11 Überraschender Besuch

Der Mann mit dem Umhang warf sich sofort voll geschmeidiger Stärke auf ihn. Sturm merkte, wie eine Hand zu seinem Handgelenk glitt und sein Messer mit einem schnellen, gewaltsamen Ruck ins hohe Gras fliegen ließ. Er wehrte sich verzweifelt, aber der Mann war zu stark für ihn. Er drückte ihn mit den Schultern auf den Boden.

Benommen fühlte Sturm das Schwert an seiner Kehle. »Still!« rief der Kapuzenmann. Plötzlich sah er sich aufmerksam und nervös um, als könnte man seine Worte auf der ganzen Ebene, ja, dem ganzen Kontinent hören. Er kam hoch und steckte sein Schwert weg, um dann mit derselben knappen, athletischen Bewegung seine Kapuze herunterzustreifen.

»Du…«, setzte Sturm an, aber vor Überraschung fehlten ihm die Worte.

»Jack Derry, allerdings, Sir!« flüsterte der junge Mann mit entwaffnendem Lächeln. »Ihr kennt mich doch vom Turm? Der Gärtner? Mit der Schubkarre im Hof?«

»J-Ja«, erwiderte Sturm, als Name und Gesicht in seiner Erinnerung zusammenfanden. Hier im trügerischen Mondlicht sah Jack Derry unnatürlich jung aus, sein Gesicht weich und bartlos wie das eines kleinen Jungen. Bei näherem Betrachten waren seine weichen, braunen Augen allerdings von der harten Reise gezeichnet, das schwarze Haar naß und zerzaust und der lederne Brustharnisch rissig und mitgenommen. Die schmückenden, grünen Rosen waren verblichen, aber noch zu erkennen.

Es war wirklich Jack Derry. Aber etwas an ihm war anders – über Wetter und Kleidung hinaus.

»Aber wie… wie bist du… und warum?« stotterte Sturm, dem die Worte fehlten.

»Reden wir lieber an einem trockenen Platz, nicht hier im Regen«, erwiderte Jack sanft. »Wenn Ihr mir so einen Platz zeigt, könnt Ihr fragen, und ich kann antworten.«

Sturms Augen wurden schmal. Das Wasser lief sein verschmiertes Gesicht hinunter. »Woher weiß ich, daß das kein Trick ist?«

»Bei den Sieben!« fluchte Jack Derry, der nach Sturms Arm griff. »Wozu habe ich eben Tricks gebraucht, als meine Klinge an Eurer Kehle lag?«

Das war überzeugend. Jedenfalls überzeugend, falls dieser Jack nichts Schlimmeres vorhatte und nur zu dem Elfenmädchen geführt werden wollte, das Sturm plötzlich kleiner und verwundbarer vorkam als zuvor.

»Nein«, sagte Jack ruhig und brachte sein Gesicht so nah an Sturms, daß der Junge nur noch die scharfen, schwarzen Augen des Gärtners sah und nur noch den durchdringenden Geruch von Wurzeln und feuchter Erde wahrnahm. »Ich führe gegen keinen von euch etwas im Schilde, Sturm Feuerklinge.« Vor lauter Entsetzen hatte Cyren sich in seinem eigenen Netz verstrickt. Hilflos baumelte er hinten in der Höhle an einem einzigen, dicken Faden. Mara war dabei, mit ihrem Messer diesen zappelnden Kokon aus grauer Seide durchzusäbeln, als Sturm und Jack die Höhle betraten, gefolgt von Jacks dickem kleinen Pferd, das sie unterwegs abgeholt hatten.

»Ich brauche deine Hilfe«, drängte Mara mit einem Blick über die Schulter.

Sturm legte sein geborstenes Schwert zur Seite und wollte zu ihr gehen, aber Jack überholte ihn, hockte sich neben Mara und befreite die Spinne mit einer leichten Drehung seines Schwerts. Cyren kletterte in die obersten Fäden seines Netzes, wo er zitternd sitzen blieb.

»Es ist die Spinne in ihm, die… die ihn so erschreckt«, erklärte Mara wenig überzeugend.

»Ich habe mich gewundert, warum mir keiner von euch zu Hilfe gekommen ist«, entgegnete Sturm.

