Jetzt, nachdem er die Reise nach Norden und einen Sommer in Solamnia hinter sich hatte, waren Sturm von jenem Augenblick nur die Erwartungen und die Dunkelheit im Gedächtnis geblieben.
Während die ersten Februar-Winterstürme durch das Land fegten und den Schnee durch die dunklen Hänge der Vingaard-Berge peitschten, verbrachte Sturm seine Zeit mit Lernen. Gunthar brachte ihm Reiten und Schwertfechten bei, Fürst Adamant zeigte ihm, wie man im Wald überlebte, und die ganze Zeit über benahm sich Sturm wie ein echter Solamnier, wachte und betete und erwartete das Schlimmste. Abends nach dem Unterricht lief er auf den Zinnen am Rittersporn auf und ab und blinzelte nach Süden, wo die Ausläufer, die sogenannten Flügel des Habbakuk sich zu den Verkhus-Hügeln senkten und dann weiter hinunter in die Solamnische Ebene. Wenn es klar und windstill war, stellte sich der Junge einen grünen Streifen ganz hinten am Südhorizont vor. Der Südliche Finsterwald, dachte er, und es zog in seiner Schulter. Und Vertumnus. Der Winter ist fast vorüber, und ich bin noch lange nicht soweit.
Was er statt Raistlins kryptischen Kommentaren hatte, waren ganz naheliegende Fragen, die ihn jede Nacht lange wachhielten.
»Warum ist der grüne Mann in den Turm gekommen? Und warum war dieses Julfest anders als alle anderen? Warum wurde ich gewählt, und was will er von mir? Was erwartet mich im Südlichen Finsterwald?
Und neben Schwert und Pferd und Unterricht – wie kann ich mich auf einen schemenhaften Zauberer vorbereiten?«
Fürst Stephan sah ihn von seinem Arbeitszimmer aus mit wachsender Besorgnis auf der Mauer hin- und hergehen. Von seinem Fenster aus sah er die einsame, flackernde Laterne morgens in der Dunkelheit. Er hatte beobachtet, wie Sturm sich auf die Abreise vorbereitete, doch obwohl der Junge schnell lernte, war er doch noch grün hinter den Ohren und würde nicht weit kommen.
Da war zum Beispiel die Sache mit den Bauern. Die einfachen Leute in Solamnia hatten den Rittern ihre angebliche Mitschuld an der Umwälzung nie vergeben – dem katastrophalen Aufbäumen der Welt durch Feuer und Erdbeben vor über fünfhundert Jahren. Der Groll der Bauern dauerte an, und obwohl sich Feindseligkeit und Aufsässigkeit lange verbergen konnten, mitunter für zehn, zwölf Jahre, kamen sie immer wieder unvermittelt an die Oberfläche – wie bei dem Aufstand vor fünf Jahren.
Und wie anscheinend jetzt wieder in den kalten Wochen nach dem Julbankett.
Die Flügel des Habbakuk, dieses breite, verschlammte Vorgebirge südlich des Turms des Oberklerikers, durch die der einfachste Weg in die Berge führte, waren neuerdings ein wahrer Treibsand von Fallgruben, Schlingen und großen Fallen. Erfahrene Ritter erkannten die Spuren mühelos – ein dicker Haufen Vallenholzblätter auf einem vielbegangenen Weg, ein ungewöhnliches Spiel von Licht und Schatten in den Büschen, von denen die sachten Hänge übersät waren. Sie kannten die Tricks der Bauern wie schon der grünste Knappe, der in Sichtweite des Turms aufgewachsen war.
Aber Stephan fürchtete um den jungen Feuerklinge, der auf Streifzügen durch die Flügel mit seinen Kameraden schon dreimal knapp einem Anschlag entgangen war. Beim letzten Mal hatte die schlaue alte Stute Luin mehr Weisheit bewiesen als ihr geübter, aber unvorsichtiger Reiter, indem sie über eine Fallgrube gesprungen war, die sie beide umgebracht hätte. Sturm war bei dem plötzlichen Satz vom Pferd gefallen. Seine Schulter hatte tagelang geschmerzt, doch das beschäftigte Fürst Stephan weniger als die merkwürdigen Begleitumstände.
Es war beinahe, als wären die Fallen extra für Sturm aufgestellt gewesen.
Fürst Stephan stützte sich auf den Steinsims seines Fensters und dachte über die Ereignisse beim Julbankett nach – das Eintreffen von Vertumnus, den Kampf und die wundersame Forderung zum Duell. In der Erinnerung des alten Mannes verblaßte das alles bereits. Stephan dachte an die Vögel im Herbst, von denen dann jeden Morgen zwei, drei oder vier weniger auf den Zinnen saßen. Mit der Erinnerung war es genauso, und wenn man den ersten Rauhreif sah, waren nur noch die zähesten Vögel übrig.
