Die beiden saßen auf ihren Pferden und überblickten die Vingaardfurt.
Die Furt acht Meilen südlich von Burg Vingaard war der meistbenutzte Weg vom Westen Solamnias in den Osten. Die alten Karawanenwege kreuzten den Fluß an dieser steinigen Stelle, und in den ältesten solamnischen Lehren zu Geographie und Überlebenskunst hieß es, daß alle Wege in die Berge, Schlösser und Türme, die die alte Region schützten, stets hier über den Fluß geführt hatten.
Das war ein veralteter Lehrsatz. Es gab ein Dutzend Übergänge über den Vingaard, manche davon verborgen, manche vom Maßstab verboten, aus Gründen, die tief im Zeitalter der Macht verborgen lagen. Dennoch überquerten die Händler aus Kalaman, Nordmaar und Sanction den Fluß immer noch an der Vingaardfurt, wo die Wachen der Burg sie vor Räubern und Schlimmerem bewahrten.
Doch die Wachen mußten einen Augenblick zur Seite gesehen haben, oder der Nebel, der aus dem Fluß hochzog, mußte gemeinsam mit der besonderen Finsternis dieser mondlosen Nacht jede Sicht von den Burgtürmen unmöglich gemacht haben, denn die beiden ritten unbemerkt zu den Ufern der Furt. Die Hufe ihrer Pferde hörte man nur gedämpft, weil sie in Stofffetzen eingewickelt waren.
Der kleinere Mann beugte sich im Sattel nach vorn und nieste, denn er war das lange Reiten und die feuchte Nachtluft nicht gewohnt.
»Pst!« warnte der Größere, der nach den Zügeln seines Gefährten griff. »Mit soviel Getöse lenkst du noch einen Pfeilregen auf uns herunter, Derek Kronenhüter!«
»Ich verstehe das alles nicht, Sir«, flüsterte Derek. »Heimliche Missionen mitten in einer kalten Nacht ganz im Osten, bei unserer Abreise wird allen Dienstboten Stillschweigen befohlen, und du bedrohst mich von den Flügeln des Habbakuk bis hier, als würden wir in die Schlacht ziehen.«
»Was wir vielleicht auch tun«, erwiderte Bonifaz, der seine Kapuze zurückwarf. »Was wir vielleicht auch weit über deine Vorstellungen hinaus tun.«
Er war blasser und tat geheimnisvoller, als Derek es je zuvor bei ihm gesehen hatte. Die Blicke seiner kleinen Augen wirkten gehetzt und berechnend.
Am besten gar nicht drüber streiten, dachte der Junge, aber er blieb dennoch beim Thema.
»Du hast selbst gesagt, er wäre im Finsterwald, Onkel. Er verfault in einer Druidenzelle, hast du gesagt. Und wenn sie ihn nicht mehr einsperren wollen, dann – «
»Ich weiß, was ich gesagt habe!« fauchte Bonifaz. Er richtete sich im Sattel auf und beugte sich vor. Sein Atem stank nach Wein und etwas beängstigend Animalischem.
»Aber das reicht nicht, Derek!« flüsterte er. »Wir müssen sichergehen. Falls er doch entkommt – durch den verrücktesten Zufall oder durch eine verborgene Gabe, die erst jetzt, unter Lebensgefahr, durchbricht… nun, dann müssen wir den Weg für ihn… vorbereitet haben.«
»Diese Straße war schon vor vierzehn Tagen vorbereitet«, protestierte Derek, obwohl er wußte, daß seine Worte unbeantwortet bleiben würden.
Bonifaz strich sich unruhig die Haare zurück.
»Aber vierzehn Tage sind wie ein Jahr für das Gedächtnis von… von denen, die wir angestellt haben«, erklärte Bonifaz mit hoher, etwas zu lauter Stimme.
Derek lehnte sich stirnrunzelnd zurück und durchforschte den Nebel nach Spuren der Söldner. So war es seit heute früh gegangen, als Bonifaz ihn im Stall erwischt hatte.
