2 Der Ruf des Maßstabs

Die Flöte fiel klappernd auf den Boden, wo sie liegenblieb. Auf der Stelle kehrte die winterliche Kälte zurück und umschloß eisig die Füße der Ritter. Die Halle war so still, als wäre die Luft gefroren.

»Sturm…«, setzte Fürst Stephan erstaunt an. Der junge Mann taumelte, zog mühsam sein Schwert heraus, und Vertumnus fiel schwer und offenbar leblos nach vorn. Gunthar rannte zu dem grünen Mann. Sturm zuckte zusammen, als die starke Hand von Fürst Stephan sich fest auf seine Schulter legte.

Der nasse Fleck auf Sturms Schwert war deutlich zu sehen, und seiner Blutrinne erhob sich der harzige Geruch von Nadelbäumen. Er fuhr ungestüm herum, worauf er Alfreds und Gunthars Verwirrung, Fürst Stephans merkwürdigen, verwunderten Blick und an dem zweiten Tisch den Zorn von Fürst Bonifaz bemerkte, der den Jungen ungläubig und voller Mißgunst ansah, ehe er sich bückte und seine Hose hochzog.

»Was hast du getan, Bursche?« bellte Alfred. »Was hast du…?« Die Frage hallte durch den Saal, der einzige Laut in der Totenstille.

Da sprang Vertumnus auf und schob den erstaunten Fürst Gunthar beiseite. Alles in der Halle holte erstaunt Luft, als hätte der Raum selbst den Atem angehalten. Als der Herr der Wildnis die Wunde in seiner Brust berührte, pulsierte sie und schloß sich wie eine Narbe in lebendem Holz. Gelassen suchten seine Augen den Blick von Sturm.

»So weit, so gut, kleiner Feuerklinge. Du hast gezeigt, was ich meinte«, verkündete Vertumnus, während die Steine zu seinen Füßen von dickem Moos überwachsen wurden.

»Der Rest ist deine eigene Unbesonnenheit. Du bist in mein Spiel eingetreten – das du deshalb jetzt bis zum Ende durchstehen mußt, woran deine Schulter dich Tag und Nacht erinnern wird.«

Vor dem Fenster sangen wieder die Vögel. Mit großen Augen sah Sturm von dem grünen Mann zu seinem noch nicht abgewischten Schwert, vom Schwert wieder zu Vertumnus. Sprachlos berührte der junge Mann ganz langsam seine Klinge. Sie war sauber und trocken.

»Wir treffen uns am ersten Frühlingstag«, ordnete Vertumnus mit erneutem, eigenartigem Lächeln an. »In meiner Burg im Südlichen Finsterwald. Komm allein, dann werden wir die Sache beilegen – Schwert gegen Schwert, Ritter gegen Ritter, Mann gegen Mann. Du hast deines Vaters Ehre verteidigt, jetzt fordere ich dich heraus. Denn jetzt bin ich dir einen Schlag schuldig, so wie du mir ein Leben schuldest. Denn in eurem geliebten Maßstab steht geschrieben, jeder, der einen Schlag erwidert, muß den ganzen Kampf ausfechten.«

Sturm sah sich verwirrt um. Gunthar und Alfred standen wie angewurzelt da. Fürst Stephan machte den Mund auf, aber er brachte kein Wort heraus.

Mit Augen wie ein Raubvogel nickte Fürst Bonifaz erwartungsvoll. Was Vertumnus über das Erwidern eines Schlages sagte, war wirklich im Maßstab niedergelegt. Sturm saß durch seine impulsive Tat in einem uralten Statut gefangen.

»Wenn es an der Zeit ist, werde ich dir den Weg dorthin zeigen«, gab Vertumnus bekannt. »Und zu gegebener Zeit wirst du dort vielleicht etwas über deinen Vater erfahren. Doch du mußt deinen eigenen Weg gehen. Triffst du mich nicht zur rechten Zeit am rechten Ort, ist deine Ehre für immer dahin. Und nicht nur deine Ehre steht auf dem Spiel.« Der Herr der Wildnis lächelte geheimnisvoll, ehe er fortfuhr. »Denn eigentlich schuldest du mir ein Leben, Sturm Feuerklinge, und das wirst du bezahlen, ob du zur vereinbarten Zeit eintriffst oder nicht.«

Theatralisch zeigte er auf die Schulter des Jungen.

