1 Bankett mit Überraschungen

Fürst Alfred Merkenin wurde unruhig, während er vor seinem Platz am Tisch wartete. Er bekam eine Gänsehaut und rieb sich die Hände wieder warm, bevor er seinen Blick durch den Ratssaal wandern ließ. Heute abend wogte darin ein kaltes Fahnenmeer.

Die Standarten der großen Familien von Solamnia wirkten im flackernden Fackelschein merkwürdig gespenstisch. Die alten Stoffe, einst dick und glänzend, jetzt vom Alter fadenscheinig, hoben sich leicht und bewegten sich im Winterwind, der durch die zugige Halle wehte. Natürlich war das Wappen von Merkenin dabei, und die an den Haaren herbeigezogenen Wappen der Häuser Karthon und MarThasal, miteinander verknüpfte Darstellungen von Sonnen, Eisvögeln und Sternen. Dazwischen prangten stolz das Rosendickicht von Uth Wistan und der Phönix des Hauses Peres. Die niederen Häuser – Inverno und Kronenhüter und Ledyard und Jeoffrey – waren ebenfalls vertreten. Die ersten Zeremonien waren abgeschlossen, und dreihundert Ritter von Solamnia setzten sich, um den Tod des Jahres abzuwarten.

Ist dies nicht schließlich Anfang und Ende der Julzeit, fragte sich Fürst Alfred, als der dumme Jack, der eigentlich der Gärtner war, umständlich die Kerzen auf dem Tisch anzündete. Der Tod eines weiteren Jahres?

Der mächtige Ritter, Hofrichter des Ordens von Solamnia, setzte sich wenig erwartungsvoll auf seinem hochlehnigen Mahagonistuhl am Kopf der längsten Tafel zurecht. Er fürchtete das Unwägbare, und zweifellos näherte sich Unwägbares, während der Kerzenschein heller wurde. Er sah sich um, blickte in die Gesichter seiner Kohorten und Offiziere. Es waren viele, so unterschiedlich wie Edelsteine, und in ihren Augen konnte er ihre Gedanken zu diesem feierlichen Abend ablesen.

Fürst Gunthar Uth Wistan saß zu seiner Linken. Untersetzt und kaum dreißig, doch das Haar bereits stahlgrau. Nach Fürst Bonifaz Kronenhüter, dessen Ehre schon Legende war, war Gunthar der beste Schwertkämpfer bei diesem Bankett. Solche Männer hatten stets wenig für derartige Zeremonien über, die ihnen irgendwie zu zahm und zu nett vorkamen. Fürst Alfred fühlte mit seinem Freund und beobachtete ihn weiter. Gunthar wünschte sich ganz eindeutig, das alles wäre schon vorbei – vom Essen über das Ritual bis zu den großartigen Unterbrechungen. Unruhig starrte er durch die wahre Armada von Standarten zu der Stelle, an der die Dunkelheit Seide, Leinen und Damast fast verschluckte, an der Fürst Bonifaz, sein nur äußerlich freundlicher Rivale, in einem Pulk junger Anhänger saß. Lauter Knappen, die seine Haltung nachahmten und den berühmten Mann um seine Schwertkunst beneideten.

In jenen Schatten konnte man eine ähnliche Ungeduld erahnen. Obwohl Gunthar behauptete, Bonifaz ertrüge bei all seiner Hingabe an Eid und Maßstab das Warten mit mehr Anstand, fand Alfred, daß die Nervosität und das Schweigen des großen Ritters noch einen weiteren Grund haben müsse. In Gunthars Denkweise bedeutete eine Zeremonie nur eine Verzögerung zwischen den Schlachten, für Bonifaz hingegen war sie die wahre Schlacht.

Zur Rechten von Fürst Alfred hatte mit hörbarem Knacken der Knochen und stillem Seufzer Fürst Stephan Peres Platz genommen, ein alter Haudegen auf steifen, aber erstaunlich standhaften Beinen. Alfred lehnte sich zurück, trommelte mit den Fingern auf die dunklen Armlehnen und hob dann die rechte Hand. Auf dieses Zeichen hin setzte die Musik ein. Es war ein behäbiger Marsch, langsam und melancholisch, wie es dem Ende des Jahres 341 nach der Umwälzung angemessen war.