Mara sah erst ihn an, dann Jack. Dann zuckte sie mit den Achseln. »Ich habe gesagt, da draußen wäre noch etwas anderes als Wind und Regen«, sagte sie ungeduldig. »Ich erinnere mich nicht, dir gesagt zu haben, du solltest es angreifen.«

»Aber…«, fing Sturm an. Nach einem Blick von der Elfe zur Spinne, zum Gärtner und wieder zurück setzte er sich einfach auf den Höhlenboden.

»Ganz gleich, was hätte sein können, Meister Sturm«, sagte Jack, der am Feuer kauerte und seine schmutzigen Hände zum Wärmen ausstreckte. »Ihr habt noch andere Fragen, und zwar berechtigte, und ich werde mein Bestes tun, sie jetzt zu beantworten.« Jack war anscheinend Sturms Verfolger gefolgt und hatte bei dieser Verfolgung eine Art Verschwörung entdeckt.

Nur so konnte Sturm sich den seltsamen Bericht aus dem Turm des Oberklerikers erklären. Jack war anscheinend mit seiner Schubkarre hinter dem Ritter und seinem Knappen hergelaufen, und was der Gärtner gehört hatte, war eine ganze Litanei von Fallen und Hindernissen für Sturm, von den Flügeln des Habbakuk bis hin zu den Grenzen des Finsterwalds.

»Fürst Bonifaz hat Fallen aller Art gestellt«, sagte Jack mit wachem, beunruhigend durchdringendem Blick. »Vom Hinterhalt über die Fallgrube bis zu etwas an der Furt, was ich aber nicht hören konnte.«

»Vielleicht hast du noch mehr überhört, Jack«, warf Sturm ein. Es schien unmöglich: Fürst Bonifaz, der Freund seines Vaters, verschwor sich mit Derek, um ihn auf seinem Weg zum Südlichen Finsterwald zu erledigen. Warum sollte er zu solchem Verrat herabsinken?

Und wenn er Verrat plante, warum an einem Jungen, der noch nicht einmal Knappe war?

Sturm beugte sich zum Feuer vor. Das war alles zu verdächtig. Dieser Bote hatte etwas an sich, das über Grünzeug und Dienst hinausging, auch wenn er nicht recht feststellen konnte, was es war. Und Jack war kaum der Einfaltspinsel, den er im Turm mimte.

Irgend etwas daran war faul, fürchtete er. Aber dennoch…

»Es war vielleicht weit weg«, fuhr Jack fort, den Sturms Zweifel überhaupt nicht störten. »So weit, daß es nicht einmal ein Fuchs gehört hätte – das gebe ich gern zu.«

Er sah Sturm an und kniff die schwarzen Augen zusammen. Und als dort am Feuer der regnerische Nachmittag in einen regnerischen Abend überging, wirkte der Gärtner wie eine grobe Schnitzerei, die ein altes Waldvolk in Eiche oder Erle getrieben hat.

»Die Entfernung gebe ich zu«, murmelte Jack Derry geheimnisvoll. »Aber was ist mit Eurem Aufenthalt im Kastell? Und das Eisen der armen Luin – wer hat wohl die Nägel gelockert? Und wer hat Euch schließlich das schlechte Schwert gegeben? Denn hier sieht man deutlich, wo der Bruch schon vor unserem Kampf ansetzte…« Er zeigte auf eine schmale, absolut gerade Kerbe rund um den geborstenen Rand der zerbrochenen Klinge.

»Alles Zufall«, erwiderte Sturm mit einem Hauch von Unsicherheit in der Stimme.

»›Zufall‹ ist Altsolamnisch für ›Weiß ich nicht‹«, sagte Jack augenzwinkernd zu Mara. »Na, na, Meister Sturm«, fügte er hastig hinzu. »Duell und Handgreiflichkeiten sind gar nicht nötig, denn Ihr könnt mir glauben oder nicht; mir ist das egal.«

»Aber dennoch bist du uns tagelang gefolgt«, sagte Sturm, der den unerwarteten Besucher ärgerlich über das Feuer hinweg anstarrte.

