Jetzt konnte er zum Turm zurückkehren. Von den höchsten Ästen eines fernen Vallenholzbaumes beobachtete Bonifaz mit einem Fernrohr, wie Sturm festgenommen wurde. Er sah, wie der Junge die Hand ausstreckte, wie der Hauptmann sie ergriff, wie die freundschaftliche Geste steif wurde und wie die Miliz sie alle abführte, die Pferde, die kleine Elfe und Feuerklinge. Alle nach Dun Ringberg, wo die alte Druidin einem wütenden Tribunal vorstehen würde.
Der beste Schwertritter von Solamnia zog seinen dunklen Mantel fester um sich und erbebte vor Freude. Umrahmt vom bedrohlichen, roten Mondlicht sah er von weitem aus wie ein riesiger Rabe oder ein unaussprechliches Wesen mit Fledermausflügeln, das hoch oben in dem mächtigen Baum kauerte. Der Frühlingswind legte sich, und in den oberen Zweigen herrschte wieder tiefster Winter. Es war totenstill, und die Atemwolken von Bonifaz stiegen gespenstisch in die mitternächtliche Luft.
Soll die alte Hexe den Jungen haben, dachte er. Wie eine Spinne glitt er den Baum hinunter.
Sollen sie ihn hängen oder kochen oder was auch immer sie in den Barbarendörfern von Lemisch machen. Egal was, es wäre völlig angemessen.
Und vielleicht würde es ja den Rat im fernen Turm, wo Eid und Maßstab im Schrank verstaubten, aus einem Tiefschlaf reißen. Der Tod seines Schützlings konnte Gunthar Uth Wistan vielleicht zu einem längst überfälligen Feldzug nach Süden verleiten. Dann würden die Menschen in Dun Ringberg, im Finsterwald, in ganz Lemisch und später in Trot und Neraka erfahren, was es hieß, Orden und Maßstab zu mißachten.
Aber selbst wenn Fürst Gunthar sich nicht aus dem Turm bewegte, wenn der Junge nicht gerächt und Lemisch verschont bliebe, wenn diese Nacht das Ende der Angelegenheit wäre, würde Bonifaz trotzdem zufrieden sein. Denn der jahrelange Krieg wäre endlich vorbei.
Fürst Bonifaz von Nebelhafen sprang in den Sattel seines schwarzen Hengstes. Mit der Geschmeidigkeit dessen, der vom Pferd aus auf engstem Raum gekämpft hat, wendete er schwungvoll sein Pferd und ritt in vollem Galopp zum Vingaard, während seine Gedanken bei seinem ältesten Schmerz weilten.
Sie waren zusammen aufgewachsen, Angriff und Bonifaz. Ob mit dem Schwert oder mit dem Buch, in der Reitkunst oder im Listenreichtum, sie standen einander in nichts nach, und auch von ihren ersten Feldzügen gegen die Oger von Blod bis hin zu den Grenzkriegen mit den Männern aus Neraka gab es kaum Unterschiede zwischen ihnen. Nur ihre Treue zu Eid und Maßstab war nicht dieselbe.
Bonifaz lebte für den Orden und brauchte dessen Regeln und Rituale wie die Luft zum Atmen. Buch um Buch des Maßstabs mit seinen ausführlichen Kapiteln, Listen, Besonderheiten und Ausnahmen hatte er ehrfürchtig auswendig gelernt, bis seine Kameraden ihn lächelnd »den nächsten Hofrichter« genannt hatten.
Sie hatten ihn belächelt, weil sie ihn bewunderten. Dessen war sich der junge Bonifaz sicher gewesen, und während seiner Knappenzeit und den ersten Rängen der Ritterschaft war seine Selbstsicherheit aus der Buchstabentreue erwachsen, aus den Gesetzen und Grenzen, die der Orden gepflegt hatte, seit der Zeit, als Vinas Solamnus zum ersten Mal die Feder in die Tinte getaucht hatte.