Neben dem Hofrichter lächelte Fürst Stephan milde in seinen dichten Bart. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann, der, anders als die anderen älteren Ritter, weder Gewicht angesetzt hatte noch in Träumen versunken war. Es hieß, sein exzentrisches Wesen hätte ihm seine Gesundheit erhalten – das und die Gabe, sich über fast alles zu amüsieren, was im Turm und im Orden geschah.

Heute abend aber fiel dem Alten das Lachen schwer. Das Ende seines fünfundachtzigsten Jahres rückte heran, und damit – wie immer – diese Zeremonie des Gedenkens, bei der die Säle voller Fahnen waren. Er war das alles leid: den Pomp, die Trompeten, den endlosen Winter, den bitterkalten Dezemberwind aus dem Vingaard-Gebirge.

Fürst Stephan hob das Glas, und mit gesenkten Augen füllte Jack es erneut mit bernsteinfarbenem Kharoliswein. Durch das goldene Glitzern betrachtete Stephan den Knappentisch neben dem Tisch von Fürst Bonifaz. Er konzentrierte sich dabei auf eine einzige, flackernde Kerze im Dämmerlicht, welches die Zeremonie vorschrieb.

Neben dieser Kerze saß gedankenverloren ein junger Mann. Es war Sturm Feuerklinge. Ein Südländer aus Solace, obwohl seine Familie aus dem Norden stammte und von jeher dem Orden angehörte.

Das Ebenbild von Angriff Feuerklinge, dachte Fürst Stephan. Von Angriff Feuerklinge und von Emelin vor ihm, und von Bayard und Helmar und jedem Blitzklinge bis zurück zu Bertel, der die Linie im Zeitalter der Macht begründet hatte.

Sturm hätte sich über Stephans Gedanken gefreut, denn schließlich war er nach sechsjährigem Exil in das geplagte Solamnia zurückgekehrt, um seinen Platz in dieser Reihe einzunehmen. Mit zehn Jahren hatte man ihn in einer Winternacht aus Schloß Feuerklinge herausgeschmuggelt, und sein Vater existierte für ihn kaum mehr als Person, sondern nur noch in einigen wenigen Bildern und Episoden. Von Anfang an hatte Angriff Feuerklinge sich auf die solamnischen Pflichten konzentriert und den Jungen der Obhut seiner Mutter und der Dienerschaft überlassen.

Sturm jedoch hatte sich aus seinen spärlichen Erinnerungen, aus den Geschichten seiner Mutter und zweifellos aus eigener Phantasie einen Vater zusammengereimt. Angriff wurde immer netter und mutiger, je länger der Junge von ihm träumte, und solche Träume wurden seine einzige Zuflucht in Abanasinia, fern von den Höfen von Solamnia, unter gleichgültigen Südländern in einem unbedeutenden Nest namens Solace. Dort erzog ihn seine Mutter, Fürstin Ilys, mit mehr Tutoren als Freunden, dort lehrte sie ihn höfisches Benehmen, die alten Sagen und die Geschichte der Familie…

Und verdarb ihn, sinnierte Fürst Stephan lächelnd, für alles andere als die Ritterschaft von Solamnia.

Ilys war an der Pest gestorben. Es hieß, der Junge hätte seine wenigen Freunde fortgeschickt, um allein und schweigend die vorgeschriebene Totenwache zu halten. In jenem Herbst kümmerten sich die Fürsten Gunthar und Bonifaz, einst Angriff Feuerklinges engste Freunde, darum, daß Sturm nach Burg Thelgaard zurückkehrte, um dort weiter für den Orden erzogen zu werden.

Sturm hatte sich im Norden nicht leicht eingelebt. Er war intelligent, soviel war sicher, und die Jahre der stolzen Armut hatten ihn auf manche Weise abgehärtet, um die die Jungen aus dem Norden ihn insgeheim beneideten: Er kannte sich in den Wäldern aus und konnte wie ein erfahrener Ritter reiten. Aber sein südländisches Verhalten und das altsolamnische Getue kamen den modernen jungen Männern, den Knappen und Rittern der wichtigen solamnischen Familien, wie Überbleibsel aus der vorherigen Generation vor. Sie nannten ihn »Opa Sturm« und lachten über seinen Dialekt, die unendlich vielen Werke, die er auswendig kannte, und seine Versuche, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen.

Einst hatten sie auch seinen Vater verlacht, überlegte Stephan. Einige hatten noch bis zur Nacht der Belagerung gelacht.

Es war schwer für Sturm, nicht nur heute, sondern jeden Abend.