»Sattle zwei Pferde«, hatte der Ritter mit kalten, gehetzten Augen geknurrt und den Jungen an der Schulter festgehalten.
»Ja… jawohl, Sir«, hatte Derek erwidert und sofort damit angefangen. Schweigend hatte er die Pferde gesattelt, weil er instinktiv wußte, daß er auf keine seiner Fragen eine Antwort bekommen würde, bis sie unterwegs wären, zu dem Ziel, das Bonifaz sich in seinen fiebrigen Plänen vorstellte.
Die Tore des Turms hatten sich hinter ihnen geschlossen, und sie waren schon mitten im Verkhus-Hügelland gewesen, als Fürst Bonifaz ihm dieses Ziel verraten hatte. Selbst da hatte er nur das Wort »Vingaardfurt« erwähnt. Der Rest war Schreien und Antreiben und Fluchen gewesen, während sie eilig durch das nasse Gras und die ungewöhnlich kalte Luft über die Ebene geritten waren, von der sich hinter ihnen Nebel erhoben hatte, bis der Turm in den Bergen nicht mehr zu sehen gewesen war.
Derek zitterte. Bis zum Frühling war es wirklich noch lange hin, ganz gleich, was der Kalender über den Zeitpunkt seines Anfangs sagte. Als nächstes wäre er von unfreundlichen Gedanken in Murren verfallen, wenn er nicht am Flußufer eine Bewegung bemerkt hätte.
»Da drüben, Sir!« flüsterte er, während er dorthin zeigte, wo die Schatten sich aus dem dichten Nebel über dem Fluß lösten. Drei gedrungene Gestalten mit Kapuze näherten sich geduckt. Wie knorrige, verkrüppelte Geister glitten sie schnell das Ufer hoch.
Bonifaz holte tief Luft. Instinktiv griff er nach dem Schwert, während sein Pferd nervös tänzelte.
Das gefällt mir nicht, dachte Derek.
Bonifaz hob die Hand, und der eine der Ankömmlinge – der Große in der Mitte – hob zur Antwort die eigene. Die anderen beiden blieben im Nebel zurück, wodurch sie kaum mehr zu sehen waren.
»Fürst Tückjäger, nicht wahr?« sagte der vordere. Es lag etwas Trockenes in seiner Stimme, das auf Jahrhunderte zwischen Steinen und Hitze hindeutete. In dieser Umgebung schien das fehl am Platz, und Derek schreckte instinktiv davor zurück, während er an den Zügeln zerrte, um sein entsetztes Pferd davon abzuhalten, vor lauter Schrecken durchzugehen.
Bonifaz blieb ruhig. »Tückjäger« war offenbar der Name, den er für sich gewählt hatte.
»Nicht so laut«, flüsterte er. »Ihr seid in Feindesland.«
Der Assassine – denn das war er, obwohl Bonifaz freundlichere Worte für die Sache benutzt hatte – lachte leise und grausam.
»Sind wir nicht in Solamnia?« fragte er. »Und seid Ihr nicht… mein Freund?«
»Du weißt, was du zu tun hast?« fragte Bonifaz knapp, während er die Kapuze wieder hochschlug.
»Vertraut mir«, zischte der Assassine. Seine Hand stahl sich zu dem Dolch an seinem Gürtel, und Derek kam diese Hand… schuppig vor, wie die Haut eines Reptils. Hinter dem Assassinen blähte sich sein Mantel unnatürlich auf.
Bestimmt nicht, dachte Derek, der seinem Pferd die Nüstern streichelte, um das aufgeregte Tier zu beruhigen. Das ist bestimmt nur eine Täuschung durch den Nebel.