»Du kannst wie ein Sohn des Ordens kommen und meine Forderung annehmen«, verkündete er, »oder du kannst dich in den Gängen dieser Festung verkriechen und das Aufblühen deiner Wunde erwarten. Denn die Spuren meines Schwerts blühen im Frühling, und die Blüten sind schrecklich und tödlich.«

Der Saal füllte sich weiter mit Blättern, mit Ranken und Schlingpflanzen, mit soviel Dornensträuchern, Wurzeln und Ästen, daß das Aufräumen mindestens eine Woche dauern würde. Der grüne Mann schloß die Augen, nickte mit dem Kopf und verschwand im Dickicht, während die Fackeln an den Wänden plötzlich in kaltem, weißen Feuer aufloderten. Erstaunt blinzelte Sturm in die Schatten, doch Vertumnus war wirklich verschwunden und hatte nur Nebel, Holzrauch und den feuchtverkohlten Geruch von Holz nach einem Blitzeinschlag hinterlassen.

»Von allem Unsinn, den du hättest anstellen können, Bursche«, erklärte Fürst Alfred betrübt, »von allem, was du hättest tun oder lassen können, war das eindeutig das Schlimmste.«

»Das Schlimmste?« fragte Sturm. »Ich… wieso…?«

Die jungen Ritter waren in ihrer nüchternen Tüchtigkeit bereits dazu übergegangen, den Saal von Dornen und Blättern zu befreien. Sturm stand mitten in der Aufräumerei und sah zu den Rittern auf, die sich neben Humas leerem Thron zusammengeschart hatten. Der junge Mann schüttelte den Kopf, wollte den Abend wie einen verwirrenden Traum wieder loswerden.

»Bitte folge mir, Sturm Feuerklinge«, bat Fürst Alfred mit inzwischen milderer Stimme. Gunthar und Stephan schlossen sich ihm an. Das Funkeln ihrer Prunkharnische blendete regelrecht. Aus den Trümmern, die Vertumnus’ Besuch hinterlassen hatte, traten Fürst Adamant und Fürst Bonifaz, um sich dem berühmten Dreigespann anzuschließen.

Wie Sonnen, dachte der Junge. Wie Sonnen und Kometen. Ich kann mich ihnen nicht nähern, kann sie kaum ansehen.

»Ich dachte…«, setzte Sturm an, doch in dem hallenden Saal klang seine Stimme dünn und schwach. Er konnte nicht sagen, was er gedacht hatte. Es fiel ihm nicht mehr ein.

Alfred nickte, und Fürst Gunthar trat vor, als Alfred den Platz des Jüngeren neben Stephan einnahm.

Hinter ihm ebbte das Sägen und Hacken ab. Nur die Diener kamen noch ihren Pflichten nach – der alte Reza und der Junge, Jack, fegten die Scherben der Kristallgläser auf. Die jungen Männer des Ordens, die sowieso nur widerstrebend Dienstbotenarbeit geleistet hatten, hatten innegehalten, um zu hören, welches Drama sich neben Humas Thron abspielte, und sich am Unbehagen und möglicherweise der Bestrafung von einem zu ergötzen, der schon fast in ihrem Alter war. Denn obwohl der Turm des Oberklerikers den ehrenvollen Tugenden des Maßstabs gewidmet war, waren auch Klatsch und – nicht immer freundliche – Rivalität in ihm zu Hause.

Fürst Stephan war auch auf diesem Kriegsschauplatz zu Hause. Er trat auf Sturm zu, und nachdem er den Jungen am Arm gefaßt hatte, führte er ihn an den gereckten Hälsen und den neugierigen Blicken vorbei direkt durch die Westtür in die Stille der Kapelle. Fürst Gunthar und Fürst Alfred folgten dichtauf, und hinter ihnen kam Fürst Bonifaz. Die im Ratssaal Verbliebenen nahmen ihre Pflichten wieder auf, wobei sie sich zweifellos gewaltige Geheimnisse und Strafen ausmalten, die im gedämpften Licht hinter den verschlossenen Türen besprochen werden würden.