Er verstand nicht, wieso Kodex und Maßstab für seinen Freund Angriff mehr ein Spiel waren. Manchmal litt Bonifaz und fürchtete, er würde Angriff noch hinter sich lassen müssen, weil seine eigene Belesenheit und Ernsthaftigkeit in der Rose der wahren Ritterschaft erblühen würden und Angriff nur noch ein Hanswurst wäre, eine warnende Geschichte für zukünftige Ritter, daß Erbe, Aussehen und Großmut einen noch nicht zum Ritter machten. Er erwartete wirklich so etwas, doch auch Angriff wurde Knappe und dann Ritter der Krone, der im vierten Feldzug gegen Neraka ausgezeichnet diente.
Einen schwächeren Freund hätte es geärgert, mit ansehen zu müssen, wie dieses brillante Talent seine Zeit mit Spiel und Musik und Poesie vergeudete, mit allem anderen als Pflicht und Ehre. Einen schwächeren Freund hätte das geärgert, doch Bonifaz hielt zu Angriff, denn er hoffte entgegen allen Anzeichen, daß der Erbe der edlen Linie der Blitzklinges, Sohn von Emelin und Enkel von Bayard Blitzklinge sich der Disziplin zuwenden und dadurch glücklich werden würde, daß jede seiner Taten mit dem unbeugsamen Recht des Maßstabs im Einklang stand.
Bonifaz hoffte. Zumindest bis sein Freund aus dem Osten zurückkehrte.
Einen Monat war der frisch verheiratete Angriff in der Einöde von Estwilde vermißt gewesen, und alle bis auf seine junge Braut Ilys hatten ihn aufgegeben. Bonifaz hatte persönlich mit dem hübschen Mädchen auf dem Rittersporn gestanden, als ihre Augen nach einer durchweinten Woche rot und verschwollen waren, und sie ermahnt, die Tränen zurückzudrängen und den grünen Mantel der solamnischen Witwen anzulegen.
Natürlich hatte er sie nicht aus Haß bedrängt. Schließlich war es eine schwere Zeit für den Orden, in der der Gegner überall seine Kräfte sammelte. Er hatte nur die Chancen ausgerechnet, die gar nicht gut standen.
Sie hatte pflichtschuldig genickt und einen Mantel bei der Weberin bestellt. Es war bereits Frühling, als die Näherin die letzten Stickereien fertigstellte, das überlieferte Zeichen des Phönix. Zwei Tage bevor Ilys offiziell den Mantel anlegen sollte, um nach Kodex und Maßstab als Witwe zu gelten, kam Angriff Feuerklinge über die Solamnische Ebene und ritt langsam durch die Flügel des Habbakuk zu den Toren des Turms hoch. Er war so mit Schlamm verschmiert, daß Pferd und Reiter nicht mehr zu unterscheiden waren, und die ersten Posten hätten ihn fast mit dem Bogen angegriffen, weil sie ihn für einen Zentauren hielten.
Ilys verbarg den Mantel ganz unten in ihrer Mitgifttruhe aus Zedernholz, aus der sie ihn fünfzehn Jahre später wieder herausholen und anlegen würde, und rannte mit den anderen zu den Toren, um ihren Mann zu begrüßen. Auch Bonifaz war zutiefst erleichtert, hatte sich ehrlich und uneingeschränkt gefreut…
Bis er seinem erschöpften Freund die Zügel aus der Hand nahm und die Veränderung in seinen Augen sah.
Irgend etwas war in der Einöde von Estwilde geschehen. Angriff würde nie darüber reden, genausowenig wie über seine Heimreise, doch die respektlose Art, wie er Eid und Maßstab behandelte, entsetzte Bonifaz. Gesetz und Leben waren anscheinend Spielzeug für den lebenslustigen Angriff, der von jenem Tag an nur noch das absolute Mindestmaß an Ergebenheit zeigte. Er verweigerte den Gehorsam, wenn er die Kommandos seiner Vorgesetzten dumm oder gnadenlos fand, er vergab auch seinen Fußsoldaten leichtherzig ihren Ungehorsam, er sprach sich gegen Gottesurteile aus und mied alle zeremoniellen Anlässe, »weil sie ihn nicht mehr interessierten«.