»Dir vertrauen?« fragte Bonifaz. »Sag mir, was du zu tun hast und in welcher Reihenfolge. Dann reden wir über Vertrauen. Dann reden wir auch über den Lohn – das Gold, das die bekommen, die Vertrauen verdienen und schweigen können.«
»Am Oberlauf das Wasser zurückstauen«, begann der Assassine, dessen monotone Stimme verriet, daß er auswendig gelernte Anweisungen herunterleierte. »Wachtposten aufstellen. Wenn es soweit ist, kommt ein einzelner Bursche – zu Fuß oder zu Pferd, egal –, und auf seinem Schild ist ein rotes Schwert vor gelber Sonne.«
Bonifaz nickte. »Und wenn es soweit ist…?«
»Den Damm öffnen, wenn der Junge die Flußmitte erreicht«, leierte der Assassine herunter, der mit einem seltsam patschenden Geräusch von einem Fuß auf den anderen trat. »Dann besorgt der Vingaard-Strudel den Rest.«
»Und dann?«
»Kein Wort über unser Tun und unsern Handel«, war die Antwort. Dann folgte überraschend in Altsolamnisch, das auf den Lippen dieses verhüllten Verschwörers richtig verräterisch klang: »Und meine Komplizen erledigen.«
»Das Gold zu teilen, wird dann viel leichter«, scherzte Bonifaz in der altehrwürdigen Sprache, die nur für Zeremonien und Lieder benutzt wurde, und Derek merkte, wie er vor seinem Ritterherrn ebenso zurückschreckte wie vor den unförmigen Ungeheuern, mit denen dieser sich abgab.
Was ist das, dachte der Junge, dessen dümmliche Arroganz wie eine Dreckschicht unter starkem Regen von ihm abglitt. Wozu verleitet dich deine Ehre, Fürst Bonifaz von Nebelhafen?
Aber er sagte nichts. Derek Kronenhüter saß im Sattel, als das Gold – die Hälfte des besagten Goldes – vom Ritter zum Assassinen wechselte. Der Rest sollte folgen, wenn der Körper des Jungen aus dem Fluß gezogen worden war. Schweigend folgte der Knappe seinem Ritter die sanft ansteigende Uferböschung hoch und nach Norden zur Burg, wo sie für den Rest der Nacht am unschuldigen Feuer Schutz finden würden und mit der Garnison über Eid und Maßstab reden konnten.
»Aber wenn…«, setzte Derek an, doch Bonifaz wischte seine Worte mit einer ungeduldigen Geste beiseite. Sein Arm sah unter dem dunklen Flügel seines Umhangs aus wie der einer Fledermaus.
»Wer würde denen schon glauben?« fragte er mit fester, böser Stimme. »Welcher Mann von Ehre würde solchen wie ihnen mehr trauen als dem Wort eines Ritters des Schwerts?«
Er drehte sich im Sattel um und bedachte seinen Knappen mit einem kalten, abschätzigen Blick.
»Sei froh, daß der Nichtsnutz Waise ist und keine Onkel oder Vettern nach der Tat bei jedem Kronenhüter nach Rache lechzen. Wenn das der Fall wäre, kämst du auch nicht ungeschoren davon, Neffe.«
Er warf Derek einen einschüchternden Blick zu. »Denk dran, ich baue in dieser Sache auf dein Schweigen, so wie du darauf bauen kannst, daß ich gegebenenfalls, wenn es denn sein muß, absolut in der Lage bin, mit… unbequemen Zeugen fertig zu werden. Es wäre nicht das erste Mal.«
Sein Blick wurde nachdenklicher, was Derek noch weniger behagte.
Fürst Bonifaz schüttelte abrupt und heftig den Kopf, als müßte er sich von einer kaum wahrnehmbaren Musik losreißen. Er richtete sich auf und blinzelte benommen.
»Morgen kehren wir zum Turm zurück, um die letzten… Vorkehrungen für alle Fälle zu treffen.«
Auf der Solamnischen Ebene in Sichtweite der alten Burg Vingaard empfing Derek Kronenhüter seine eigenen Anweisungen. Und erfuhr, was ihm bevorstand, wenn er diese nicht befolgte.