In der Kapelle drückte Fürst Stephan den Jungen etwas unsanft auf eine Eichenbank am Fenster. Sturm hielt sich die Schulter und zitterte, als der Wind durch das alte Steinmaßwerk hinter ihm hineinkroch. Aber er zitterte auch angesichts der ehrwürdigen Bilder aus farbigem Glas: der Rose, der Bisonhörner, der gelben Harfe, der weißen Kugel, der blauen Spirale. Das alles war im silbernen Dreieck des großen Gottes Paladin versammelt, der alle Dinge umfaßt und sie zugleich durchdringt. Es waren Symbole des alten Pantheons, den der Orden trotz der finsteren Zeiten und der Gefahren Ansalons immer noch verehrte.

Die Regale bogen sich unter den dicken, ledergebundenen Bänden über Mathematik, Physik, Architektur – Fächer, denen der junge Mann aus dem Weg gegangen war, wenn er seine Mutter in Solace besucht hatte. »Sturm«, hatte sie ihn dann gewarnt, »jetzt sind für dich die Bücher dran. Schwert und Orden und Vater haben dich im Stich gelassen. Ein Gelehrter ist vielleicht kein reicher Mann, aber er hat etwas zu essen, sein Haus wird nicht angesteckt und sein Kopf nicht abgeschlagen.« Sturm runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Lady Ilys hatte diese Dinge aus dem innersten Raum des Häuschens gerufen, einer licht- und fensterlosen Kammer. Er hatte so getan, als würde er zuhören, und dann die Bücher weggelegt, um auf das Strohdach ihres Hauses zu klettern. Dort hatte er immer nur nach Norden geschaut, über die Ebenen von Abanasinia, wo der Horizont hell und eben wirkte. Doch selbst ein Junge konnte sich die stürmische Straße von Schallmeer und nördlich davon die südlichsten Küsten von Solamnia vorstellen.

Jetzt kam es Sturm so vor, als würden die Bücher in der Kapelle ihn und all die Jahre verspotten, die er zwischen Stroh und Eichhörnchen und Vögeln verschwendet hatte. Er war von Solace aus so weit gereist, nur um wieder in einen dunklen Raum mit denselben Büchern geschleppt zu werden, und zwar, wie er nun merkte, wegen einer höchst finsteren Angelegenheit.

»Es ist nicht allein deine Schuld, Bursche«, fing Fürst Stephan versöhnlich an, doch Sturm bemerkte die eigenartige Verwirrung in seiner Stimme, als der alte Mann mit gesenkten Augen vor dem Altar auf und ab schritt. »Nicht allein deine. Dieser Vertumnus hat uns anscheinend alle überrascht und durcheinandergebracht.«

»Wie konnte das nur geschehen, Fürst Gunthar?« fragte Bonifaz spöttisch. »Ich nehme an, die Bewachung des Saals stand unter Eurem… fähigen Kommando, wie bei jedem Festmahl.«

Gunthar schnaubte wütend und lehnte sich an die Tür der Kapelle. Nachdem sie ihr ganzes Leben lang Rivalen gewesen waren, machten sich die beiden besten Schwertkämpfer keine Zuneigung mehr vor.

»Darum kümmere ich mich bereits, Bonifaz! Kein Bedarf an Eurem verdammten Hohn!« grollte er, während er mit düsterer Miene die Brauen zusammenzog.

»Schön…«, unterbrach Fürst Stephan, dessen trockene Stimme beruhigend klang. »Wie es auch dazu gekommen sein mag, nun haben wir endlich den sagenhaften Herrn der Wildnis kennengelernt, und er ist genauso merkwürdig, wie die Geschichten berichten.«

»Geschichten?« rief Sturm aus, der fast aufgesprungen war. »Soll das heißen, Ihr kanntet dieses Ungetüm und… und…«

»Wir kannten ihn«, entgegnete Alfred. »Der Herr der Wildnis ist sagenumwoben, und ein solamnischer Ritter, der diese Sagen nicht kennt, muß schon taub sein. Wir wußten von ihm, haben ihn aber noch nie gesehen. Wie hätten wir diesen Besuch erwarten können? Dieses wilde Gewucher von Ranken?«

Gunthar warf Fürst Bonifaz einen wütenden Blick zu, und die vier Ritter versanken in ihre Gedanken.

»Es ist schon spät«, meinte Alfred nach einer langen Pause, »und unsere Gedanken werden allmählich wunderlich. Vielleicht sollten wir besser morgen früh darüber reden, wenn die Sonne scheint, als jetzt im zweifelhaften Licht der beiden Monde.«

»Ich stimme Fürst Alfred zu«, schloß sich Fürst Bonifaz an, und auch Fürst Gunthar nickte.

