Sie stellten sich in der Mitte des Saals auf, der grüne Junge und der legendäre Ritter des Schwerts. Sturm nahm seinen Schild und spielte mit seiner Waffe. Das Weidenschwert war leichter, als er gedacht hatte, und fühlte sich beruhigend vertraut an.
Das solamnische Gottesurteil war ein alter, ehrenwerter Brauch, der seit dem Zeitalter der Macht und den Tagen von Vinas Solamnus geheiligt war. Wenn gegen einen Ritter des Ordens Anklage erhoben wurde, konnte der Mann seine Unschuld mit dem Schwert verteidigen. Wenn er siegte, so galt seine Unschuld für die Zuschauer und den Orden als erwiesen, ganz gleich, welche Beweise gegen ihn vorlagen. Wurde er jedoch besiegt, so zwang ihn die Ehre, sein Verbrechen zu bekennen und die entsprechende Strafe des Maßstabs hinzunehmen.
Sturm schluckte nervös. Es war eine wichtige Sache, und er mußte gegen einen wichtigen Schwertritter antreten. Und doch keimte einen Augenblick lang Hoffnung in ihm auf. Es gab merkwürdigere Dinge im Orden, als daß ein Anfänger einen Meister im Moment des Schwankens oder Träumens erwischte.
Selbst Sturm waren schon merkwürdigere Dinge widerfahren.
Er wippte auf den Fersen und erwartete seinen berühmten Gegner.
Langsam und zuversichtlich zog Bonifaz seine weißen Handschuhe an. Er hob den Siegesschild hoch, den er vor zwanzig Jahren im Turnier gewonnen hatte. Die gekreuzten Klingen auf dem Schild waren verblichen und von den vergeblichen Schlägen und Stößen von tausend Waffen zerkratzt. Nachlässig hob der Ritter das Schwert auf, das er benutzen würde, untersuchte es auf Risse und wirbelte es wie ein Zauberspielzeug in der Hand herum, um sein Gewicht zu prüfen. Verächtlich drehte er sich zu Sturm um, dessen zeremoniellen Gruß er kalt und brüsk zurückgab.
»Wir sind bereit, Fürst Alfred Merkenin«, verkündete Bonifaz, der sich auf alte, solamnische Art verneigte, wie es die Schwertritter seit der Zeit von Vinas Solamnus taten. Zögernd hob Fürst Alfred die Hand und senkte sie wieder, worauf die Gegner einander in der Mitte des Ratssaals in immer engeren Spiralen zu umkreisen begannen.
Sturm machte den ersten Angriff, wie jeder wußte, denn der grünen Hand mangelt es an Geduld. Er trat vor und stieß blitzschnell und gekonnt nach Bonifaz.
Der ältere Ritter schnaubte, trat beiseite und schlug Sturm in derselben Bewegung das Schwert aus der Hand, so mühelos, als würde er eine Fliege verjagen. Sturm jagte seinem Schwert nach, das an einer dunklen Wand liegenblieb und seiner Hand spöttisch den Griff entgegenstreckte.
Er riß das Schwert hoch und drehte sich um. Bonifaz lehnte lachend am langen Ratstisch, wo er mit seinem Schwert spielte.
»Angriff Feuerklinge wäre wirklich begeistert«, höhnte er, »seinen Sohn geschlagen und waffenlos im Turnier zu sehen.«
Mit einem Wutschrei stürzte sich Sturm wie ein riesiges, zorniges Tier auf Bonifaz. Der Ritter wartete ruhig und wich erst im letzten Moment aus, stellte Sturm ein Bein und zog ihm mit der Breitseite des Weidenschwerts eins über. Hals über Kopf stolperte der Junge über einen am Boden liegenden Band des Maßstabs und prallte gegen einen Sekretär, dessen zierliche Beine zerbrachen.