»Euch gefolgt? Nicht daß ich wüßte!« entgegnete Jack fröhlich. »Ich muß nur in dieselbe Ecke der Welt, um meine Mutter zu besuchen. Aber da trennen sich unsere Wege, wenn Ihr mich fragt. Oder jetzt gleich, wenn Euch das lieber ist.«

»Du willst also behaupten, daß du nicht den ganzen Weg gegangen bist, um mich zu warnen?« fragte Sturm. »Daß unsere Begegnung hier auf der Ebene mitten in einem Platzregen nur…«

»Zufall ist?« fragte Jack mit neugierigem Gesicht, und er und Mara platzten lachend heraus.

Sturm wurde rot vor Wut.

»So sei es also, Jack Derry«, erklärte er mit bester solamnischer Haltung. »Wenn es stimmt, was du von Bonifaz und allem anderen gesagt hast, dann haben wir keine Wahl. Wir müssen uns hier verkriechen und auf ihn warten. Wenn er vorhat, mich zu erledigen, aus welchem Grund auch immer, dann muß er mich erst einmal finden.«

Der Gärtner lächelte bloß. »Das geht nicht, Meister Sturm, falls das Gerede wahr ist, das ich im Turm gehört habe. Angeblich habt Ihr eine Verabredung – ungefähr am ersten Frühlingstag. Ihr habt vielleicht bemerkt, daß sich gestern abend die Monde, der große Solin und Luin, am Himmel getroffen haben.«

Sturm wagte keinen Blick zu Mara.

»Falls Ihr Euch mit Astronomie befassen würdet«, fuhr Jack fort, »würdet Ihr wissen, daß dies sehr selten vorkommt, nur ungefähr alle fünf Jahre, und dieses Jahr genau eine Woche vor Frühlingsanfang.«

Eine Woche! Dank sei Paladin und allen Göttern des Guten, daß mir noch eine Woche bleibt! Sturm stand auf und wandte sich vom Feuer ab.

»Bonifaz kommt vielleicht erst in einem Monat. Oder in einem Jahr«, fuhr Jack Derry fort. »Könnte ihm gefallen, einfach abzuwarten, bis Ihr Euer… Treffen mit dem grünen Mann versäumt habt.«

»Du bist kein Gärtner, nicht wahr?« Sturms Hand ging langsam zu dem zerbrochenen Schwert. Du bist eine Falle, Jack Derry. Du bist das Werk des Herrn der Wildnis… oder eine Erscheinung… oder… oder…

»Wie könnt Ihr so etwas sagen, Sturm Feuerklinge? Habt Ihr nicht gesehen, wie gut ich die Gärten des Turms gepflegt habe?«

Ein dumpfer Schmerz zog durch Sturms Schulter – nicht so scharf wie bei seiner Verwundung, wie in Kastell di Caela oder im Wäldchen in der Ebene. Nur ein starker, tödlicher Schmerz, der bis in die Fingerspitzen reichte.

Er konnte das Schwert nicht nehmen.

»Nein… nein, Meister Sturm«, fuhr Jack fort. »Ich bin von Grund auf Gärtner und nichts anderes, und Eure verwickelten solamnischen Intrigen sind mir ziemlich gleichgültig.« Seine Augen glitten zum Handschutz von Sturms Schwert und dann entwaffnend direkt zum Gesicht des Jungen zurück.

»Auch wenn Ihr ein guter Mann seid und angeblich von stolzer Herkunft, bin ich nicht so weit gereist, nur um Euch zu warnen oder mich in Eurer erlauchten Gegenwart zu aalen. Ich will an den Rand desselben Südlichen Finsterwalds, in ein kleines Dorf namens Dun Ringberg, wo mich meine alte Mutter mit der Aufregung einer alten Mutter erwartet, denn sie sehnt sich nach ihrem lange verlorenen Sohn, der nach Norden gezogen ist, um am Hof der Ritter etwas aus sich zu machen.«

»Dun Ringberg?« fragte Sturm.

»Noch zwei Tagesritte von hier«, sagte Jack. »Zu Fuß noch vier oder fünf Tagesmärsche durch die Ebene und an Flüssen entlang, die an Trot angrenzen, wo die Goblins hausen. Und in Lemisch, wo das Dorf ist, ist man den Rittern auch nicht sehr freundlich gesonnen.«

Jack stand vom Feuer auf und ging zu seiner gedrungenen, kleinen Stute. Sanft streichelte er ihr die Nüstern und raunte ihr etwas zu, das durch den prasselnden Regen draußen und das Knacken des Feuers drinnen nicht zu verstehen war. Die Stute hob den Kopf, schnaubte und ging zum Höhleneingang.