»Aber, Moment mal. Wer ist Vertumnus?« fragte Sturm.

Unbehaglich sahen die Ritter einander an.

»Ich habe gehört«, fing Fürst Alfred an, »daß er ein abtrünniger Ritter ist, dessen Pfad sich mit dem von Elfen und allen möglichen absonderlichen Geschöpfen des Waldes kreuzt. Ich habe gehört, daß er dort unten im Südlichen Finsterwald eine Räuberbande aus Neraka anführt.«

»Ich habe gehört, Vertumnus sei ein Druide«, erklärte Fürst Gunthar. »Ein mächtiger, heidnischer Priester, dessen Herz so hart und knotig wie Eiche ist. Sein Heiligtum im Finsterwald ist ein abweisender Ort, wo Vögel die letzten Worte von Schurken singen und die Toten wie Obst von den Bäumen hängen.«

Sturm runzelte die Stirn. Das klang sogar noch phantastischer als der abtrünnige Ritter.

»Und ich habe gehört«, fiel Fürst Stephan ein, der Staub hochtrat, »daß sein Blut reine Hexenkraft ist und seine dunklen Augen aus Stein vom schwarzen Mond Nuitari gemacht sind. Ich habe gehört, der Südliche Finsterwald ist reine Illusion, ein Kind des Schwarzen Mondes und der Träume des Zauberers.«

»Und dennoch besucht er uns am Julabend?« fragte Sturm. »Und, ob Zauberer oder Druide oder Raubritter, wir lauschen ihm gebannt? Wie… wie konnte das geschehen? Und weshalb?«

»Ich nehme an«, stellte Fürst Bonifaz trocken fest, »Fürst Gunthar wird bald eine Antwort darauf haben. Wie ein einzelner Mann sich durch Postenreihen der besten jungen Männer von Solamnia schleichen konnte, und das mit diesem großen Keiler bei sich…«

»Großer Keiler?« riefen die anderen vier und drehten sich allesamt zu Fürst Bonifaz um. Der große Ritter runzelte die Stirn, als Alfred ihm unsicher die Hand auf die Schulter legte.

»Wir… wir haben keinen Keiler gesehen, Fürst Bonifaz«, erklärte der Hofrichter. »Vielleicht das Durcheinander des Abends… oder der Wein…«

»Ich sage Euch, was ich gesehen habe, war ein Keiler!« beharrte Bonifaz wütend. »Und wenn ich ihn gesehen habe, dann war er auch da, bei Paladin und Majere und jedem anderen guten Gott, der Euch einfällt!«

»Sei es, wie es will, wir haben keinen Keiler gesehen«, wiederholte Alfred geduldig. »Nur den Schwarm Raben im Gebälk…«

Er hielt inne, als die anderen Ritter ihn verwirrt anstarrten.

»Ihr… Ihr habt keine Raben gesehen«, schloß er matt. »Keiner von Euch.«

»Ich habe nicht nach oben gesehen«, beruhigte ihn Stephan. »Aber, bei Paladin und allen anwesenden Göttern, ich erinnere mich an die schrillen, unverschämten Dryaden, die der grüne Mann mitgebracht hat.«

Jetzt wurde er neugierig angestarrt. Die Ritter waren aufs höchste verwundert.

»Auch etwas aus Korn und summenden Bienen«, murmelte Stephan, »und ein großer Bär, kein Keiler, der in der Mitte tanzte.«

»Nein, nein«, korrigierte Gunthar. »Es war nur Vertumnus da. Dessen bin ich mir ganz sicher.«

»Ein Spiegellabyrinth, die ganze Sache«, murmelte Stephan.

»Aber das Blutvergießen?« fragte Sturm. »Das Harz, das aus der Wunde floß?«

»Harz?« fragte Fürst Bonifaz ungläubig. Vier solamnische Augenpaare wandten sich dem Jungen zu, als hätte er plötzlich bekanntgegeben, daß die Monde vom Himmel gefallen waren.