»Bringt es zu Ende, Bonifaz«, rief Gunthar mit rotem Gesicht und blitzenden Augen. »Bei den Göttern, bringt es zu Ende und laßt den Jungen in Frieden!«
Bonifaz nickte theatralisch mit fröhlichem, aber giftigem Lachen. Er fuhr herum und schritt auf den benommenen Sturm zu, der unsicher und zaghaft sein Schwert erhob.
Sturm schwirrte der Kopf, und seine Hände waren schwer, als er sah, wie Bonifaz’ Schwert um ihn herumtanzte und ihn an Brustharnisch, Helm und Knien traf. Es war wie ein Hornissenschwarm, ein Schwarm Klesche, und wie er auch abwehrend den Schild hob oder mit dem Schwert parierte, Bonifaz’ Waffe war über ihm oder unter ihm oder hinter ihm und biß und schlug und zwickte.
Zweimal trafen ihre Klingen aufeinander, so daß der knirschende Aufprall von Holz auf Holz im Ratssaal nachhallte, als wenn ein Baum auseinanderbrach. Beide Male wurde Sturm zurückgestoßen. Beim zweiten Mal geriet er ins Taumeln.
Bonifaz war nicht nur schneller und erfahrener, sondern auch doppelt so stark wie sein Gegenüber.
In die Ecke gedrängt, geschlagen, zerkratzt, bedrängt und beschämt drückte sich Sturm an die hinterste Wand des Raums. Sein Rücken klebte an der doppelten Eichentür, die hinter ihm verschlossen worden war, als die Audienz begann.
Er konnte nirgends hin, nirgendwo den Schlägen entkommen. Während seine Gedanken verzweifelt im Kreis gingen und er im Hagel der Schwertschläge unterging, suchte Sturm nach irgend etwas – egal was –, um seinen Feind zurückzudrängen.
Der Drakonier, dachte er zuletzt.
Was habe ich da noch gemacht…
Ihm flog das Schwert aus der Hand. Nach einem kräftigen Schlag von Bonifaz’ Waffe wirbelte es vierzig Fuß weit durch die Luft, knallte auf den Steinboden der Ratshalle und zerbrach dabei. Im selben Augenblick lag die Weidenspitze an seiner Kehle, und er blickte Bonifaz in die Augen, die blau und leblos waren wie der wolkenlose Winterhimmel.
»Urteil, Fürst Alfred«, forderte Bonifaz. Er war noch nicht einmal außer Atem.
»Der Rat entscheidet den Zweikampf zugunsten von Fürst Bonifaz von Nebelhafen«, erklärte Fürst Alfred mit dünner, geistesabwesender Stimme.
»Pack deine Sachen, Bürschchen«, zischte Bonifaz. »Solace soll im Frühling recht malerisch sein.«Die vier kamen schweigend aus dem Ratssaal. In den Gängen duckten sich die Pagen und Knappen in die Alkoven, und Diener gingen ein bißchen zu eifrig wieder an ihre Arbeit. Keiner fragte nach dem Ausgang des Zweikampfs oder auch nur, weshalb überhaupt gekämpft worden war. Der Rat war in solchen Angelegenheiten zu strengstem Stillschweigen verpflichtet, und weder Alfred noch Gunthar würden je etwas über diesen Nachmittag erzählen.
Aber jeder würde es wissen. Wenn sie es nicht von Sturms tief rotem Gesicht und aus der gnadenlosen Befriedigung in den stahlblauen Augen von Fürst Bonifaz ablesen konnten, würden sie es aus dem detaillierten Bericht von Derek Kronenhüter erfahren, der alles, was geschehen war, durch das Schlüsselloch beobachtet hatte.