Am frühen Abend erwachte Sturm zu Musik und zur Berührung sanfter Hände. Zwei schöne Frauen hockten wie kleine, dreiste Vögel in den dicken Zweigen der Eiche über ihm. Sie waren rothaarig und blaß und mandeläugig wie Elfen, wenn auch viel kleiner. Beide trugen dünne, silbrige Tunikas.
»Dryaden!« keuchte Sturm, dem Legenden von Bezauberung und Gefangenschaft einfielen. Er wollte aufstehen. Schnell drückten die beiden ihn fest wieder zurück.
»Pst!« flüsterte die eine, die mit ihren zarten Fingern seine Lippen zusammendrückte. Sie duftete nach Minze und Rosmarin. »Sag dem Meister Bescheid, Evanthe!«
Vergeblich versuchte Sturm, der Dryade zu entkommen, doch sie hielt ihn nur noch fester, genau wie die Wurzeln um seine Beine. Er konnte sich nicht rühren. Dann erwachte durch die Bewegung der Schmerz, der seine Brust und Schulter durchzuckte. Er erinnerte sich an die Wunde, die er erlitten hatte, den schwarzen Dorn in seiner Schulter.
Sturm sah sich nach Mara um, jedoch vergeblich. Dann begannen die bezaubernden Kreaturen neben ihm, leise und melodiös zu singen.
Ihre Stimmen rankten sich um die durchdringende Melodie der Flöte, die sich zwischen den Worten hindurchschlängelte wie ein Otter durchs silberne Wasser. Trotz seiner Verwirrung und seiner wackligen Lage merkte Sturm, wie er zu lächeln begann. Er stützte sich auf einen Ellenbogen und suchte wieder nach dem Elfenmädchen.
Vertumnus saß keine zehn Schritte entfernt still unter einer Stechpalme. Sein Blättergesicht blickte nach oben; auf der Schulter prangte das Wappen der Eule.
Sturm tastete rasch nach seinem Schwert, wobei er die Dryaden, die Wurzeln und das alte Laub aufstörte. Der grüne Mann spielte mit ernster, unergründlicher Miene weiter. Sturm rutschte und stöhnte vor Schmerz auf, als er das Heft seiner Waffe fand, doch die rührte sich nicht von ihrem Platz im feuergeschwärzten Herzen des Baums, und seine Finger glitten vergeblich über das glänzende Metall.
Inzwischen hatte der Herr der Wildnis unerwartete Gesellschaft bekommen. Aus der Deckung des umliegenden Waldes trat ein Hirsch, dann ein Dachs. Drei Raben kreisten über der Eiche und ließen sich in den hohen Ästen nieder. Eine kleine braune Lerche schloß sich ihnen an, und rund um Sturm schienen die Zweige nur so zu schwirren vor Eichhörnchen. Schließlich kam ein weißer Luchs aus den Schatten, der sich zu Vertumnus’ Füßen zusammenrollte und Sturm mit goldenen, leuchtenden Augen betrachtete.
Der Junge wollte etwas sagen, doch ihm fehlten die Worte, und der Atem stockte ihm. Wieder schoß der grausame Schmerz durch seine Wunde, bis Sturm nichts mehr sah und fühlte.»Evanthe, Diona«, befahl Vertumnus. »Macht ihn los.«
»Und dann, Sir?« fragte Evanthe. »Ihn in das Herz des Baumes legen?«
»Den Waldboden mit seinem Menschenblut tränken?« fragte Diona eifrig.
»Keine Gefangenschaft mehr«, erklärte Vertumnus. »Und kein Tod mehr. Wenn die Nacht vorbei ist, wird er beides hinter sich haben.«
»Du gibst ihn ihr!« zischte Diona. »Dieser singenden Hexe mit ihren Wurzeln und Tränken!«
»Sie wird Gemüse aus ihm machen!« schimpfte Evanthe. »Und wie sollen wir uns dann vergnügen?«
Vertumnus lächelte spöttisch. Er hielt die Flöte in seiner ausgestreckten Handfläche und blies vorsichtig darüber. Das Instrument verschwand, und angesichts so ruhiger, mächtiger Magie hörten die Dryaden auf zu lärmen.