Stephan lachte in sich hinein, wurde dann aber plötzlich traurig, als er den zitternden Jungen ansah, der vor ihm auf der ungemütlichen Bank saß. »Was wir auch gesehen haben, Sturm, das Problem ist, daß wir uns einig sind, daß du verwundet wurdest, daß du den Herrn der Wildnis aus Wut niedergestochen hast, und daß wir alle anschließend seine Forderung gehört haben.«

»Der Junge wurde verwundet?« fragte Gunthar alarmiert. Er trat auf Sturm zu und streckte die Hand aus. »Wo hat er dich getroffen, Sturm?«

»An der Schulter«, antwortete der Junge und zeigte auf die Wunde…

… die restlos verschwunden war. Der reinweiße Stoff seiner Festtunika bedeckte ohne Fleck oder Riß die Stelle, wo die Wunde leise pochte. Sprachlos und staunend untersuchten Gunthar und Alfred Sturms Schulter.

»Was du auch fühlst«, erklärte Alfred ruhig, »ich sehe keine Wunde. Und dennoch würde eine Wunde logisch sein. Sonst ergäben die letzten Drohungen dieses grünen Monstrums keinen Sinn.«

Er blickte die anderen Ritter an, die ernst nickten.

»Ob du nun verwundet bist oder nicht, Sturm Feuerklinge«, fuhr Fürst Alfred fort, der wie ein Weiser oder ein Anwalt belehrend den Zeigefinger hob, »das Problem bleibt uns. Egal, woran wir uns erinnern, das – dieses Fechten und Töten und Wiederaufstehen und… und Harztropfen, von mir aus – das ist wichtiger als Dryaden oder Keiler oder auch als deine Wunde. Denn Vertumnus hat dich angesprochen, und seine Forderung galt dir.«

»Allerdings«, sagte Fürst Bonifaz nachdrücklich, aber nicht unfreundlich. »Und jetzt müssen wir entscheiden, was das bedeutet.«

Sturm blickte in der schwach beleuchteten Bibliothek von einem zum anderen. Die Schatten im Raum waren bereits nicht mehr pechschwarz, sondern eher dämmriggrau. War die Zeit so schnell vergangen – wie die Jahre in Solace – einfach, weil Sturm nicht darauf geachtet hatte?

Sturm war beinahe erleichtert, als ein leises Pochen an der Tür die Ankunft der Turmwachen ankündigte. Genauer gesagt waren es zwei Männer der Kompanie, denen die Ehre oder das Unglück zugefallen war, für die sechzig Mann zu sprechen, die die Festung und die Zeremonien zu bewachen hatten. Schamrot bis zu den Ohren, mit hängenden Schultern und niedergeschlagenen Augen standen sie in der Tür.

Die sechzig Wachen waren erfahrene Fußsoldaten aus ganz Solamnia, die vom Orden gedrillt worden waren und in den Kriegen gegen Neraka geblutet hatten. Das waren keine Männer, die auf ihren Posten einnickten.

Aber fünfzig von ihnen hatten eine leise, klagende Melodie in der Winternacht vernommen. Einige schworen, das, was sie im kühlen Dezemberwind gehört hatten, sei eine Volksweise aus Nordküstenland gewesen; andere fanden es eher klassisch komponiert, so wie die Lieder, die sie in den gewölbten Hallen von Palanthas gehört hatten.

Manche behaupteten, es sei ein Wiegenlied gewesen. Aber was auch immer für eine Melodie die Wachen erreicht hatte, die die Mauern vom Rittersporn bis zu den Flügeln des Habbakuk bemannten, es hatte wie ein Schlaflied gewirkt, denn sie waren erst Stunden später erwacht, als ihre Kameraden hektisch an den Schlingpflanzen und Wurzeln zerrten, die sie an ihre Posten fesselten.

Fürst Alfred lauschte schweigend, obwohl er vor Wut schäumte, während die beiden drucksend die Geschichte vorbrachten. Er würdigte sie kaum eines Blickes, als er sie fortschickte, sondern sah starr auf die Bücher, die aufgeschlagen und unordentlich übereinandergestapelt in einer Ecke auf einem Lesepult lagen. Nachdem die Wachen die Tür hinter sich geschlossen hatten, hörte man mit ihren sich entfernenden Schritten einen tiefen Stoßseufzer.

»Er ist also wirklich so mächtig, wie sie alle sagen, dieser Vertumnus«, sagte Alfred ruhig in die neuerliche Stille im Raum hinein. »Das ist um so besorgniserregender, besonders wenn ich bedenke, was dem Jungen bevorsteht.«

Alle Blicke wandten sich abermals Sturm zu. Er wünschte, er hätte sich den verschwundenen Wachen anschließen können, doch er holte tief Luft und besiegte seine Angst.