Und sie würden hören, was Derek und Bonifaz sie hören lassen wollten: »Ein echter Schwertritter hat sich Angriff Feuerklinges Sohn vorgenommen und ihm Respekt vor seinen Vorgesetzten beigebracht.«
Das würden sie zu hören bekommen, dachte Sturm, als er am nächsten Morgen seine Sachen packte. Er stellte sich vor, wie sich die Nachricht beim Frühstück verbreiten würde, wie die verschwörerischen Jeoffreys hinter ihrem Schinken sitzen und darüber lachen würden.
Langsam wickelte er Schild, Brustharnisch und Schwert in schweres Segeltuch. Sie hatten ihm besser gedient als er ihnen. Vielleicht würde er sie irgendwann wieder anlegen dürfen. Vorerst aber wollte er die Niederlage tragen wie der Ritter, der er inständig zu sein hoffte.
Vor dem Rat sollten alle Anklagen und Verdächtigungen beigelegt werden. Nach den Vorschriften für ein Gottesurteil hatte Bonifaz von Nebelhafen alle Vorwürfe mit seinem Schwert ausgeräumt. Während Sturm die letzte Elle Tuch um sein Schwert wickelte, glaubte er langsam wirklich, daß Bonifaz unschuldig war.
Denn die Worte des Drakoniers konnten leicht Verleumdung gewesen sein, einfach aus einem zufällig gehörten Namen und einem tückischen Herzen geboren…
… und was Jack Derry anging…
Ach, in den letzten zwei Wochen hatten Traum und Vorstellung sich so gründlich mit dem Wirklichen vermischt, daß…
Er schüttelte den Kopf. Bonifaz war schuldig, ganz gleich, was Eid und Maßstab sagten. Er wußte es. Und doch hatte Sturms Schwäche im Umgang mit dem Schwert seinem Feind die Freiheit gesichert. Der Kampf war vorbei. Ganz gleich, was er oder Alfred oder Gunthar über diese Sache dachten, Bonifaz hatte sich als unschuldig erwiesen – durch seinen Schwertarm und die alten solamnischen Prozeduren von Statut und Tradition.
Nachdem er sich die Rüstung auf die Schultern gelegt hatte, ging Sturm durch die verschlungenen Gänge zum Hof. Es war wie an dem Tag, an dem er in den Südlichen Finsterwald aufgebrochen war. Kein Winken, kein Zuspruch, nicht einmal ein freundlicher Blick. Alle wichen ihm eilig aus, als Sturm zu den Stallungen ging.
Gunthar hatte letzte Nacht noch mit ihm geredet und ihn halbherzig bedrängt, im Turm des Oberklerikers zu bleiben. Er war erleichtert gewesen, als Sturm darauf bestand fortzugehen, und hatte sich verlegen stammelnd mit einem kurzen Handschlag verabschiedet.
Er hatte dem Jungen auch nichts von Fürst Stephan Peres erzählt.
Fürst Stephan hätte mich besser entlassen, dachte Sturm, als er die ungeschickten Bemühungen des alten Reza überprüfte, der nicht recht bei der Sache war, als er Luin sattelte. Es hätte Scherze und freche Worte von den Zinnen gegeben, vielleicht sogar ein weises Wort, auch wenn nur die Götter wußten, welche Weisheit in diesem irregeleiteten Unfug zu finden war…
Aber Fürst Stephan war… anderswo. Als Reza mit dem Sattel kämpfte, kam er endlich zur Sache, und die bizarre Geschichte vom Abschied des alten Ritters nahm langsam Gestalt an.
Anscheinend hatte Fürst Merkenin an dem Abend nachdem Sturm vom Turm in den Finsterwald aufgebrochen war, eine Schar unerfahrener Jäger für eine Hirschjagd in den Flügeln des Habbakuk zusammengestellt. Fürst Adamant Jeoffreys jüngere Zwillingsbrüder hatten sich sofort gemeldet, weil sie unbedingt beim Hofrichter Eindruck schinden wollten, ebenso Derek Kronenhüter, der aufgrund plötzlicher Verpflichtungen von Fürst Bonifaz in Burg Thelgaard unbeaufsichtigt war. Angesichts dieser drei jungen Löwen hatte Alfred Fürst Gunthar als »mäßigenden Einfluß« eingeladen. Gunthar hatte abgewinkt, weil er dieser Gruppe weder Jagdglück noch die Aussicht auf gute Kameradschaft einräumte, aber Fürst Stephan bekam das Angebot zufällig mit und schloß sich der Jagdpartie auf der Stelle an.