Noch mehr entsetzte Bonifaz, daß Angriff Feuerklinge weder auf Autoritäten noch auf das Schicksal hörte. Der Rat verschloß vor seinem Fehlverhalten die Augen, denn seine Schwertkunst stand in höchster Blüte. Das war das einzig passende Wort dafür. Angriff Feuerklinge vermochte mit einem Schwert Dinge, von denen man bisher – und auch seitdem – noch nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Er und Bonifaz hatten beide beim selben Meister gelernt. Die Bewegungen ihrer Schwerter waren im Grunde gleich, aber in den Händen von Angriff Feuerklinge geschah etwas mit einer Waffe. Es war, als wenn das Schwert seinen eigenen Weg ging, dem Angriff folgte. Etwas Freies, Waghalsiges war in seine Art zu kämpfen eingegangen, und keine von Bonifaz’ altehrwürdigen Regeln und klassischen Bewegungen konnte dem standhalten.
Bonifaz sah neiderfüllt zu und wartete auf eine Zeit und einen Ort, wo er seine Kunst mit der seines Freundes messen konnte.
Seine Chance kam beim Mittsommerturnier im Jahre 323 nach der Umwälzung. Zweihundert Ritter hatten sich in Burg Thelgaard versammelt, und zum ersten Mal standen sich Angriff und Bonifaz beim Wettkampf der Schwertkunst, der stets am zweiten Turniertag stattfand, im Ring gegenüber.
Bisher war es Brauch gewesen, daß immer nur einer der drei großen solamnischen Schwertmeister zu diesem Turnier antrat – ein Jahr Angriff, das nächste Jahr Bonifaz, im dritten Jahr Gunthar Uth Wistan. Das war eine stillschweigende Übereinkunft, um auch den anderen Ritter eine faire Chance zu geben und die zerstörerische Rivalität zu vermeiden, die bei vielen Künsten in den obersten Rängen aufkommt.
Dreidreiundzwanzig war Angriffs Jahr. Auch wenn es so manchen Ritter überraschte oder gar verärgerte, daß Bonifaz sich für das Turnier aufstellen ließ, war er vom Maßstab her dazu ebenso berechtigt wie jeder andere. Deshalb blieb das Murren leise, und obwohl Gunthar Uth Wistan sich beim Festmahl am Vorabend weigerte, mit Bonifaz zu sprechen, war Angriff freundlich und großzügig und scherzte über die Möglichkeit, daß sie sich morgen beim Turnier gegenüberstehen könnten.
Bonifaz blieb still. In dieser Nacht schlief er unruhig, träumte von blitzenden Klingen im Sonnenlicht und erwachte am nächsten Morgen mit schon müden Armen, da er die ganze Nacht in seinen Träumen gekämpft hatte.
Angriff hatte offenbar tief und fest geschlafen – wie ein starker Baum im tiefsten Winter. Er erwachte gut gelaunt, sang ein altes Lied über Breitschwerter und wilde Tiere und lud Bonifaz gleich zum Frühstück in sein Zelt ein. Während des Essens konnte Bonifaz Angriff nicht ansehen. Wenn sein alter Freund nach einem Stück Obst oder Brot griff, erschrak er wie beim plötzlichen Rascheln einer Viper im trockenen Laub, und an diesem Morgen war seine Meditation schal und nutzlos.
Die Arena war so, wie es die Tradition vorschrieb. Der völlig leere, ebene Kreis im Garten hatte zwanzig Fuß Durchmesser. Nur ein riesiger Olivenbaum reckte seine Äste über den Platz. Bis am Nachmittag die Schwerter aufeinandertreffen sollten, war es ein friedlicher, ruhiger Ort, doch für Bonifaz summte es dort erwartungsvoll und unterschwellig drohend wie ein ganzer Bienenstock.
Die ersten Turnierrunden waren freundschaftliche Routine. Hervorragende Schwertkämpfer standen blutigen Anfängern gegenüber, die schließlich dankbar waren, daß die Turnierregeln stumpfe Waffen vorschrieben, die leichten Schwerter der Sommerspiele.