»Ich glaube«, begann der Hofrichter, »daß du aus einem bestimmten Grund ausgewählt wurdest.«

»Aus welchem Grund?« fragte Sturm.

»Falls du zugehört hast, Bursche, hast du wahrscheinlich mitbekommen, daß wir dieser Antwort nicht näher sind als du«, erklärte Stephan mit einem Lächeln. »Wir wissen nur, daß in der Musik, dem Spott und dem Gezänk etwas lag, was ausgerechnet dich dazu brachte, den Herrn der Wildnis mit dem Schwert anzugreifen, um ihn zum Zweikampf zu fordern, bis sich herausstellte, daß er der Sieger ist, das Spiel aber noch nicht vorbei. Das ist ein Rätsel, auf jeden Fall.«

»Und die Antwort?« hakte Sturm nach.

»Ich glaube, die hat er dir gegeben«, erwiderte Fürst Alfred. »Am ersten Frühlingstag mußt du – und zwar du allein – ihn in seiner Burg im Südlichen Finsterwald aufsuchen. Dort werdet ihr beiden die Sache wohl ausfechten, wie es der grüne Mann gesagt hat: ›Schwert gegen Schwert, Ritter gegen Ritter, Mann gegen Mann.‹ Es steht klar geschrieben, daß der Maßstab des Schwertes darin liegt, ›die Forderung zum Kampf um die Ehre der Ritterschaft anzunehmen.‹«

Sturm schluckte hörbar und schob seine kalten Hände unter seinen Umhang. Die Ritter betrachteten ihn ernst, weil sie nicht wußten, ob in Fürst Alfreds Erklärungen nicht ein Todesurteil mitschwang.

»Eines ist sicher, Bursche«, sagte Bonifaz. »Du bist zum Duell gefordert worden.«

»Und ich nehme an, Fürst Bonifaz«, sagte Sturm tapfer. Er stand auf, doch seine Knie waren weich. Rasch stützte ihn Fürst Gunthar mit starker Hand.

»Aber du bist kein Ritter, Sturm«, sagte Fürst Stephan. »Jedenfalls noch nicht. Und obwohl du für Eid und Maßstab geboren bist, bist du vielleicht nicht an sie gebunden.«

»Und doch«, beharrte Fürst Bonifaz leise, »bist du ein Feuerklinge.« Er beugte sich zu Sturm vor und bohrte sich mit seinen blauen Augen prüfend in dessen Herz.

Sturm setzte sich wieder und sank in sich zusammen. Er legte die Hände vors Gesicht. Wieder erinnerte er sich an das seltsame Bankett, doch die Erinnerungsfetzen waren verwischt und unklar. Vertumnus’ Gesicht verschwamm, als er versuchte, sich daran zu erinnern, genau wie die Melodien, die fremden Lieder, von denen Sturm noch vor einer Stunde gedacht hatte, daß er sie nie wieder vergessen würde.

Was daran war eindeutig? Deutlich erinnerte er sich nur an die Forderung. Diese Forderung war eindeutig – so eindeutig wie der Eid und der Maßstab, der einen Ritter verpflichtete, solche Forderungen anzunehmen.

»Fürst Stephan hat recht, wenn er sagt, daß ich noch nicht zum Orden gehöre«, fing Sturm an, dessen Blick an den Bücherregalen hinter den Rittern klebte. Die Bücher schienen im Dämmerlicht spöttisch in grünen Einbänden herumzutanzen. »Und doch bin ich durch meine Herkunft an den Eid gebunden. Es ist… es ist fast so, als ob er mir wirklich im Blut liegen würde. Und wenn das so ist – wenn es etwas ist, was mich mit meinem Vater verbindet, wie Vertumnus gesagt hat, oder wie ich glaube, daß er es gesagt hat, dann möchte ich den Maßstab befolgen.«

Alfred nickte, wobei die Andeutung eines Lächelns seine Mundwinkel umspielte. Gunthar und Stephan waren ernst und still, doch Fürst Bonifaz Kronenhüter sah zur Seite.