»Wo haben sie gejagt, Reza?« fragte Sturm. »Und was hat das mit Stephans Abschied zu tun?«
»Alles zu seiner Zeit«, sagte Reza, der sich an den Türpfosten lehnte, während Sturm seine Kleider in eine Satteltasche stopfte. Rezas Gedanken waren ganz bei seiner Geschichte. »Erst mal ging es so weiter: Sie waren also bunt gemischt, diese Jäger von Fürst Alfred, und als sie noch beschlossen, mich als eine Art Treiber mitzunehmen… na ja, sie waren nicht gerade die Besten für ihr Vorhaben. Fürst Alfred entschied, daß wir in den Hartwald reiten würden, denn dieser Wald wäre genug für solche wie die Jeoffreys.«
Sturm grinste. Der Hartwald war ein gut fünf Morgen großer Wildpark nicht weit von der Stelle, wo die Flügel in die Verkhus-Hügel übergingen. Früher hatte er diese Gegend bewundert und es geliebt, dort jagen zu gehen, doch nach seiner Reise in den Südlichen Finsterwald kam sie ihm zahm und künstlich vor – ein schön angelegter Garten mit Bäumen und Tieren.
»Nun, wir kamen gegen Sonnenaufgang dort an«, fuhr Reza fort, »und haben bald drei Stunden rumgelärmt, haben Eichhörnchen, Mücken und Stare aufgescheucht, aber nich’ die Spur von Hirschen. Hat Fürst Alfred bestimmt geärgert – diese trampligen Jeoffreys, Derek Kronenhüters laute Stimme, Fürst Stephan, der dauernd in sein altes Jagdhorn tutete und mit seiner Rüstung in den Büschen hängenblieb. Also hat Fürst Alfred die Jagd schließlich abgeblasen, da war es noch nich’ mal Mittag. Wir sind umgekehrt und wollten aus dem Park raus.«
Reza beugte sich vor, wurde leiser und lachte. »Und da hat der Wald sich langsam verändert. Die Bäume trieben Blätter und Blüten, aus dem Boden drangen Wurzeln, und von den Wipfeln fielen Früchte.«
»Früchte?« fragte Sturm ungläubig.
»Oh, die Jahreszeiten sind ja schon eine ganze Weile durcheinander, Meister Sturm«, erklärte Reza. »Ihr habt es bestimmt schon selbst bemerkt. Jedenfalls war es, als hätte der Park plötzlich beschlossen, ein richtiger Wald zu werden, ein Silvanost oder… ein Finsterwald, Meister Sturm. Und er wandte sich gegen uns alle – die Jungens hat er wirklich zu Tode erschreckt. Der junge Meister Unverzagt Jeoffrey wurde abgeworfen, als diese kleine, gelbe Eidechse aus dem Vallenholzbaum seinem armen Pferd auf die Nase fiel. Der andere Jeoffreyzwilling – Meister Balthasar, oder?«
»Beaumont, Reza«, stellte Sturm richtig, der den Fuß in den Steigbügel setzte. Der Sattel rutschte etwas, so daß er stirnrunzelnd zurücktrat.
»Meister Beaumont… reitet durch ein Spinnennetz und erschreckt sich und dreht vollends durch, als die Spinne, die das Ding gebaut hat, daumengroß ist und ihn beißt.« Sturm grinste befriedigt.