»Ich schätze, dann sollte ich jetzt mal aufbrechen«, sagte Jack, während er die Stute nach draußen in den lauten, rauschenden Regen führte. Am Eingang der Höhle blieb er stehen, setzte den Fuß in den Steigbügel und wollte wirklich losreiten.

Mara stieß Sturm mit dem Ellbogen an, woraufhin der Stolz und Ärger überwand.

»Jack Derry?«

Jack stand still und erwartungsvoll am Höhleneingang.

»Jack… kennst du einen Schmied in… Dun Ringberg?«

»Allerdings, Meister Sturm«, sagte der junge Gärtner, der immer noch das Gesicht abgewandt hatte. »Nämlich meinen Vetter Wieland. Und zwar ein guter Schmied.«

»Gut muß er sein«, erwiderte Sturm, dessen Augen sich auf das Herz der Flammen richteten, »denn die alte Luin beschlagen kann jeder Lehrling, aber ein Schwert neu zu schmieden…«

Jack drehte sich um und starrte den jungen Mann am Feuer hart und abschätzig an.

»Wieland Derry kann Euch jedes beliebige Schwert schmieden, Meister Sturm Feuerklinge«, sagte der Gärtner ruhig. »Und Euer Empfang in Dun Ringberg wird so sein, wie es einem vom Orden gebührt.« Bonifaz zog den Mantel fester um sich, während er das flackernde Licht in der fernen Höhle beobachtete.

Es waren zu viele bei dem Jungen. Erst das Elfenmädchen mit seiner Spinne – zumindest mal unberechenbar und deshalb gefährlich. Dann der einfältige Gärtner, falls er einfältig oder überhaupt ein Gärtner war, der aus wer weiß was für Gründen in dieser Gegend unterwegs war. Sturm Feuerklinge hier aufzulauern würde zu viele unschuldige Leben in die Sache verwickeln. Zu viele Klingen. Zuviel Gefahr, daß wenigstens einer entkommen und es anderen berichten konnte.

Die es nicht verstehen würden.

Fürst Bonifaz Kronenhüter war schon einmal mit Zeugen fertiggeworden. Damals war es ein lästiger Ritter aus Lemisch gewesen, der sich erst kürzlich dem Orden und dem Maßstab angeschlossen hatte.

Der hatte auch nichts begriffen, und was dann geschehen war, war merkwürdig, häßlich, beinahe verhängnisvoll gewesen.

Also durfte es keine Zeugen geben, dachte Bonifaz lächelnd. Es würde noch andere Gelegenheiten geben. An der Furt und im Dorf…

Er stand auf, bestieg sein Pferd und ritt nach Osten. Die Hufschläge seines schwarzen Hengstes wurden vom strömenden Regen übertönt. Sie brachen am nächsten Morgen auf, als der Regen aufhörte. Sturm und Jack gingen vor; sie führten die Pferde. Mara ritt auf Eichel, Jacks gedrungener brauner Stute, die auch leicht, wenn auch nicht begeistert, das Gewicht der Habe der Elfe trug. Hinter diesem Troß huschte Cyren, die Spinne, zwischen großen Steinen und hohem Gras hin und her und wich der Sonne aus, so gut es ging.

Auf Jacks Rat hin strebte Sturm nicht mehr zu der berühmten Furt bei Burg Vingaard. Wenn – wie er allmählich argwöhnte – an Jacks Warnung über die Fallen von Fürst Bonifaz etwas Wahres dran war, dann würden alle wichtigen Furten gefährlich sein.

Statt dessen hielt die Gruppe in östlicher Richtung auf ein kurzes Stück Fluß zu, wo Jack zufolge das Schwimmen so ungefährlich war wie die Furt. Hoch über ihnen schossen die Eisvögel durch die Luft, und wenn er auf Omen geachtet hätte, hätten die alten solamnischen Symbole auf Flügeln Sturm viel Mut machen können.

Trübsinnig trottete er neben dem jungen Gärtner her. Nicht genug, anscheinend, daß er gegen jemand, der so mächtig und erfahren war wie Vertumnus, sowieso zum sicheren Versagen verdammt war, jetzt lauerte ihm auch noch der beste Schwertkämpfer von Solamnia auf, falls er wundersamerweise seine Begegnung mit dem grünen Mann überleben sollte.