»Wo ist denn dein Banner, Feuerklinge?« zischte ihm Derek Kronenhüter spöttisch zu. Er war der Neffe des großen Schwertkämpfers und unermeßlich stolz auf seine Familienbande, auch wenn er bis jetzt nicht bewiesen hatte, ob er mit seinem legendären Onkel mehr als Blut und Namen gemein hatte.

Derek grinste höhnisch, doch seine dicken Kumpane, lauter Anhänger der Kronenhüter von Nebelhafen, unterdrückten ihr Lachen. Zwei von ihnen starrten nervös zur großen Tafel hinüber, wo die versammelten Fürsten ganz in Erinnerungen und Rituale vertieft dasaßen, vom ältesten Sagenmeister und Berater bis zu den jüngsten Kriegsführern wie Gunthar und Bonifaz. Als sie sich versichert hatten, daß die Blicke ihrer Herren anderswo weilten, stimmten sie jedoch in das feixende Gelächter ein.

»Sei still, Derek!« flüsterte Sturm Feuerklinge, der die braunen Augen nicht aufschlug. Er wußte selbst, das war eine schwache Gegenwehr, doch mehr konnte er gegen die gehässigen Scherze der anderen Knappen nicht ins Feld führen. Derek war am schlimmsten, so aufgeblasen und stolz, wie er seines Status’ als Fürst Bonifaz’ Lieblingsknappe wegen war, aber schwierig war es mit allen. Seine Freunde Caramon und Raistlin hatten Sturm am Feuer beim Bier immer wieder gewarnt, im Turm des Oberklerikers blase ein scharfer Wind, und die Gespräche seien oft politisch. Wenn Sturms Kameraden mit ihren spitzen Worten und verletzenden Scherzen über seinen vermißten Vater über ihn herfielen, kam er sich wie ein Bauerntölpel am falschen Platz vor.

Und war er das nicht auch?

Sturm wurde rot vor Zorn. Unterm Tisch ballte er die Fäuste, bis die Knöchel weiß anliefen. Derek schnaubte triumphierend und drehte sich zur Mitte des Saals um, wo die Zeremonie ihren Fortgang nahm, wie es seit tausend Jahren in diesem Raum hier Brauch war. Der Harfner, ein silberhaariger Elf in einer schlichten, blauen Tunika, war aus dem Gewoge der Banner herausgetreten und hatte dort, im rötlichen Lichtschein, der von den Fackeln ringsumher geworfen wurde, das ehrwürdige Lied von Huma angestimmt, jenes alte Konglomerat von Mythen und hochtrabenden Heldengeschichten. »Aus dem Dorfe«, begann es…

aus den armen, bedrängten Landen,

Aus Grab und Acker, Acker und Grab,

Wo erstmals sein Schwert

die letzten, grausamen Schwünge der Kindheit beschrieb,

Und er erkannte den endlosen Rückzug der Lande,

wie ein Leuchtfeuer strahlte er,

Stets vom gleitenden Flug des Eisvogels beschirmt…

Die Ritter begannen, die Worte stumm mitzusummen, und allmählich erhob sich das Lied in dem fackelerhellten Saal – die Legende von Humas Liebe und Opfer und Aufbahrung. Sturms Zorn legte sich, als er wie die übrigen jungen Männer um ihn herum die Welt der Geschichte betrat.

Sturm kannte die Tradition. Wenn das Lied perfekt und einstimmig gesungen wurde, in einer besonders glückverheißenden Nacht, zur Julzeit oder in der Mittsommernacht, dann würde Fürst Huma selbst zurückkehren und zwischen den Sängern Platz nehmen. Darum wurde der erste Platz am ersten Tisch immer frei gehalten. Langsam fiel der Junge ein, flüsterte die Worte, die sich wie ein sanfter Wind erhoben, von dieser klaren, singenden Elfenstimme und von dreihundert anderen, die flüsterten. Nur die Jüngsten hofften noch, daß in dieser oder irgendeiner anderen Julnacht etwas Außergewöhnliches geschehen würde.

So ging es weiter in monotonem Singsang, bis ein plötzlicher Flötenton alle aufschreckte.