Sturm räusperte sich. »Ich nehme an, Dinge wie Regeln und Schwüre sind… um so stärker, wenn man eine Wahl hat, aber man befolgt sie, weil… weil…«

Er wußte nicht genau weshalb. Er stand wieder auf, doch da schlüpfte Fürst Alfred aus dem Raum, um sogleich mit dem berühmten Schwert Gabbatha wiederzukehren, das einstmals den Gürtel von Vinas Solamnus geziert haben sollte. Es war das Richtschwert, ein schimmerndes, doppelschneidiges Breitschwert, dessen Heft sorgfältig zu einem Eisvogel geschnitzt war. Und so legte Sturm vor den mächtigsten Rittern des Ordens seine Hand auf Gabbatha und schwor einen bindenden Eid, daß er die Forderung des Herrn der Wildnis, jenes des Druiden oder Zauberers oder abtrünnigen Ritters, annehmen würde.

Als die Worte gesprochen und der Eid besiegelt war, marschierte Fürst Stephan, der jetzt nachdenklich und abwesend wirkte, auf der Stelle hinaus und murmelte dabei etwas über unmögliche Widrigkeiten. Als der alte Ritter die Tür öffnete, hörte man draußen den Widerhall der Äxte, die Holz zerhackten.

Sturm trat von einem Fuß auf den anderen, während er zu den älteren Männern aufsah und Ratschläge, Anweisungen oder Befehle erwartete.

»Na gut«, stieß Fürst Alfred aus. »Na… gut.« Es war, als hätte er etwas verloren.

»Du brichst in den nächsten vierzehn Tagen auf, Sturm«, drängte Fürst Bonifaz. »Ein rascher Aufbruch gewährt dir… Zeit für die Reise durch ein Land, welches du nicht kennst. Wenn wir dem Herrn der Wildnis Glauben schenken sollen, ist Pünktlichkeit bei dieser Forderung höchst wichtig.«

»Ich weiß«, sagte Sturm schlicht. »›Zur rechten Zeit am rechten Ort.‹«

»Aber du solltest dich erst vorbereiten, Sturm«, drängte Gunthar etwas lahm.

»Das ist wahr«, pflichtete Alfred ihm eifrig bei. »Such dir in den Ställen ein Pferd aus – und zwar ein anständiges Pferd. Du bist schließlich ein Sohn des Ordens, und wir werden unser Bestes tun, um dich auszurüsten und vorzubereiten, damit du im Frühling in den Südlichen Finsterwald aufbrechen kannst.«

Sturm nickte. So blieben von dem Abend nur halbherzige Versprechen. Es war, als wüßten die Ritter das, als wüßten sie, daß etwas noch Dunkleres hinter den Versprechen lauerte.

Der Junge war schließlich verwundet worden. Jedenfalls behauptete er das, und die scharfen Augen des alten Stephan Peres hatten es bezeugt. Und im Frühling, hatte der Herr der Wildnis gedroht, würde die Wunde aufbrechen.

Die ganze Sache war ein grimmiges, unkalkulierbares Geheimnis.

Gunthar ging an eins der Regale und blätterte in einem Buch, während Alfred aufzählte, welche Ausrüstung Sturm brauchen würde, wo er sie bekommen würde und wieviel der Orden ihm davon in welcher Qualität zur Verfügung stellen würde. Sturm nickte die ganze Zeit nur und dankte dem Hofrichter, doch seine Gedanken waren anderswo.

So ließen sie ihn immer noch nickend und nachdenkend in der Bibliothek stehen, von der gesammelten Geschichte Solamnias umgeben. Fürst Bonifaz ging als letzter hinaus.

»Ich bin stolz auf dich, Bursche«, sagte er, woraufhin er sich rasch abwandte.

»Danke«, hauchte Sturm zurück. Die Tür fiel hinter allen zu, und er blieb mit seiner Angst und seinen Gedanken allein.

»Wie kämpft man gegen ein Geheimnis?« fragte Sturm laut. »Wie kann man ihm auch nur folgen?« Er drehte sich um und blickte durch die dunklen, bemalten Glasfenster nach draußen.

Dort kroch die Dämmerung herauf, eine Vorahnung des Sonnenaufgangs im Osten, der aufgrund der abschirmenden Berge, der hohen Mauern und der einfachen Tatsache, daß das Fenster nach Westen ging, nicht zu sehen war. Hinter dem Gelb der Harfe und der weißen Scheibe von Solinari in der Ecke des Fensters konnte der Junge deutlich einen zitternden Schatten sehen. Es war ein Stechpalmenzweig, der draußen vor der Mauer wuchs und im Wind des Wintermorgens schwankte.

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