»Also wendet dieser Meister Beaumont sein Pferdchen und galoppiert davon und ward nicht mehr gesehen, erst drei Tage später, als wir schon alle dachten, der Wald hätte ihn verschluckt. Als er zurückkam, war er kaum zu erkennen, weil doch sein Gesicht von den Spinnenbissen so angeschwollen war.«
Reza zog den Sattelgurt fester und trat zurück, um sein Werk zu begutachten.
»Aber was war mit Fürst Stephan, Reza?« fragte Sturm.
»Erst mal zu Meister Derek«, drängte Reza schlau und zwinkerte Sturm zu.
»Na schön. Du weißt, da kann ich nicht widerstehen. Was passierte Derek?«
»Ist gegen einen Baum gelaufen.«
»Gegen einen Baum?«
»Einen Dornbaum. Meister Derek sagt, er hätte ihn angesprungen, bevor er sein Pferd anhalten konnte. Ein niedriger Ast hat ihn am Kinn erwischt, und das nächste, was er weiß, ist, wie er in der Krankenstation im Turm aufwacht – zwei Tage später.«
Sturm hätte am liebsten laut gelacht. Das wog beinahe die Trauer über seine Niederlage und seinen Abschied auf.
»Aber, Reza«, beharrte er, als er wieder ernst wurde und Luin seine Sachen auf den Rücken schnallte, »was war denn nun mit Fürst Stephan? Es macht mich traurig, daß ich ihm nicht auf Wiedersehen sagen kann.«
»Das war völlig verrückt«, sagte der Diener. Er taumelte unter dem Gewicht der Rüstung, bis Sturm sie ihm abnahm und auf die Stute lud. »Denn die ganze Zeit spielte Musik.«
»Musik!« rief Sturm erschrocken aus.
»Wir haben sie alle gehört, aber keiner wußte, wo sie herkam.«
Sturm runzelte die Stirn. Er wollte etwas sagen, schwieg jedoch, als der alte Reza weiter schwatzte.
»Sie war überall. War eine Flöte, und alle Zweige wiegten sich zu der Melodie, und alle Vögel piepsten mit. Es dauerte eine Minute, da antwortete Fürst Stephan schon mit diesem abgegriffenen, alten Jagdhorn, und zum ersten Mal klang es wie ein Musikinstrument, und die Vögel antworteten auch auf das Horn.
Dann tat sich ein grüner Pfad in den Wald auf. Ich habe ihn gesehen. Er fing gleich vor meinen Füßen an. Hat sich zwischen den Bäumen durchgeschlängelt wie ein Teppich zum Podest bei einer Krönung. Fürst Stephan fangt an zu lachen, als hätte ihn der rote Mond erwischt. ›Endlich!‹ sagt er dann. ›Endlich doch noch etwas!‹ Und reitet den Pfad runter und lacht wie ein Irrer.«
»Hat denn keiner versucht – «, fing Sturm an, doch der alte Diener wollte unbedingt seine Geschichte zu Ende bringen.
»Als er davongaloppiert, sprießt es grün aus seiner Rüstung, und er lacht, und sein altes Lachen übertönt das Vogelgezwitscher und die Flöten. Fürst Alfred setzt ihm nach und will ihn überholen und das Pferd zügeln, aber Fürst Stephan wehrt ihn ab und sagt: ›Nein‹, sagt er. ›Nein. Darauf warte ich seit Jahren‹, und lacht und lenkt sein Pferd in dieses dichte Eichenwäldchen, und es war, als hätten sich die Bäume vor ihm geöffnet, um ihn einzulassen, und dann wieder so schön und still geschlossen, daß der Wald genauso aussah wie immer, als wir ankamen. Den ganzen Nachmittag haben wir Fürst Stephan gesucht, gerufen und die Hunde losgelassen, aber die paar, die der Wald nicht verschluckt hatte und die nicht weggerannt waren, waren inzwischen etwas schreckhaft, wie Ihr Euch vielleicht vorstellen könnt…«
Sturm nickte gedankenverloren und stellte sich Fürst Stephan vor. Es war eine verrückte Geschichte, aber wie so viele verrückte Geschichten, die er gehört hatte, kam sie ihm irgendwie vertraut vor. Er würde das Verschwinden von Fürst Stephan Peres nicht betrauern, hatte noch nicht einmal vor, nach dem alten Mann zu suchen. Es lag etwas Weises in seinem Abgang, als hätte sich Fürst Stephan plötzlich umgesehen und festgestellt, daß er den Orden überlebt hatte.