Wild und mutwillig perlte die grelle Melodie von den Dachsparren herunter. Wie ein Regen aus grüngoldenem Licht verjagte die Musik die Schatten aus dem großen Saal und verblüffte die überraschten Ritter. Wie auf Kommando kamen das Flüstern und das Lied des Barden zum Schweigen, als die neue, disharmonische Musik anschwoll, schneller wurde und den ganzen Raum mit ihren Tönen füllte. Es war wie Vogelgezwitscher, wie das Summen der Bienen, wie das Heulen des Windes durch die hohen, immergrünen Zweige. Später würden sich alle Ritter unterschiedlich daran erinnern, und wie sie es auch beschrieben, sie wußten, daß es nicht das wahre Lied war, denn das war lang und ständig im Wandel.

Wie vom Donner gerührt, stützte Sturm sich auf den Tisch. Das Holz erzitterte unter seinen verkrampften Händen, und die Kelche klirrten absurd, als sie auf den Steinboden fielen und zerbrachen. Der süße Holzrauch in der Luft wurde plötzlich zu einem scharfen, wäßrigen Parfüm, dem Geruch von verschüttetem Wein, dann von frischen Trauben und Erdbeeren, dann die unerwartete, berauschende Frische der Blätter. Die Fackeln um die Tische erloschen, und auf einmal, ganz überraschend, lag der große Ratssaal in silbernem und rotem Mondlicht.

»Großer Solin und Luin!« stieß Sturm atemlos aus, während er entsetzte Blicke mit Derek Kronenhüter tauschte.

Dann erschien der Herr der Wildnis über ihnen in den Dachsparren, umgeben von Musik und grünen Funken. So jemanden hatte Sturm noch nie gesehen. Die Rüstung des Mannes glänzte im wachsartigen, schattenlosen Grün der Stechpalme. Rote und grüne Rosen waren auf seinen Brustharnisch geprägt, und aus seinen Handschuhen und Beinschienen flossen Kaskaden von Blättern und roten Beeren, die in der leblosen Mittwinterhalle wie eine Vorahnung des Frühlings wirkten. Auf seinem Gesicht leuchteten und tanzten weitere Blätter wie grünes Feuer, wie ein Heiligenschein aus grasgrünem Licht, in dessen Mitte die großen, schwarzen Augen hin und her schossen und glitzerten und lachten. Er war ein großer, grüner Vogel oder eine Art Dryade, und wieder hob er die Flöte an die Lippen, und wieder ertönte die Musik. Mit erstaunlicher Leichtfüßigkeit sprang er auf den Boden.

Langsam und mit strenger, mißbilligender Miene erhoben sich Fürst Alfred, Fürst Gunthar und Fürst Stephan, deren Hände auf den Heften ihrer Schwerter lagen. Sir Adamant Jeoffrey und Fürst Bonifaz von Nebelhafen traten hinter ihren Tischen hervor und näherten sich der Mitte des Saals, um dann plötzlich mit ungewöhnlich vorsichtigem Ausdruck stehenzubleiben. Die Diener flüchteten in die hintersten Ecken des Saals, als weitere Gläser zerbrachen und Silber klirrend auf dem Steinboden landete. Das seltsame Blattmonster hockte in der Mitte des Saals, während sich der Elfensänger seine Harfe schnappte und sich schimpfend mit mißtönend schwingenden Saiten, den Mantel voll Stechpalmenblätter, davonmachte.

»Wer bist du?« fragte Fürst Alfred mit donnernder Stimme. »Wie kannst du es wagen, unsere Feier zu stören?«

Der grüne Mann drehte sich einmal um sich selbst, wobei seine Flöte irgendwo in dem Dschungel aus Blättern und Rüstung verschwand, der ihn bedeckte. Leise hörte Sturm das Echo der Musik von der Treppe her, Echo auf Echo, bis die Melodie schließlich außerhalb seiner Hörweite angelangt war.

»Ich bin Vertumnus«, sagte der Eindringling mit tiefer, sanfter Stimme. »Ich bin der Wechsel der Jahreszeiten, und ich bin der Hort der vergangenen Jahre.«

»Und Glockenturm für tausend Fledermäuse«, murmelte Derek, doch ein eisiger Blick von Fürst Gunthar brachte den jungen Mann zum Schweigen.

»Und was«, fragte Fürst Alfred, »wünscht… Herr Vertumnus an diesem Julabend von uns?« Der Hofrichter war nervös und förmlich, und seine Finger fuhren über den goldenen Handschutz seines Schwerts.

»Ich möchte etwas sagen, das mir sehr am Herzen liegt«, verkündete Vertumnus, der sich einfach auf den Boden setzte.