Das heißt, falls er Jack Derry glauben durfte. Es schien absurd – wie mitten aus einer uralten Geschichte über Blut, finstere Schwüre und Rache. Bonifaz war ein Freund seines Vaters. Angriff hatte ihn vor Fürst Tück gerettet, war mit ihm aufgewachsen. Sie hatten gemeinsam gekämpft, hatten gelernt, gelitten und an Weisheit gewonnen… und…

Schließlich waren da noch Eid und Maßstab.

Es konnte nicht wahr sein. Bonifaz konnte kein Verräter sein.

Sturm strich Luin mit dem Handschuh über den Hals. Ganz langsam kehrte das Gefühl in seine Finger zurück, so daß er an andere Dinge denken konnte – an die wenigen verbleibenden Tage und den langen Weg, der noch vor ihm lag. Der Weg führte die Wanderer durch saftiges Weideland im Norden der alten Festung von Solanthus. An manchen Stellen begann der Boden schon grün zu werden, und die ersten Zugvögel waren aus ihren Winterquartieren im sonnigen Norden zurückgekehrt. Durch diese Frühlingszeichen konnte Sturm meilenweit über die Ebene nach Süden blicken und die berühmte Festung sehen, die sich grau und dunstig am äußersten Horizont erhob. Es war ein sagenumwobener, geschichtsträchtiger Ort, genau so einer, wie Sturm ihn gern besucht hätte. Doch er wagte es nicht, näher heranzugehen, nach allem, was Jack Derry ihm berichtet hatte. Bonifaz konnte überall auf der Ebene lauern und seine Verbündeten sowieso dazu.

Seufzend zog Sturm an Luins Zügel.

»Warum so bedrückt, Meister Sturm?« fragte Jack, der Eichel geschickt um kleine Tümpel herumlenkte, die ein Zeichen für gefährlichen Untergrund sein konnten. »Seid doch froh, daß wir den Regen hinter uns haben!«

»Es wird so schnell Frühling, Jack Derry«, erwiderte Sturm. »Zu schnell für meinen Geschmack, fürchte ich. Nur noch eine Woche, bis ich mich im Finsterwald dem Herrn der Wildnis persönlich stellen muß.«

»Seht Euch um, Meister Sturm«, stellte Jack gelassen fest. »Wo ist Vertumnus, und wo ist der Haken und die Leine, an denen er Euch nach Osten zieht?«

»Das verstehst du nicht«, protestierte Sturm. »Da wäre zunächst die Wunde. Ich weiß, im Turm lachen sie darüber. Sie sagen, ich hätte mir meine Verwundung eingebildet, aber sie ist da, bei Paladin! Aber was viel wichtiger ist, das ist die Ehre im Zweikampf. Ich kann nicht anders. Du kennst das nicht, Jack. Für Gärtner gibt es keinen Maßstab.«

Jack lächelte seltsam und rieb sich das Kinn.

»Keinen anderen als die Sonne, die Monde und die Jahreszeiten«, entgegnete er. »Ich bin dankbar, daß ich sie habe.«

»Und ich für den Maßstab«, sagte Sturm etwas übereilt. »Und… und natürlich für diesen herrlichen Tag.« Er sah sich um und versuchte, eine fröhliche Miene aufzusetzen. »Das ist ein milder Winterausklang, Jack. Kein Frost, und die Vögel kommen schon zurück. Mild wie der Frühling von Fünfunddreißig, möcht’ ich wetten.«

Wenn die Bauern einen milden Frühling erwähnten, verwiesen sie auf das Jahr 335. Sturm erinnerte sich gut daran, obwohl er erst zehn gewesen war: Wie Schnee und Eis getaut waren und die Blumen in den Gärten von Schloß Feuerklinge erblüht waren.

»Mild ist er, Sir, auch wenn ich von Dreifünfunddreißig nichts weiß«, sagte Jack und zeigte nach Osten. »Am besten übernachten wir in dieser Gegend«, schlug er vor. »So nah an der Festung sind wir sicherer, was Räuber und Banditen angeht.«

Jack sah Sturm ernst an.