Bonifaz’ erster Gegner erwischte den großen Ritter fast noch im Halbschlaf und erzielte erst einen Punkt, dann noch einen, während sein berühmter Mitstreiter besorgt in die Menge blickte.
War das wegen Angriff Feuerklinge? So wurde gemunkelt. Der ganze Turm war aus dem Häuschen, weil vermutet wurde, daß die beiden am Nachmittag gegeneinander antreten würden. Es wurde spekuliert und gewettet. Würde Angriffs Talent oder Bonifaz’ Regeltreue gewinnen? Würde die ungezügelte Inspiration des Mystikers über die schöne Exaktheit und die geschulte Disziplin des Meisters siegen?
Bonifaz richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen gegenwärtigen Gegner. Mit rascher, fast mathematischer Gründlichkeit streckte er den jungen Mann zu Boden und setzte seinem hilflosen Gegner die abgerundete Schwertspitze an die Kehle. Schwungvoll wandte Bonifaz sich ab, um wieder jeden Gedanken an Angriff Feuerklinge zu verdrängen, als er sich die Pause gönnte, die er nicht brauchte, und den zweiten Gegner dieses Wettstreits erwartete.
Der nächste Kampf hätte schon zehn Minuten eher beginnen sollen, als sich Gunthar Uth Wistan, Fürst Feuerklinges Sekundant, gefolgt von Angriff selbst, durch die murmelnde Menge drängte. Genauso schnell, wie er dann den Kreis erreichte, besiegte Angriff seinen Gegner, den jungen Medoc Inverno von Zerika. Es war ein so schnelles, unerwartetes Manöver, daß es an Verrücktheit grenzte. Anstatt Sir Medocs ersten, linkischen Stoß zu parieren, wich Angriff vor dem heranstürmenden Jungen einfach nach rechts aus, wechselte das Schwert in die linke Hand und entwaffnete Medoc mit derselben, anstrengungslosen Bewegung, mit der er ihn auch zu Fall brachte und stellte.
Dann trat Angriff zurück und salutierte vor seinem Gegner, der mit finsterem Gesicht auf dem Rücken lag. Überwältigt von der Leichtigkeit und Schnelligkeit des Ganzen, mußte Medoc plötzlich lachen.
»Es ist schon selten«, sagte er, »daß ein Ritter später lachend berichten kann, wie er von einem Schwertmeister so gründlich besiegt wurde! Ich habe Euch einen guten Kampf geliefert, Fürst Angriff!«
Angriff lachte mit ihm und beugte sich mit ebenso großzügiger wie respektvoller Geste vor, um dem jungen Ritter hochzuhelfen. Um den ganzen Ring herum erhob sich Gemurmel und höflicher, sprachloser Applaus.
Bonifaz schäumte fast über. Ihm juckte es in den Fingern seiner Schwerthand. Der Mann hatte Eid und Maßstab lange genug lächerlich gemacht, und aus Medocs Lachen zu schließen, war diese Lächerlichkeit wie eine Krankheit, die sich auf die beeindruckten Jungritter übertrug.
Nach der ersten Runde waren noch acht Ritter übrig. Wieder warf man die Lose in den Helm und schüttelte, doch diesmal ging ein enttäuschtes Stöhnen durch die Logen und Balkone, wo die aufgeregten Zuschauer saßen. Denn im nächsten Kampf würden Bonifaz und Angriff gegeneinander antreten. Das war eine Begegnung, die alle gerne aufgeschoben hätten. Diesen spannendsten Kampf hätten sie lieber am Abend gesehen, wenn im Laternenlicht die Glühwürmchen und die Zikaden herauskamen, und dann wäre der beste Schwertkämpfer von Solamnia siegreich aus dem letzten Kampf hervorgegangen. Doch nun würde die spannendste Paarung des Turniers bald vorüber sein, so daß die restlichen Kämpfe überflüssig waren, nur noch ein sanfter Regen nach dem Aufruhr von Donner und Blitz.