Er nahm den Helm ab. Grünes Feuer tanzte um seine Schläfen.

Sturm runzelte argwöhnisch die Stirn. Er wußte, daß böse Zauberer unterhaltsam auftraten und ihre Opfer drängten, weniger nüchtern und besonnen zu sein. Und schließlich weniger gut. Dann, wenn man in Lachen und Singen versunken war, würden sie…

Was sie dann tun würden, wußte er nicht. Aber es konnte einen vernichten.

»Ihr Solamnier versammelt euch zum Jahresende in diesen Hallen wie Eulen«, erklärte Vertumnus, »jammert über die dunklen Zeiten und die Vergangenheit und darüber, daß die Welt der Zeitalter der Träume und der Macht vergangen ist. Seht euch um – der Turm des Oberklerikers ist ein Spiegelsaal. Ihr könnt euch in jeder Ecke, jedem Winkel sehen und eure eigene Wichtigkeit bewundern und polieren.«

»Mit Verlaub, Fürst Alfred«, unterbrach Fürst Gunthar mit halbgezogenem Schwert. »Mit Verlaub, ich möchte dieser… dieser Bienenweide da die Tür zeigen und vielleicht auch den kürzesten Weg den Berg hinunter.«

Vertumnus lächelte drohend, wobei sein wettergegerbtes Gesicht sich wie die Borke eines riesigen Vallenholzbaums verzog. Die Fahnen hoben sich in einem der Jahreszeit nicht angemessenen warmen Wind. »Es soll doch nicht heißen«, sprach er gelassen, »daß Fürst Gunthar auf Worte, Witz oder Diplomatie verzichtet, sobald Schwert, Streitkolben oder Lanze zur Hand sind.« Das leise Rascheln seiner Stimme war selbst in den entferntesten Ecken des gewaltigen Saals überraschend gut zu vernehmen.

»Schöne Worte werden dir nichts nützen, Vertumnus«, drohte Gunthar, ohne auf die Beleidigung einzugehen.

Der Herr der Wildnis lachte nur. Nachdem er unter Rüstungsgeknarr und Blättergeraschel aufgestanden war, wedelte Vertumnus mit seiner Flöte zu dem leeren Stuhl am vordersten Tisch. Es war eine skurrile Geste, die unpassend, ja, obszön wirkte. Den älteren Rittern verschlug es den Atem, und viele von den jüngeren griffen zum Schwert. Ruhig und ohne Eile drehte sich Vertumnus geschmeidig um, wobei er die Flöte wie einen Säbel schwang. Es gab ein gespenstisches Pfeifen, als er sie durch die Luft zog, und Sturm sah fasziniert zu.

»Was ich sagen will, ist dies: Es gibt einen leeren Platz«, stellte Vertumnus fest. »Nicht für einen Gast, einen Bettler, ein Waisenkind, einen Fremden – nicht für einen von denen, die ihr eurem Eid zufolge schützen und verteidigen sollt. Und der Platz ist nicht nur heute leer, sondern immer. Ein Platz für den Gecken und Laffen.«

Fürst Alfred Merkenin funkelte Vertumnus an, der unbeirrt fortfuhr.

»Denn der Eid, den ihr in diesem Hort von Schwüren geleistet habt«, erklärte Vertumnus, dessen wilde Augen auf den leeren Stuhl geheftet waren, »ist düster und ernst und weise in den Tiefen der Nacht. Aber ihr befolgt ihn freudlos. Das zeigt selbst dieses Fest.«

»Wer bist du, Fremder, daß du uns über unsere Freuden und Feste belehrst?« brauste Fürst Alfred auf. »Ein Ding aus Blättern, Fetzen und Lumpen, das von dem Stuhl für Huma spricht?«

Gunthar und Stephans Mienen gaben im unsteten Licht keinen ihrer Gedanken preis. Auf einmal trat Fürst Alfred um seinen Tisch herum, zeigte auf den grünen Mann und redete in dem Ton zu ihm, der normalerweise Pferden, Handlangern und unwissenden oder unbelehrbaren Knappen vorbehalten war.