Mit dem Frühling war es noch etwas ganz anderes. Den ganzen Winter waren die Monde am Himmel hin und her gewandert, waren erst im Westen aufgetaucht, dann im Nordwesten, dann ganz niedrig im Osten, wie sie zu Mittsommer stehen sollten. Der rote Lunitari und der weiße Solinari änderten ihre Stellung und ihre Phasen, und die Astronomen behaupteten, daß der schwarze Nuitari das gleiche täte. Zuerst war es ein Alarmsignal, denn dieselben Astronomen, die Wissenschaftler und die Gelehrten erklärten, daß die Veränderung im Mondenlauf eine größere Katastrophe ankündigen könne. Vielleicht würde es wieder eine Umwälzung geben, bei der sich die Erde aufbäumte, bei der sich Kontinente verschoben und furchtbare Zerstörungen stattfanden. Vielleicht war es etwas noch Schlimmeres.
Bald jedoch waren diese Ängste besänftigt. Die Monde waren nächtelang über den Himmel gezogen, ohne daß sich Erdspalten darunter auftaten. Zutiefst erleichtert waren die Leute im Turm wieder ihren alltäglichen Pflichten nachgegangen, und die Fußsoldaten begannen sogar zu wetten, wo die Monde wohl am nächsten Abend auftauchen würden. Schließlich schenkten nicht einmal die echten Nachtschwärmer im Turm des Oberklerikers – die Astronomen, die Wachen und der immer wachsame Sturm – dem unsicheren Schauspiel am Himmel Beachtung.
Dann fielen die subtileren Folgen auf. Vögel, die normalerweise im Mondlicht wanderten und sich an der Mondstellung orientierten, verirrten sich. Rotkehlchen und Lerchen trafen zu früh ein, um dann zwischen den Mauervorsprüngen zu zittern, als Wind und Schnee zurückkehrten.
Eines Morgens hatten drei Möwen Fürst Stephan an seinem Zimmerfenster überrascht. Von den wandernden Monden verführt waren sie fernab von jedem Meer gelandet. Ihre Federn waren zerzaust und die Flügelspitzen vereist.
Als Resultat der unsteten Anziehungskraft von Solinari war der Vingaard erst angeschwollen, dann abgeebbt und dann wieder so sehr angeschwollen, daß er schon die alten Flutdeiche zu übertreten drohte, die Sturms Vorfahren, die Blitzklinges und di Caelas, vor über hundert Jahren errichtet hatten. Pflanzen, die im Mondlicht wuchsen, wie die Mondblume und Immergrün, überwucherten die Turmgärten und die Ziersträucher, und draußen auf den Feldern brachen zur Überraschung der meisten Gärtner und zum Ärger der meisten Kinder Spargel und Rhabarber und die scharf schmeckenden Wintergemüse frühzeitig durch den Boden.
Die stärkste Veränderung gab es jedoch in sowieso schon fragwürdigeren Bereichen. Denn die Magie richtete sich natürlich nach den Mondphasen, und die eigenartigen, verrückten Vorgänge am Himmel brachten die magischen Verhältnisse dieser Gegend so sehr durcheinander, daß nur noch die allermächtigsten Wahrsagungen funktionierten. Wind und Wetter waren so wechselhaft wie die Monde, und flackernde Lichter übersäten die Flügel des Habbakuk. Bei Fürst Stephan sprachen zahlreiche Zauberer vor, denen Würste, Laternen oder Schuhe am Gesicht oder an versteckteren Teilen ihres Körpers klebten, denn bei den ständigen Fehden zwischen Zauberern konnte man ebensoleicht den kürzeren ziehen wie gewinnen.
Fürst Stephan hatte angesichts der Beschwerden der Zauberer die Stirn gerunzelt und sich große Mühe gegeben, mitleidig und zornig zu wirken, obwohl er am liebsten laut losgelacht hätte. Angesichts eines rotgewandeten Zauberers, aus dessen Ohren ständig lautstark Weintrauben wuchsen, hatte er schließlich gemeint, daß er im Herbst zumindest Wein machen könnte.
Doch die Veränderungen bei dem jungen Sturm waren weniger komisch. Mit seiner Verbissenheit und seinem Hin- und Herlaufen auf den Zinnen strapazierte er selbst die Geduld der anständigsten, eifrigsten Ritter. Seine langen Nachmittage in der Kammer des Paladin ließen alle möglichen Spekulationen aufkommen.