Luin und Eichel trotteten gemächlich auf die Lichtung. Sie waren vor einen von Grün bedeckten Karren gespannt und mit Schlingpflanzen und Seilen angeschirrt. Die Zügel des Wagens hielt Jack Derry, dessen Augen den Jungen im Baum genau musterten. Mit raschem, respektvollem Nicken und Lächeln nahm er Vertumnus zur Kenntnis.
»Willkommen daheim, mein Sohn«, sagte Vertumnus. Die Dryaden verbeugten sich vor Jack, und aus den schwelenden Zweigen der Eiche flog die Lerche herab, die sich auf seine Schulter setzte.
»Wie geht es ihm, Vater?« fragte Jack, der den Wagen neben Vertumnus steuerte.
»Schleppt sich dahin«, erwiderte Diona, deren weiße Finger an Sturms Hals glitten, um dort sachte den Puls zu fühlen. »Er hat viel durchgemacht und eine schlimme Wunde eingesteckt. Seine Lebenskraft schwindet dahin.«
»Mach ihn los, Jack«, befahl Vertumnus.
»Wie du willst, Vater«, antwortete Jack gehorsam mit einem deutlichen Zwinkern zu den Dryaden, die rot wurden und sich abwandten. »Auch wenn ich nicht weiß, was du mit ihm willst. In Sturm kämpfen Edelmut und Dummheit miteinander, und ich könnte dir nicht sagen, was davon die Oberhand hat.«
»Du fließt wie Wasser durch die beiden Welten, Jack Derry«, rügte ihn Vertumnus nachsichtig. »Du weißt nichts vom zerrissenen Herzen.«
»Scheint so, daß dieses… Baummonster sein Herz fast richtig zerrissen hätte«, stellte Jack trocken fest, als er die Wunde an Sturms Schulter berührte.
»Der Baumhirte unterscheidet nicht zwischen Gut und Böse, zwischen Mensch, Elf und Oger, zwischen Freund und Feind«, erklärte Vertumnus ungeduldig. »Und doch ist er einer von uns und kein Monster. Das wußtest du schon als kleines Kind, Jack. Es hat sich nicht geändert, seit du fort warst.«
Vertumnus sagte nichts weiter. Während er zusah, wie Jack Sturm von dem zertretenen Boden hochhob, machte er eine nebensächliche, fast unbewußte Handbewegung und hatte die Flöte wieder in der Hand.
»Ich schätze«, sagte Jack, der den jungen Solamnier auf die Schultern nahm, »es wäre gar nicht so schlecht, wenn Sturm hier bei uns bleiben würde. Ich müßte ihm allerdings viel beibringen.«
Vertumnus schnaubte. »Er könnte dir auch einiges beibringen, Jack Derry, was Anstandsregeln, Staatswesen und andere Dinge angeht. Du bist in die Höhe geschossen, mein Sohn, aber mit fünf Jahren ist man erst ein grüner Baum und auch ein grüner Junge.«
»Am Hof von Solamnia«, neckte Jack, »würde ich mit fünf noch herumstolpern, mit Spielzeug spielen und bei der kleinsten Kleinigkeit heulen, wie es der da bestimmt getan hat.«
»Er hat nichts davon getan«, sagte Vertumnus ruhig. »Selbst mit fünf Jahren.«
»So lange kennst du ihn schon?« fragte Jack. »Dann kanntest du ja bestimmt diesen… seinen berühmten Vater.«
»Das war in einem anderen Leben, einem anderen Land«, erwiderte Vertumnus träumerisch, während er die Flöte in seinen Händen drehte. Die Raben ließen sich zu seinen Füßen nieder, wo sie aufmerksam herumhüpften und neugierig das helle, glitzernde Ding in der Hand des grünen Mannes anstarrten. »Aber ich kannte Angriff Feuerklinge. Hab’ in Neraka unter ihm gedient und bis dann sein Schloß belagert wurde.«
»Was wurde aus Angriff Feuerklinge?« fragte Jack Derry. »Hat der Junge gelobt, ihn zu finden?«
»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht«, sagte Vertumnus und hob die Flöte.