»Wer bist du, daß du unsere Bräuche in Frage stellst, die tausend Jahre, die wir auf unsere Träume warten? Du – du wandelnder, trötender Salat!«

»Alter!« gab Vertumnus zurück, der mit einem Satz kurz vor dem Hofrichter gelandet war. »Du leerer, vergoldeter Brustharnisch! Du hirnloser Helm, du schlaffe Fahne! Du Maske von Gesetz, du Mangel an Gerechtigkeit! Du Zählstab! Du sturer Esel, der seine Nase in Briefe steckt und auf einer toten Ebene nach Ehre sucht! Wenn dich ein prophetischer Wind erfaßte, so hieltest du ihn für das Furzen deiner Brüder!«

Sturm schüttelte den Kopf. Diese merkwürdigen Beschimpfungen waren zu verdreht, fast schon kindisch, als fände hier ein Bardenduell statt, oder, schlimmer noch, zeterten die Vögel auf den Dächern. Fürst Alfred Merkenin war der Hofrichter des solamnischen Ordens, dem man sich respektvoll, ehrerbietig und pflichtschuldigst zu nähern hatte, aber der grüne Mann ließ Worte auf ihn herabregnen, daß der Hofrichter nur noch sprachlos dastand, ins Wanken geriet und verstummte.

Rings um Sturm hüstelten seine Kameraden und blickten betreten zur Decke. Für eine Bande Jungs, die gern die Kräfte maßen, waren auch sie merkwürdig still. Gelegentlich brach ein vorsichtiger Lacher aus den Schatten, aber kein Knappe wagte es, die anderen anzusehen, und keiner wagte ein Wort.

Jetzt trat Fürst Stephan vor, dessen Augen mit einem Mal amüsiert aufblitzten. Sturm runzelte die Stirn, denn der alte Mann war schon selbst ein halber Wilder, wenn er die jungen Ritter aufzog, weil sie sich so streng an den Eid hielten, und wenn er über die endlosen Spitzfindigkeiten des Maßstabs lachte, wo selbst für den jüngsten Solamnier Sprache und Tischmanieren verewigt waren.

Es war eine Folge der Kopfwunde, die er vor sechzig Jahren in einem finsteren Paß von Neraka erlitten hatte. Seit damals war er anders und oft respektlos. Er schien diesen schrillen Wortwechsel zu genießen, und Sturm stellte mit wachsender Beklemmung fest, daß der alte Mann sich räusperte.

»Was willst du von uns, Herr der Wildnis?« fragte der Alte, dessen Stimme trotz seiner fünfundachtzig Jahre noch laut und fest klang. »Was willst du von uns, wenn wir Heuchler und maskenhafte Gesetzeshüter sind? Ich sehe weder Witwen noch Waisen bei dir. Was hast du für die Armen, die Ausgestoßenen und die Unglücklichen getan?«

»Ich habe dich dazu gebracht, diese Frage zu stellen«, erwiderte Vertumnus mit schlauem Lächeln. »Du bist ein alter Fuchs, Stephan, mit mehr Weisheit gesegnet als der Rest dieser hier versammelten Hohlköpfe. Und doch läuft der alte Fuchs in seinen eigenen Fußstapfen zurück, folgt seiner eigenen Fährte, bis er den Wald umkreist und im Nichts verschwindet.«

»Bilder statt Taten, Herr der Wildnis?« fragte Stephan, dessen weißer Bart sich wie Nebel hob, als er sich ächzend und mit knackenden Knien direkt vor dem grünen Mann aufbaute, der weder mit der Wimper zuckte noch zurückwich.

»Was ich für Waisenkinder tue, geht euch nichts an«, antwortete Vertumnus ruhig, »denn das ändert nichts an den zerfallenen Ländereien von Solamnia, den verlassenen Dörfern, den Bränden, den Hungersnöten und den neuen, unbekannten Drachen. Kein Waisenkind hier würde mich in Frage stellen. Nein, es würde in meine Klage einstimmen.«

Er machte eine Pause, in der seine dunklen Augen den Raum absuchten.

»Das heißt, falls eines hier wäre.«

Du irrst dich, Herr der Wildnis, dachte Sturm, dem es in den Füßen juckte vorzutreten.

Aber nein. »Waisenkinder«, hatte er gesagt.

»Außerdem«, fuhr Vertumnus fort, »ich habe nicht geschworen, sie zu beschützen.«

Eine Fackel flackerte spuckend in dem Halter neben Sturm Feuerklinge auf, während Vertumnus wieder die Flöte an die Lippen setzte.