Dennoch aber bahnte sich ein Sturm an. Die Luft knisterte, als die beiden Männer sich zum Wettstreit rüsteten – Angriff mit seinem Sekundanten Gunthar Uth Wistan und Bonifaz mit seinem, dem jungen, finsteren Tiberio Uth Matar, dessen Familie zehn Jahre später mit Wappen und allem aus Solamnia verschwunden sein würde. Der Sturm nahte, als die vier Männer in den Kreis traten und die beiden Streiter die Lederhelme und die Leinenhemden des Turniers anlegten.
Das lange, ruhige Vorspiel endete, die Männer stellten sich am Rand des Kreises auf – Angriff und Gunthar ganz nach Osten, Bonifaz und Tiberio nach Westen, und alle warteten regungslos, bis die Trompete erklang, um den Beginn des Zweikampfes zu verkünden.
Angriff sauste wie der Wind durch Licht und Schatten des Kreises. Bonifaz wirbelte wild herum und griff ihn zweimal an, doch Angriff schien überall zu sein, nur nicht im Bereich von Bonifaz’ Schwert. Zweimal trafen sich die Klingen, und beide Male mußte Bonifaz taumelnd zurückweichen und sein Bestes geben, um den darauf folgenden Angriff abzuwehren.
Innerhalb von Sekunden wußte Bonifaz, daß er geschlagen war. Er hatte zu lange mit dem Schwert gekämpft, um nicht zu wissen, wann er unterlegen war, wann sein Gegner geschickter, schneller, stärker und waghalsiger war, als er es sich überhaupt vorstellen konnte. Von Anfang an war der Kampf nur eine Frage der Zeit. Wenn Bonifaz sich selbst übertraf und bravourös kämpfte wie nie zuvor, konnte er die Niederlage vielleicht drei oder vier Minuten hinauszögern.
Oh, daß ich mich wenigstens nicht zum Narren mache, schärfte er sich verzweifelt ein. Was auch geschieht, ich will nicht wie ein Narr dastehen! Dann griff er seinen Gegner mit einem letzten, hoffnungslosen Stoß an, wobei er sein Schwert wie eine Lanze führte.
Im nächsten Moment war es, als wären seine heimlichen Gebete erhört worden. Aus irgendeinem Grund – ob aus Übermut oder Fairneß oder einfach aus Gnade, würde Bonifaz nie verstehen – sprang Angriff in die Luft, ergriff einen tiefhängenden Zweig des Olivenbaums und schwang sich geschickt aus dem Weg, um nach einem sauberen Überschlag gut zehn Fuß von seinem vorherigen Platz entfernt zu landen. Ein paar von den jüngeren Rittern applaudierten begeistert, doch auf der Tribüne herrschte größtenteils Schweigen, so verdutzt und überrascht war man.
Doch Bonifaz, der am Rand des Kreises stand, fühlte sich von den Dummheiten seines alten Freundes bloßgestellt.
»Verfahrensfrage an den Rat!« rief er, wobei er sein Schwert zum alten Zeichen des Waffenstillstands hob.
»Stattgegeben, Fürst Bonifaz«, erwiderte Fürst Alfred Merkenin verwirrt, der sich vom rotbeflaggten Balkon, der den Turnierrichtern den besten Blickwinkel bot, zu Bonifaz herunterbeugte. Mitten in einem Turnier eine Verfahrensfrage aufzuwerfen, war gestattet, wenn es auch selten vorkam. Es geschah normalerweise, um eine Verletzung der Regeln der Fairneß zu beanstanden.
So auch hier. Bonifaz kramte rasch in seinem beträchtlichen Erfahrungsschatz nach einem bestimmten Satz, auf den er in seinem jahrelangen Studium des Maßstabs mal gestoßen war, eine Regel des Maßstabs für das Turnier, die besagte…
Natürlich. Stand es nicht im fünfunddreißigsten Band?
»Holt mir doch bitte den… fünfunddreißigsten Band des kodifizierten Maßstabs.«
Stirnrunzelnd schickte Fürst Alfred einen Knappen nach dem Buch. Der Kampf ruhte, während die zuschauenden Ritter wild spekulierten, welche verstaubte Regel Fürst Bonifaz von Nebelhafen wohl aus seinem Gelehrtenärmel ziehen würde. Angriff sprang wieder zu dem Zweig hoch und kletterte in eine knorrige Gabelung des großen Baums, wo er Platz nahm, um die Rückkehr des Knappen zu erwarten.