»Warum bringst du ihn dann zu uns, zerrst ihn an seiner grünen Wunde her?« fragte Jack irritiert. »Du weißt nichts über seinen Vater und – «
»Aber von wem sein Vater verraten wurde, das weiß ich«, sagte Vertumnus. »Warum Agion Pfadwächter und die Verstärkung Schloß Feuerklinge nie erreichten, wissen die Solamnier längst, aber wer den Hinterhalt ermöglicht hat…«
»Und du willst Feuerklinge bei seiner Rache helfen?« fragte Jack.
»Nichts läge mir ferner«, erwiderte der Herr der Wildnis gemessen. Und er setzte die Flöte an die Lippen und spielte und erinnerte sich.
Als Vertumnus spielte, kräuselte sich das Wasser vor ihm. Ganz in seine Gedanken und Erinnerungen verloren, beschwor er einen fernen Winter herauf, eine Zeit der Ankunft, als Lady Hollis ihn aus einem düsteren Schlaf zurückgeholt hatte.
Er hatte nie genau gewußt, was eigentlich geschehen war. Er erinnerte sich an das mitternächtliche Treffen von ihm und Fürst Bonifaz mit den Banditen, erinnerte sich an sein Entsetzen, als Geld und Geheimnis vom Ritter zum Räuber gewandert waren. Er erinnerte sich an das Nachspiel, wie man ihn beschuldigt hatte, den Orden verraten zu haben, wie er nachts seiner Wache entwischt war, erinnerte sich an den Winter und den Marsch. Die sicheren Mauern hinter ihm verschwanden, und der Schnee vor ihm war wie ein Vorhang, als er blind und verrückt einen Weg nach Osten suchte, eine freie Straße nach Lemisch. Nach Hause.
Überall war es kalt, und das Schneegestöber tobte gnadenlos, und der Wind blies so laut, daß er bald Stolz und Sicht und Verstand verlor.
Er erinnerte sich an das Fackellicht im fernen Lager, und wie das Licht durch Dunkelheit und Schnee gewachsen war, bis es ihm wie ein Mond oder eine Sonne vorgekommen war, nicht wie der Tod, den er dort eigentlich befürchten mußte. Er erinnerte sich, wie er in den Lichtschein getreten war, wie zerlumpte Männer ihn von allen Seiten angegriffen hatten, an die Flüche und die Schläge auf seinen Kopf, dazwischen die wütenden Silben seiner Muttersprache. Trotz der niederprasselnden Schläge von Stock und Keule und harter Faust hatte er antworten wollen, doch dann hatte sich der plötzliche Schlag auf seine linke Schulter gesenkt, und der scharfe, schwarze Schmerz hatte über seinem Herzen zugestochen… Die Welt war plötzlich weiß geworden, dann dunkel. Dann nichts mehr.
Und schließlich erinnerte er sich an diesen Ort. Als er wach wurde, hockte eine alte Hexe über ihm, die einen langen, heilenden Spruch sang. Er erinnerte sich an jedes einzelne der vielen Worte, denn so wie sie sang, brachte jedes einzelne Wärme in seine Glieder und Atem in seinen gelähmten Körper. Und mit jedem Wort fiel ein Jahr von dem Gesicht der Sängerin ab, und sie erlangte eine verlorene, unvergleichliche Schönheit wieder – Mandelaugen, braune Haut und schwarzes Haar, das glänzte wie der Winterhimmel.
Langsam und voller Schmerzen hatte er sich bewegt – erst einen Finger, dann eine Hand. Er hatte in das Gras unter sich gegriffen, einen Grashalm abgepflückt, dann noch einen. Aber er war noch zu schwach. Seine Hand konnte er nicht heben. Also schloß er die Augen und ruhte in der sicheren Obhut der Frau und ihres Liedes. Er sah nichts als Grün und Grün, und als er einschlief, träumte er von Blättern und Frühling und Wurzeln tief in der Erde.