Seine Melodie schwebte traurig und gespenstisch durch den Saal, und Sturm vermeinte, darin etwas von Herbst und Sterben und einer Zeit zu hören, die unmöglich vergangen sein konnte. Es war eine dünne, melancholische Musik, und die toten Blätter trieben wie Geister in Gelb, Schwarz und grellem Rot durch die Halle, als würden sie vor einem Zauberer flüchten.

Er ist ein Zauberer, dachte Sturm. Er redet doppeldeutig und in Rätseln. Hör ihm nicht zu. Hör nicht zu.

Vertumnus trat noch einen Schritt vor. Er stand unmittelbar vor dem alten solamnischen Fürsten, und ihre Blicke trafen sich ohne Zorn, und sie wechselten ihre Worte so leise, daß selbst Fürst Alfred, der keine zwei Schritte von Fürst Stephan entfernt war, später schwor, er hätte nicht verstanden, was sie sagten. Dann wich der grüne Mann ein wenig zurück und lachte, und aus Fürst Stephan Peres sproß unvermittelt Blattwerk.

Schößlinge, Ranken und Zweige schmückten die Rüstung des alten Mannes, Blätter drangen durch seinen Bart, und Ranken verstrickten sich mit seinen Fingern. Vertumnus trat in die Mitte des Saals zurück und spielte wieder auf seiner Flöte, diesmal eine fröhliche Sommerweise, woraufhin der elegante, alte Herr, der lange Jahre als Haushofmeister den fehlenden Oberkleriker ersetzt hatte, jetzt lieblich in hundert blauen Blümchen erblühte und ein Schwarm gelber Schmetterlinge aus dem Nichts von den winterlichen Dachsparren heruntersank und sich auf Fürst Stephan Peres niederließ.

»Das reicht!« rief Fürst Gunthar aus und trat mit erhobenen Fäusten vor, doch die Beine seines Tisches schlugen ebenfalls aus, und knorrige Wurzeln schlängelten sich vor, wickelten sich um seine Knöchel und hielten ihn auf seinem Weg zur Saalmitte auf. Stephan machte ein Zeichen, aber dessen Bedeutung ging zwischen den Blumen verloren. Vertumnus wich dem angreifenden solamnischen Fürsten gewandt aus, als Gunthar gegen einen Tisch rannte, an dem die Brüder Jeoffrey saßen. Gläser, Geschirr und die Jeoffreys stoben nach allen Seiten auseinander. Der junge Jack, der offenbar auf der Suche nach den besseren Resten des Banketts unter den Tisch gekrochen war, brachte sich eilig in Sicherheit, als der Tisch zusammenbrach und dann im Boden Wurzeln zu schlagen begann. Aus den dunklen Brettern drangen Knospen und Äste hervor.

Jemand stieß Sturm zur Seite. »Für Eid und Maßstab!« rief Fürst Bonifaz und stürmte hastig in die Mitte des Saals. Sein Schwert war erhoben, der Schild bereit, die kalten, blauen Augen so hell wie gehärteter Stahl, denn ein Kampf stand bevor. Vertumnus fuhr herum, machte in Richtung des Ritters eine Handbewegung und wandte sich dann dem Jeoffreybruder zu, der gerade heranstürmte. Bonifaz fiel der Länge nach auf den Steinboden, da seine Hose merkwürdigerweise über die Knöchel heruntergerutscht war.

Der Jeoffrey überlegte es sich noch einmal und wurde plötzlich ohnmächtig, woraufhin Vertumnus auf einen anderen Tisch sprang, um dem Griff des zweiten Jeoffrey auszuweichen, der sich unvermittelt wie ein junger Baum am Boden angewachsen fand. Der junge Ritter schrie auf, und dann senkte sich eine beredte Stille über den Saal, in dem ein Dutzend Männer zum Angriff bereit waren, während ihr einziger Gegner auf einem Bein auf dem Tisch herumhüpfte und die Flöte abermals zum Spiel erhob.

Das ist unwürdig, dachte Sturm. In höchstem Maße und absolut unwürdig. Er bemerkte Dereks Blick; dennoch trat Sturm vor, ohne überhaupt zu überlegen, was er da tat, und zog sein Kurzschwert. Bis auf das Schwert des gründlich blamierten Bonifaz war es die einzige blanke Klinge im Saal. Es hatte noch nie Blut vergossen.