Reza erzählte noch den Rest – all die Verwicklungen, wie jeder jeden für das Unglück im Wildpark verantwortlich gemacht hatte. Als Sturm sich in den Sattel schwang, trat er zurück.
»Nicht wenige von uns, Meister Sturm«, sagte der Alte, der Luin beruhigend die Flanke klopfte, »freuen sich auf ihr fünfundachtzigstes Jahr. Wer weiß, was es bringt?«
»Ich hoffe, meines wird so sein wie das von Fürst Stephan Peres«, entgegnete Sturm und lenkte Luin zum Tor.
Sturm war schon zwei Tage nach Solace unterwegs. Durch die Verkhus-Hügel ritt er auf demselben Weg in die Solamnische Ebene wie vor zwei Wochen, einem Jahr, einem ganzen Leben. Begleitet wurde er nur von dem wachsenden Gefühl, etwas verloren zu haben – etwas Unwiederbringliches, das wie eine nur halb erinnerte Melodie in den Tiefen seines Gedächtnisses schlummerte.
Jetzt bedeutete der Hartwald ihm etwas, als er südlich daran vorbeiritt. Grün und ordentlich schimmerte er am Horizont, und einen kurzen Augenblick dachte Sturm daran, nach Norden zu ziehen und das kleine Gebiet nach dem verschwundenen Fürst Stephan zu durchkämmen.
Er entschied sich dagegen. Hatte Stephan sie nicht alle weggeschickt und sich freiwillig in grüne Gedanken und ein grünes Gewand gestürzt?
Jedem das Seine, dachte Sturm grummelnd, doch er wußte, das traf es nicht.
Er ritt die Ebene hinunter und ließ den Fluß in sicherer Entfernung im Osten liegen. Die Doppeltürme von Kastell di Caela ragten eine Zeitlang im diesigen Osten auf, doch Sturm hatte nicht den Wunsch, dorthin zurückzukehren. Er galoppierte weiter, an Burg Thelgaard vorbei über die Grenze nach Südland, wo ihn ein Tagesritt nach Kargod und an die See brachte. Die ganze Zeit wartete er sehnsüchtig auf eine Musik, die jedoch nie erklang.
Die Rüstung ließ er sicher versteckt in ihrer Stoffhülle, bis er auf der Straße von Schallmeer war. Es war, wie Raistlin gesagt hatte: Der Norden konnte einen bei lebendigem Leibe fressen. Solamnia war eine gefährliche Gegend für Solamnier, und noch gefährlicher für den strengen, bedrängten Orden.
Er blickte nicht zurück, als er aufs Meer fuhr.
Nachdem er am nordöstlichen Zipfel von Abanasinia an Land gegangen war, war die Reise einfach, denn die vertrauten Landmarken erhoben sich wie Nebel oder Musik über einer fernen Ebene. Da waren die Berge – das hügelige Ostwall-Gebirge und dahinter der schroffe Kharolis –, und einmal sah er auch ganz am Westhorizont einen Stamm aus den Ebenen mit seiner geheimen Magie in den Sonnenuntergang ziehen.
»Heimat«, flüsterte er und bemühte sich, etwas Heimatliches zu spüren – Sehnsucht oder einen tiefen, brennenden Schmerz. Er fühlte keine derart romantischen Dinge. Lediglich Vertrautheit überkam ihn. All das hatte er schon einmal gesehen, und von hier an konnte er sich nicht mehr verirren.
