyren hätte ihn an Ort und Stelle angegriffen!« rief Mara aus. »Er hätte ihn in Stücke gerissen und kaltes Gift in seine Wunden geträufelt, wenn ich ihn nicht zurückgehalten hätte. Aber der Tod von Meister Calotte, so glaubten wir, würde den armen Cyren für immer in die Gestalt einkerkern, in der du ihn heute siehst.«
Sturm warf einen zweifelnden Blick auf die Elfe. Nachdem er selbst mit Cyren gekämpft hatte und gesehen hatte, wie das Tier plärrend in den Wald geflüchtet war, fragte er sich, ob es Mara wirklich schwergefallen war, das rachedurstige Wesen aufzuhalten.
»Inzwischen«, sagte Mara, »sind wir schlauer. Aber damals verließen wir Silvanesti, weil es für uns beide kein sicherer Ort mehr war. Ich hatte schließlich dem Willen des Königshauses getrotzt, genau wie der arme Cyren. Doch sein Schicksal war schlimmer, denn seine neue Gestalt machte ihn zur Beute für jeden Jäger von der Hecke bis zur Bucht von Balifor.
Zwei Jahre wanderten wir umher, stets auf der Suche nach einem Weg, den Zauber von Meister Calotte aufzuheben. Wir reisten zu Zauberern und Schamanen, im Süden bis nach Eismauer, im Westen bis zum Turm von Wayreth in Qualinesti, dann auf einem anderen, schwierigen Weg durch Bloten und Zhakar und Khurikhan zurück, wo Elfen und Spinnen gleichermaßen unerwünscht sind. Im dritten Jahr hielten wir uns in den Ebenen von Abanasinia auf, wo wir eine Zeitlang beim Stamm der Que-Shu lebten. Ihre Seherin, die Häuptlingstochter, war noch ein Kind, doch sie hatte die Fallsucht und erlebte tiefe Trancen, in denen die Prärie zu ihr sang und die Sterne sich über ihr zu Spirale und Harfe formten.«
»Wahre Prophezeiungen also«, stellte Sturm fest.
Mara nickte. »Diese… diese Goldmond«, fuhr sie fort, »sagte uns, daß der Zauber nur durch Musik zu brechen sei, wenn die Monde sich genau über diesem Ort in der Solamnischen Ebene vereinen würden.
Also warteten wir hier, Cyren und ich. Es verging über ein Jahr. In dieser Zeit lernte ich, auf der Flöte zu spielen, die das Mädchen mir gegeben hatte, und die Monde liefen durch die Zeichen von Hiddukel, von Kiri-Jolith, vom dunklen Morgion – immer auf dem Weg zu der einen Nacht, der Krönung eines fünfjährigen Kreislaufs, in der die Monde sich im Zeichen der Mishakal vereinen und heilende Veränderung möglich wird.«
Mara blieb auf dem Weg nach unten stehen. Sturm ging noch ein paar schwere Schritte weiter, denn das Bündel auf seinen Schultern lastete schon wieder auf ihm. Schließlich blieb er stehen und drehte sich um, weil er weder Stimme noch Schritte von ihr hörte.
Zornig und klein im Licht des frühen Nachmittags stand sie da. Verzweiflung malte sich auf ihrem Gesicht, und obwohl ihre Wut auf Sturm beim Erzählen irgendwie verflogen war, sah sie ihn mit erneut wachsendem Ärger an.
»Diese Nacht«, sagte sie kalt, »diese überaus glücksverheißende Nacht, in der die Monde sich vereinen und die Musik erklingt und der Zauber sich hebt – diese Nacht war gestern!«
Schroff zog das Elfenmädchen, dessen Gedanken offensichtlich anderswo waren, an den Zügeln und ging weiter den Hügel hinunter. Luin, die aus ihrer Trägheit gerissen war, schnaubte und folgte ihr. Sturm ging den beiden voran und grollte innerlich.
»Immer mache ich alles falsch, wenn ich mich einmische«, murmelte er. »Es war… es war doch ein verständlicher Fehler!«
Er sah zu Mara zurück, die ihn nicht zu hören schien.
»Zu Fuß über steinige Ebenen«, flüsterte der Junge durch zusammengebissene Zähne, »mit einer Last von zwei Tonnen und einer jammernden Begleiterin, mein Pferd lahm und irgendwo hinter uns eine riesige Giftspinne. Das ist keine Aufgabe für Helden, finde ich, aber wenigstens kann es nicht mehr schlimmer werden.«
Bevor einer von ihnen es bemerkte, zogen Wolken auf, als wenn ein Gott die Luft mit einer schnellen Handbewegung aufgerührt hätte. Plötzlich war das Land schwer und gespannt, und der Wind hatte einen leicht metallischen Geruch. Dann traf der erste Tropfen das Bündel auf Sturms Rücken, der nächste seine Nase. Luin wieherte erwartungsvoll, worauf sich vom Turm des Oberklerikers bis hin zum Vingaard die Schleusen des Himmels auftaten. Der Fluß toste wild in dem heftigen Regenguß.