Es schien hundert Jahre her zu sein. Es schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Und doch war er hier im Südlichen Finsterwald, Gefährte von Dryaden und Eulen und dieser schönen, geheimnisvollen Frau. Sie hatte ihm sein Leben geschenkt, hatte ihn zum Blühen gebracht. Sie hatte ihm die Flöte und das Wissen um die Weisen gegeben.
Und jetzt gab es andere – andere, die sein Leben und sein Reich bedrohten. Inzwischen kannte er sie und konnte ihnen vergeben. Aber Vergeben hieß nicht Ergeben: Der Finsterwald wuchs in seinem Blut und war unwiderruflich sein.
Sein Lied war vorüber und stieg durch die mondhellen Zweige der Vallenholzbäume auf. Langsam, fast liebevoll, beugte sich Vertumnus über den Jungen, der auf den Karren gebettet war, und flüsterte Sturm etwas zu, das niemand, nicht einmal die Dryaden, hörte.
Jahre später, im Turm des Oberklerikers, in der Kälte des späten Februars, würde Sturm sich im Schlaf dieser Worte entsinnen. Beim Aufwachen würde er sie nicht aus dem nebligen Land seiner Träume mitbringen und auch nicht lange nachdenken, um sich zu erinnern, denn Derek würde am finsteren Tag zuvor scharenweise Ritter in das Gemetzel geführt haben, und der Morgen würde von Waffengeklirr und Vorbereitungen erfüllt sein.
Doch die Worte waren einfach. »Du kannst wählen«, hatte Vertumnus gesagt. »Letzten Endes kannst du immer wählen.«
»Er wird es doch überleben, Vater?« fragte Jack besorgt. Evanthe schob ihren Arm in seinen und küßte ihn frech mit aufgeworfenen Lippen hinter das Ohr.
»Auf die eine oder andere Art wird er überleben«, erklärte Vertumnus. »Wenn die Lady ihn gut pflegt. Jetzt sing, Evanthe. Diona, sing mit deiner Schwester. Während wir den Jungen zu Hollis bringen, singt ihr das Lied des Waldes.«
Mit plötzlicher Durchtriebenheit drehte er sich zu Jack um: »Du singst auch, Jack. Du hast die schöne Tenorstimme deines Vaters genau wie seine Schwerthand. Solltest du jedenfalls, denn seine Hand und Stimme lassen nach.«
Jack kletterte lächelnd auf den Kutschbock des Karrens, ließ seine Sorgen am schweren Fuß der Eiche zurück und begann zu singen. Er hatte wirklich einen schönen Tenor. Der Karren setzte sich in Bewegung, Jack hielt die Zügel, und die Dryaden, die auf den Hälsen der Pferde saßen, stimmten süß und leise mit ein.
Jack Derry sang, und sein Vater begleitete ihn. Seine Flöte blitzte über die Noten und die Pausen zwischen den Noten hinweg. Wäre Mara dabeigewesen, so hätte sie an der ausgefeilten Technik, mit der er die Pausen der Musik und zwischen den Worten ausfüllte, sofort als die Magie erkannt, die darin steckte. Der Wagen verließ die Lichtung, das Blätterdach schloß sich darüber, und bald lagen Lichtung und Teich still da. Nur in der Ferne hörte man noch das leise Singen und den hellen und heimlichen Klang der Flöte.
In einer der Pausen zwischen den Zeilen löste sich Sturms Schwert aus dem Baum und fiel auf die Erde. Die Wunde, die es dem Holz geschlagen hatte, heilte augenblicklich, und aus allen Zweigen sprossen neue Blätter hervor. Als die Musik wieder anhob, diesmal nur schwach und kaum noch hörbar, wurden zwei Knoten am Stamm erst dunkel, dann feucht, dann glitzerten sie, als der Baumhirte erwachte und seine uralten Augen aufschlug.