Er war nirgends daheim, entschied er. Nicht in Solamnia. Nicht hier.
Heimkehren bedeutete allerdings frohes Wiedersehen. Als Sturm nach Solace kam, stand Caramon mit Hammer und Nägeln auf dem Dorfplatz und legte gerade letzte Hand an ein komisches Gerüst, eine Bühne.
Caramons Begrüßung war kurz und begeistert. Nachdem er sich aus der Umarmung des hünenhaften Mannes gewunden hatte, rieb Sturm sich die Schulter und begutachtete das Werk.
»Ist für Raist«, erklärte Caramon stolz, während er sich ohne Umschweife ins Gras setzte und nach einem Wasserkrug griff. »Damit wir ein bißchen Reisegeld verdienen.«
Der große Mann zwinkerte und imitierte mit den Fingern unschuldig einen gerissenen Kaufmann.
»Wie aufregend«, sagte Sturm, der seinen alten Freund ernst ansah. »Und wo soll die Reise hingehen, Caramon?«
»Zu den Türmen der Erzmagier«, flüsterte Caramon, der Sturm näher heranwinkte. »In den Wald von Wayreth. Zur ersten großen Zauberprüfung für meinen Bruder.«
»Muß man dahin nicht… eingeladen werden, Caramon?«
»Das ist es ja gerade, Sturm«, erwiderte der große Mann. »Raistlin ist eingeladen. Man hat ihn lange geprüft und hält ihn für geeignet!«
Caramon nickte strahlend zum anderen Ende des Platzes. Dort drehte sich im funkelnden Sonnenlicht eine schmale, murmelnde Gestalt in roten Roben, auf deren Händen und Kleidern dunkle Vögel tanzten.
Geprüft und als geeignet befunden? Sturm sah dem jungen Zauberer nachdenklich beim Üben zu. Taschenspielereien, wahrscheinlich, und vielleicht ein Haufen Spiegel und Rauch. Wenn man sich weiterwagt, ist es nicht mehr so einfach, denn die ganze grüne Welt ist trügerisch, und aus Orten jenseits deiner Vorstellungskraft pfeift sie dir eine geheimnisvolle Musik vor.
Es ist eine Musik, die mich fast umgebracht hätte. Aber trotzdem habe ich immer noch Eid und Maßstab.
Sturm runzelte die Stirn. Dieser Gedanke war nicht gerade tröstlich.
Aber ich hätte anderes haben können, wenn ich gewollt hätte. Da draußen muß man wählen, Raistlin. Und das beste an der Zauberkunst ist, daß du wählen kannst.
Letzten Endes kannst du immer wählen. Ich hoffe, du wählst ehrenhaft.
Ohne das Eintreffen seines alten Freundes zu bemerken, streckte der junge Zauberer die Arme aus. Er zitterte im Frühlingswind, als eine Wolke vor die Sonne zog, und kletterte die Stufen der eben fertiggestellten Bühne hoch. Für Sturm war es wie ein Geburtstagsspielchen, wie die Zauberschau eines schlauen Kindes, als Flaschen, Vögel und blaues Feuer durch die Luft wirbelten und verschwanden.
Bald hatte sich eine Zuschauermenge versammelt. Bewohner aus Solace, Bauern aus dem Umland, selbst ein oder zwei Zwerge und ausgerechnet ein neugieriger Kender, der hinter den Leuten stand und sich den Hals verrenkte, um zu sehen, was vorne auf der Bühne geschah. Irgendwo in diesem Menschenauflauf, in dem sich die kehligen Bemerkungen der Zwerge mit dem breiten Dialekt der Landbevölkerung und dem südlichen Singsang aus Haven und Tarsis und dem fernen Zeriak mischten, erhob sich der sehnsüchtige, vielversprechende Klang einer Flöte.