Das Buch wurde – von zwei Gelehrten in roten Roben begleitet – zum Balkon gebracht. Fürst Stephan nahm das Buch so vorsichtig, als wäre es aus Glas, und reichte es Fürst Alfred, der es auf seinen Schoß legte und Bonifaz erwartungsvoll anschaute.
Bei meinem Eid und dem Maßstab, laß es so dastehen, wie ich mich erinnere, dachte der Kämpfer. Laß es dastehen, ach, laß es dasein, laß es dasein…
»Es gibt«, fing Bonifaz an, »wenn ich mich recht entsinne… einen Absatz im Maßstab für das Turnier…«
Er machte eine Pause, um den umstehenden Rittern vielsagend zuzunicken.
»… der sich am Ende des fünfunddreißigsten Bands des Maßstabs von Solamnia befindet und in den ersten siebzig Seiten des sechsunddreißigsten Bands weitergeführt wird… einen Absatz über den vollständigen Erhalt des Kreises beim Schwertturnier.«
»Das stimmt allerdings«, antwortete einer der Weisen, der zustimmend sein kahles Haupt neigte. »Band fünfunddreißig, Seite zweihundertachtundsiebzig, Absatz sieben, Artikel zwei.«
Fürst Alfred beugte sich über das Buch, um eilig darin zu blättern. Angriff rutschte von der Gabelung herunter, setzte sich mitten in den Kreis und legte den Kopf schief wie ein Falke und hörte aufmerksam zu.
»Im Ring des Schwertes«, las er vor, »ob an Mittsommer oder zur Sonnenwende oder beim Julfest, hat jeder Ritter, der mitten im Wettkampf oder im Gottesurteil den Kreis verläßt, sein Schwert verwirkt.«
Alfred Merkenin sah perplex auf.
»Schon wahr, hier ist vom Kreis die Rede«, gab er zu, »aber ich verstehe nicht, was das hier zu bedeuten hat.«
»Ganz einfach«, erklärte Fürst Bonifaz, der mit neuer Zuversicht zur Kreismitte ging. »Als Fürst Angriff Feuerklinge sich von der Erde entfernt hat, um… um meinem Angriff auszuweichen, hat er sich zugleich aus dem Kreis entfernt, so daß ihm die Strafe des Maßstabs gebührt.«
Seine letzten Worte wurden mit Schweigen aufgenommen. Gunthar Uth Wistan trat verärgert vor, doch Angriff hielt ihn mit halb belustigtem, halb erstauntem Ausdruck zurück.
»Ihr könnt ihn im fairen Kampf nicht besiegen«, murrte Gunthar, »darum schlagt Ihr ihn mit… mit Mathematik!«
Bonifaz’ Blick wich nicht von Fürst Alfred Merkenin. Schließlich würden er und der Rat nach der Auslegung durch die Weisen über die Sache entscheiden. Alfred starrte jeden der beiden Streiter ein letztes Mal lange an, um dann den roten Vorhang vor den Balkon zu ziehen.
Ihre Entscheidung dauerte keine Stunde. Als der Vorhang aufging, sah Bonifaz die bedrängte Miene von Fürst Stephan Peres. Fürst Bonifaz lächelte, denn er erwartete einen guten Ausgang für sich.
Angriff saß ruhig und abwesend auf dem Boden. Er blickte in das Blätterdach hinauf, durch das die Dämmerung und die ersten Abendsterne zu sehen waren.
»Der Rat ist… geteilter Meinung über diese Sache«, verkündete Alfred den umstehenden Rittern, wobei er einmal tief Luft holte. »Wenn der Rat sich nicht entscheiden kann, sollen nach dem Maßstab des Turniers die Schriftkundigen des Maßstabs, nach Band zwei, Seite siebenunddreißig, Absatz zwei, Artikel drei, das Urteil fällen.«
»Artikel zwei«, stellte der kahle Gelehrte richtig, der ehrfürchtig die Augen schloß.