Vertumnus wirbelte zu dem Jungen herum und hörte dann auf zu tanzen. Ein trauriger Schatten überzog sein Gesicht, und er nickte. Wie aus widerstrebender Übereinkunft kam er herunter, steckte seine Flöte weg, zog sein eigenes, riesiges Schwert und trat in die Mitte des großen Saals. Die Ritter von Solamnia standen hilflos angewachsen mitten im grünen Dickicht zerbrochener Tische. Sie spähten durch die Blätter und Schatten und sahen, wie die beiden Schwertkämpfer einander umkreisten, der grüne Mann und der grüne Junge.

Sturm wußte augenblicklich und zu spät, daß er unterlegen war. Vertumnus hatte die gedankenlose Anmut eines perfekten Schwertkämpfers, und in seiner Hand wurde die Klinge lebendig. Er redete auf Sturm ein, als sie einander umkreisten, und seine Worte waren so sanft und eindringlich wie der Wind. Er ließ den Jungen nicht aus den Augen.

»Weg damit, Junge«, flüsterte Vertumnus, dessen schwarze Augen flackerten. »Du weißt nicht, an welchen Wald du rührst, wo die Klinge gegen Finsternis und Dornen versagt…«

»Genug der Worte!« stieß Sturm hervor. »Mein Schwert für Feuerklinge und den Orden!« Wenigstens sollte sein Auftritt einen guten Eindruck hinterlassen.

Aber sein Stoß war zögerlich und langsam. Vertumnus wehrte ihn mit Leichtigkeit ab.

»Für Feuerklinge und den Orden?« zischte der wilde Kerl plötzlich hinter dem Jungen, der ins Stolpern geriet, als er herumfuhr. »Für den Pfuscherorden ohne Biß? Für einen Vater… deinen Vater… der mit solamnischer Ehre nichts im Sinn hatte?«

»Nichts im Sinn?« Sturms Hand zuckte, als seine Stimme dünner wurde. Vertumnus zog sich ein Stück zurück und musterte den Haupteingang des Ratssaals, wo es zur Treppe und zur Winternacht hinausging. Sturm glaubte, Dereks gehässiges Lachen zu hören. »Nichts im Sinn? Ww-was soll das…?«

Vertumnus’ dunkler, starrer Blick wandte sich ihm wild und raubtierhaft wieder zu. Mit einer schnellen Drehung aus dem Handgelenk, hell und flüchtig wie ein Sommerblitz, durchbrach sein Schwert Sturms unsichere Deckung und senkte sich tief in dessen linke Schulter.

Benommen und atemlos ging Sturm in die Knie. Seine Schulter, seine Brust und sein Herz glühten von grünem Feuer und sengendem Schmerz. Die Luft um seine Ohren summte wie das traurige, bedrohliche Lied eines Schwarms hartnäckiger Stechmücken.

Das ist also der Tod – ich sterbe – Tod – seine Gedanken rasten. Und plötzlich ließ der Schmerz nach, war nicht mehr unerträglich, sondern dumpf und bohrend, als sich die Wunde – zu Sturms Befremden – rasch und sauber schloß und das frische Blut auf seiner weißen Festtunika verblich.

Doch der Schmerz saß tief und versengte ihn so nachhaltig wie das Summen in der Luft.

»Sieh dich um, Junge«, sagte Vertumnus verächtlich. »Wo ist ein Platz für einen Mann wie deinen Vater unter solchen Männern?«

Sturm vergaß augenblicklich seine Wunde. Er schrie und sprang auf, doch seine junge Stimme brach vor innerem Aufruhr. Blind stürmte er auf Vertumnus zu und umklammerte mit beiden Händen sein Kurzschwert. Sein Gegner trat ruhig zur Seite, so daß die Klinge sich tief in einen Eichenast grub, der frisch aus der Mitte von Humas Stuhl gewachsen war.

Der Junge zerrte erfolglos an seinem Schwert, während er in Panik über seine schmerzende Schulter blickte, als der Herr der Wildnis drohend vortrat. Dann ließ Vertumnus langsam das Schwert sinken. Er musterte Sturm, der endlich seine Klinge aus dem harten Holz befreite, und lächelte, als der junge Mann wenig gewandt zu ihm herumwirbelte.

Vertumnus’ Grinsen war entwaffnend, so undurchschaubar wie der Rand der Wildnis. Es brachte Sturm noch mehr auf als seine Worte. Mit einem neuerlichen Schrei stürzte er sich auf seinen Gegner, und Vertumnus ging in die Knie, als der Junge ihm die Klinge in die Brust stieß.

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