»Es wäre mir lieber, Meister Feuerklinge wäre nicht überrascht«, warnte er, »wenn er herausfindet, wie die Menschen auf dem Land auf seinen Eid und den Maßstab reagieren.« Der Abend verlief ruhig, was Mara, ganz besonders aber Sturm, enorm erleichterte. Zum ersten Mal seit fast einer Woche schlief er den gesunden Schlaf eines jungen Mannes, weil er genau wußte, daß Jack Derry über ihr Lager wachte.

Der Gärtner hatte etwas an sich, daß nach einer Art blindem Vertrauen schrie. Sturm hatte es bei dem langen Tagesmarsch gespürt, als Jack aus dem Umspringen des Windes las wie ein Schwertkämpfer aus den Finten und Angriffen seines Gegners. Jack war ein zuverlässiger, ja, ein geborener Waldläufer, aber das war der gefährliche Mann, zu dem Sturm zum Duell ritt, zweifellos auch.

Sturm beobachtete, wie Jack das heruntergebrannte Feuer versorgte, betrachtete das gedämpfte, rote Licht, das Schatten auf seine Hände und sein Gesicht warf. In diesem Licht wirkte der Gärtner beunruhigend vertraut, als wenn sie sich schon das ganze Leben kennen würden.»Seht genau hin, Meister Sturm und Lady Mara, dann seht Ihr die südlichste Gabelung des Vingaard«, sagte Jack.

Sturm stand auf Zehenspitzen und stützte sich an Luin ab, als er nach Osten blinzelte, wo die Luft weit, weit hinten zu flirren schien. Mara, die auf Eichel saß und mit scharfen Elfenaugen nach Osten schaute, nickte sofort, als Jack sie auf die Stelle hinwies.

»An dieser Gabelung ist es ein Kinderspiel«, fuhr der Gärtner mit boshaftem Grinsen fort. »Eure Spinne könnte glatt hundert Briefchen in ihren grünen Booten rüberschicken.«

Mara versank hinter ihnen in kaltes Schweigen. Sturm unterdrückte ein Lächeln. Bestimmt bereute sie es, ihre Geschichte überhaupt erzählt zu haben, besonders so scharfen, satirischen Ohren wie denen des Gärtners.

»Wie ich Euch beiden erzählt habe, als wir diesen Weg einschlugen, ist Schwimmen in dieser Gegend so gut wie eine Furtüberquerung. Der Fluß fließt langsam, und das Ufer ist auf beiden Seiten flach. Etwa eine Stunde später sind wir dann in Lemisch, und dann ist es nur noch ein Tag bis Dun Ringberg, wenn das Wetter mitspielt und die Banditen uns in Ruhe lassen.«

Tadelnd sah er Sturm an.

»Ich denke, Meister Sturm Feuerklinge«, sagte Jack, der sich das braune Haar aus der Stirn strich, »es wäre klüger, wenn Ihr einen Teil Eurer Rüstung ablegen würdet. Durch einen Fluß zu schwimmen, auch wenn er langsam fließt, geht leichter ohne vierzig Pfund Kettenhemd.«

Sturm wurde rot über seine Gedankenlosigkeit, zog den Brustharnisch aus und legte ihn mit dem Schild auf Luins wenig bepackten Rücken. Jack sah ihn mit trockener Belustigung an.

»So gibt es kaum einen Unterschied zwischen Solamniern und Bediensteten, was, Meister Sturm?«

»Folgt mir«, murmelte Sturm, der zum Flußufer marschierte. Jack schob sich jedoch ohne Umschweife vor ihn.

»Wenn ich so frei sein dürfte, Sir«, schlug er vor, »dann verzichten wir mal auf jedes Protokoll. Laßt doch einen vorgehen, der den Fluß kennt.«

Auge in Auge standen sich die beiden gegenüber. Sie waren exakt gleich groß und gleich schwer. Es war, als würde Sturm in einen umwölkten Spiegel sehen, in dem das Gesicht, das zu ihm zurücksah, ihm in Alter und Haltung glich, obwohl es gewiß nicht seines war.

»Ich schließe mich dem Gärtner an«, meinte Mara. »Ein Fluß ist selbst bei bester Führung noch unberechenbar genug.«

»Ich erinnere mich nicht, dich um deine Meinung gebeten zu haben«, sagte Sturm eisig, der der Elfe nur einen knappen Seitenblick schenkte.