Alfred seufzte und nickte. Mit resignierter Stimme sagte er: »Artikel zwei des erwähnten Maßstabs von Solamnia…«
»So daß schließlich und endlich«, fuhr der zweite Weise fort, ein kleiner, grauhaariger Mann, dessen dicker Bart über seine rote Robe fiel, »die Akademie von Solamnia zugunsten von Fürst Bonifaz von Nebelhafen entscheidet. Fürst Angriff Feuerklinge soll für den fraglichen Kampf seines Schwertes verlustig sein.«
Er wußte, es war kompliziert und schmeckte nach rechthaberischer Wortklauberei, doch er hatte gewonnen. Fürst Bonifaz verbarg seine Begeisterung und starrte seinen Gegner ernst an. Tiberio Uth Matar war weniger klug. Er fing an, höhnisch zu kichern, und nicht einmal ein kalter Blick von Fürst Alfred persönlich brachte ihn zum Schweigen.
Angriff lächelte und ließ sein Schwert fallen. Tiberio trat in die Kreismitte, wo er getreu dem Maßstab das weggeworfene Schwert aufhob.
Fröhlich kletterte Tiberio selbst auf den Baum, brach einen knapp fußlangen, höchstens fingerdicken Zweig ab, den er Angriff Feuerklinge frech in den Schoß warf.
»Da habt Ihr Euer Schwert, Feuerklinge«, rief er spöttisch. »Der Baum, der Eure Waffe gestohlen hat, sollte Euch eine zurückgeben!«
Bonifaz rief seinen dreisten Sekundanten zur Ordnung, aber Angriff lachte nur. Langsam und selbstsicher stellte sich Fürst Feuerklinge mit dem Olivenzweig in die Mitte des Rings.
»So sei es, Tiberio«, erklärte er ruhig. »Wie ich den Maßstab gehört habe, steht nicht darin, daß der Kampf zu Ende ist. Mein Schwert ist geschlagen, aber ich noch nicht.«
Gelassen drehte er sich zu Fürst Bonifaz um. Tief in seinen dunklen Augen funkelte unendlicher Schabernack.
»Also, Bonano.« Er nannte ihn beim Spitznamen, wie er es seit dem Beginn ihrer Knappenzeit nicht mehr getan hatte. »Bringen wir es zu Ende? Mann gegen Mann und Schwert gegen Zweig?«
»Sei kein Narr, Angriff«, protestierte Bonifaz wütend und drehte sich um, um Ring und Kampf zu verlassen.
»Wenn du aus dem Ring trittst, hast du dein Schwert verwirkt«, neckte Angriff. »Band Soundso, Seite X, Absatz Y und so weiter.«
Bonifaz fuhr herum und bezähmte seinen Zorn. Neben Angriff kam er sich klein und dumm vor wie ein Junge, der mit der Rute bestraft wird. Kalt trat er mit erhobenem Schwert nach vorn.
»Verfahrensfrage«, sagte er mit drängendem, flehenden Ton. »Steht es im Einklang mit dem Maßstab, wenn der Kampf weitergeht?«
Völlig befremdet wandte sich Fürst Alfred jetzt an die Gelehrten. Zwei Köpfe, einer kahl, einer grau, wurden den Bruchteil eines Augenblicks zusammengesteckt, bevor sie sich gleichzeitig zum Rat umdrehten.
»Wir entscheiden zugunsten von Fürst Angriff«, sagten sie einstimmig.
»Überlegt es Euch, Angriff«, drängte Alfred, aber Bonifaz war sofort losgesprungen, um die mickrige Waffe mit einem einzigen, kraftvollen Schwerthieb durchzuhacken. Angriff wich aus und parierte den gewaltigen Schlag mit einem leichten Streifen seines Olivenzweigs. Da Bonifaz dem Schwung seines Schwertes folgte, ging er in die Knie. Der Helm rutschte ihm über die Augen, und irgendwo aus den hinteren Rängen erklang gedämpftes Gelächter.