Sturm sah über das Wasser. Es schien wirklich leicht durchquerbar zu sein. Der Fluß war an dieser Stelle nur dreißig Schritt breit, und gewaltige Bäume ragten über die Ufer hinaus – Ewigkeitsbäume natürlich und kahle Platanen und Vallenholzbäume. Die Zweige von einem berührten die eines anderen und formten ein dünnes Geflecht über dem Fluß, fast wie ein Webgerüst oder…

… oder ein Netz.

»Cyren!« rief Sturm begeistert aus. Mara sah ihn verwundert an, aber Jack begriff sofort und trieb die widerstrebende Spinne zu dem breiten Stamm eines der vielversprechendsten Vallenholzbäume.

»Also, Lady Mara«, sagte Jack, dessen dunkle Augen intensiv funkelten. »Seid doch so freundlich und lockt Eure Spinne da über den Fluß und sorgt dafür, daß sie einen Weg für uns alle webt. Ich denke, Ihr könnt vorausgehen, Meister Sturm, wenn Ihr Euch an einem dicken Faden festhalten könnt und es einen klaren Weg durch den Vingaardstrudel gibt.«

»Den Vingaardstrudel?« fragte Sturm. »Ich – ich dachte, das ist östlich von hier.« Er hatte viele Geschichten über den trügerischen, veränderlichen Sog im östlichsten Lauf des Flusses gehört. Ja, sein eigener Urgroßvater war einmal fast von dem Strudel mitgerissen worden, was das ganze Geschlecht der Blitzklinges und Feuerklinges ausradiert hätte. Seine Familie vertrug sich nicht allzugut mit Unterströmungen, und Jacks Gerede von dem Strudel verunsicherte ihn zutiefst.

»In dieser Gegend ist er nicht so schlimm«, erklärte Jack. »Aber ein Fluß ist immer gefährlich. Da ich mich mit dem Strudel und seinen Eigenheiten besser auskenne, sollten wir es vielleicht so machen, wie wir zuerst überlegt haben, daß ich vorgehe.«

»Na schön«, willigte Sturm ein, der dieses ritterliche Angebot auf der Stelle annahm. »Schließlich bist du ja aus Lemisch, Jack…«

»Na, also!« rief Jack aus. Sein freches Grinsen wurde breit, als Cyren auf Maras Drängen hin und nach einem leichten Stups ihres Stiefels von einem Vallenholzbaum auf eine Platane und von dort auf einen Vallenholzbaum kletterte, um dann sicher das andere Ufer zu erreichen. »Du wirst einen guten Ritter abgeben, Sturm Feuerklinge.«

Ein festes, zähes Seil führte von Ufer zu Ufer, und Hand um Hand begannen die drei, den träge fließenden Fluß zu überqueren. An der Stelle, die Jack ausgesucht hatte, war das Wasser wirklich ruhiger als anderswo. Sturm hielt sich mit einer Hand am Seil fest, mit der anderen führte er Luin am Zügel. Mara kam hinter ihm und führte die kleine Eichel sanft und geschickt durch die Wasserfluten. Vor ihnen klammerte sich Jack an und tauchte in den Fluß, kam wieder hoch und prustete vergnügt. Er war geschmeidig wie eine Robbe.

»Nicht mehr weit!« flüsterte er, als sein Kopf aus einem Wirbel auftauchte. Die dunklen Locken hingen ihm triefend über die Stirn. »Das könnt Ihr allen anderen Rittern und all den zukünftigen, kleinen Feuerklinges erzählen – wie Ihr mit Hilfe einer wagemutigen Spinne den Fluß überquert habt!«

In gespielter Überraschung riß Jack die Augen auf. Es war das erste Mal, daß Sturm ihn angelächelt hatte.

»Ja, so was, Meister Feuerklinge!« meinte er laut. »Man sollte meinen, da steckt jemand von Format unter diesen Orden und Maßstäben.«

Grinsend strich sich Sturm die nassen Haare aus dem Gesicht. In diesem Augenblick, als das Wasser des Vingaard ihn umtoste, fand er die Überquerung abenteuerlich und großartig.

Die Strömung war so laut, daß keiner von ihnen – nicht einmal die Pferde – hörte, wie sich die Räuber näherten. Der erste Pfeil fiel, als Jack die Mitte des Stroms überwunden hatte.

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