Wütend richtete Bonifaz sich auf und schlug wild nach Angriff. Seine Klinge pfiff durch die Abendluft. Angriff duckte sich, kam schnell wieder hoch und schnippte seinem Gegner den Zweig ins Gesicht. Bonifaz stürmte wutschnaubend vor, ohne rechte Balance, und seine Klinge sauste an dem ausweichenden Fürst Feuerklinge vorbei. Lachend ließ Angriff den Zweig blitzschnell auf das bloße Handgelenk seines alten Freundes herunterzischen. Der Zweig brach knackend entzwei, doch Bonifaz schrie auf und ließ das Schwert fallen. Angriff bückte sich rasch nach der Klinge und drückte Bonifaz im Handumdrehen die stumpfe Spitze an den Hals.
»Ich glaube, ich habe gewonnen, Bonano«, erklärte er. »Selbst nach dem Maßstab.«Darum mußte Bonifaz Angriff umbringen. Erst nach zwölf Jahren war seine Chance gekommen, als Schloß Feuerklinge belagert wurde und das Schicksal der Garnison vom Eintreffen Agion Pfadwächters mit der Verstärkung aus Kastell di Caela abhing.
Es war Bonifaz, der den Räubern verraten hatte, welchen Weg Sir Agion nehmen würde, wie stark seine Truppen wären und an welchem Ort man die Ritter am leichtesten angreifen und vernichten konnte. Seine Worte hatten Angriff Feuerklinge jeder Hoffnung beraubt, und Bonifaz glaubte, Angriff würde sich ins Schloß zurückziehen und die Bauern bis zum letzten Mann bekämpfen.
Es war einfach gewesen, die Spuren zu verwischen. Sie hatten Schloß Feuerklinge mitten in der Nacht verlassen und waren am anderen Morgen vor Sonnenaufgang zurück. Bonifaz hatte nur einen einzigen Ritter mitgenommen, einen käsebleichen Novizen aus Lemisch, an dessen Namen er sich nicht einmal mehr erinnerte. Dazu kam noch eine Eskorte von drei oder vier Fußsoldaten. Die Soldaten waren entbehrlich: Er lieferte sie den Räubern aus, und ihre Leichen gingen in dem Blutbad unter, als die Banditen Agion auflauerten. Der Ritter war in den nachfolgenden Wochen ein praktischer Sündenbock.
Aber vor allem war Angriff Feuerklinge erledigt.
Zwölf Jahre können den Durst nach Rache bis zu einem Grad steigern, wo man alles dafür aufs Spiel setzt. Bonifaz war bereit, selbst dieser letzte Mann zu sein, der bei der Belagerung fallen würde, wenn er dadurch wenigstens Fürst Angriff Feuerklinge sterben sehen würde.
Doch selbst zum Schluß hatte Angriff sich nicht an den Maßstab gehalten. Wo ein wahrer solamnischer Befehlshaber mit dem Schloß gefallen wäre, hatte Fürst Angriff sein Leben für die Garnison geopfert, sich den Bauern ausgeliefert und sie dadurch alle freigekauft.
Einschließlich Bonifaz.
Selbst jetzt erinnerte er sich noch daran – sechs lange Jahre nachdem Angriff auf die fernen Lichter zu in den Schnee hinausgestapft war. Zwei treue Fußsoldaten waren ihm wie irre Gefolgsleute, wie Hunde, gefolgt.
Achtzehn Jahre nach jenem sonnigen Mittsommertag im Ring erinnerte sich Bonifaz deutlich an seine beiden Niederlagen.
Deshalb mußte der junge Sturm sterben. Denn die Linie von Angriff Feuerklinge mußte ein für allemal aussterben, damit alles Ungebührliche, was von dieser Familie ausging, ausgelöscht war, jeder Trotz gegen Kodex und Maßstab unmöglich war, damit so etwas nie wieder im Orden vorkommen würde.
Darüber dachte Bonifaz nach. Während sein schwarzer Hengst auf dem Weg vom Vingaard zum Turm des Oberklerikers Meile um Meile zurücklegte, legte er sich alles ganz genau zurecht, denn seine Gedanken waren hingerissen von den einsamen Gesetzen seines Herzens.