»Der betet zweifellos um die Wiederkehr der Umwälzung«, hatte Fürst Alfred diesen Morgen auf der Treppe Fürst Stephan zugeflüstert. »Es wäre ganz nach seinem Geschmack, wenn sich die Erde auftun und ihn verschlingen würde. Er würde es noch begrüßen.«
»Aber Alfred«, hatte der ältere Ritter gemahnt, dessen beruhigender Tonfall jedoch wenig überzeugend klang. »Wenn du dich nicht um seines verschollenen Vaters willen um Nachsicht bemühen kannst, dann denk wenigstens an seine Last. Wir sollten die Verbitterung ihm gegenüber ablegen und dem Jungen bei seinen letzten Vorbereitungen helfen.«
Im Vingaard-Gebirge nahte der Frühling, und trotz der Wanderungen der Monde und der Verwirrung der Vögel, Pflanzen und Magier vergingen die Tage. Auch wenn man es nunmehr auf dem Kalender ablesen konnte, der Frühling und damit der Zeitpunkt für den Aufbruch des Jungen kamen unaufhaltsam näher. Sturm war allein in seinem Zimmer. Der Abend brach gerade an. Er hatte den Vormittag und Nachmittag im mittleren Burghof verbracht, wo Fürst Gunthar ihn rauh in die Feinheiten des Schwertkampfs eingeführt hatte. Immer noch keuchend vor Anstrengung entfernte Sturm die schweren Schienen von seinen Armen und zuckte zusammen, als Metall und Polsterung über die Blutergüsse streiften, die er sich bei dem Fall in den Flügeln zugezogen hatte. Es waren aber auch Spuren von jüngeren Kämpfen dabei, die vom Duelltraining und der Begeisterung seines Lehrers, Fürst Gunthar, herrührten. Es waren stumpfe Waffen gewesen, aber Gunthar war stark, und seine Schläge trafen genau, egal wie Sturm sich vorsah.
Sturm stöhnte und warf die Armschienen auf den Boden. Nachdem er sich auf seinem Bett ausgestreckt hatte, starrte er an die Decke. Sein Gesicht war rot vor Anstrengung und Scham. Anstrengung, weil Fürst Gunthar ihn hart drangenommen hatte. Scham, weil der Ältere das mit Leichtigkeit geschafft hatte, fast mühelos, während er ihm noch mit ruhiger Stimme Anweisungen erteilte.
»Hoch den Schild, Sturm!« hatte Gunthar geschimpft. »Du schlurfst und keuchst wie Fürst Raphael!«
Sturm war zusammengezuckt. Fürst Raphael war hundertunddrei und plapperte immer senil von der Umwälzung, an die er sich nun wirklich nicht erinnern konnte.
Langsam hatten Lehrer und Schüler sich umkreist. Gunthars graue Augen ließen den Jungen nie aus den Augen, sondern hingen an dem gepolsterten Schwert, das in seiner Rechten zuckte.
»Deine Deckung ist zu niedrig, Junge«, drängte Gunthar. »Vertumnus durchbohrt dich mit seinem Schwert, bevor du deins oben hast!«
Da war Sturm gestolpert, und Gunthar hatte ihn zurückgeschubst und auf den harten Boden des Burghofs gestoßen. Grimmig hatte der Ritter über ihm gestanden und in kurzen, knappen Worten erklärt, daß der Herr der Wildnis nicht höflich warten würde, bis er wieder auf den Beinen stände.
Denn der grüne Mann gehört nicht zum Orden. Man kann nicht erwarten, daß er ehrenvoll nach dem Maßstab kämpft. Draußen gibt es keinen Maßstab. Bei diesem Treffen bist du der Maßstab!
Sturm schloß die Augen und wurde vom plötzlichen Klopfen an der Tür überrascht. Ich muß eingeschlafen sein, dachte er verstimmt, und kämpfte mit den Schnüren seiner Beinschienen, während die Tür aufging und Fürst Bonifaz Kronenhüter von Nebelhafen in den Raum trat. In der Hand hielt er sein Breitschwert, auf dem Rücken trug er einen großen Leinensack, der klirrte und schepperte, als er die Tür hinter sich zumachte.
Einen kurzen, alptraumhaften Moment dachte der Junge, der Unterricht würde vom Fürsten fortgesetzt. Aber Bonifaz war gelassen, legte seine Last ab und setzte sich mit dem Schwert über den Knien auf Sturms Bettkante.
Seine Stiefel waren verschlammt, und an ihren Sohlen klebten Vallenholzblätter.
»Ich habe dich mit Gunthar gesehen. Du wirst zu schnell müde«, sagte Fürst Bonifaz schroff.
»Und Gunthar wird zu langsam müde«, antwortete Sturm mit erschöpftem Lächeln, um sein Erstaunen und seine Angst zu verdrängen. Der Ältere grinste.
»Immerhin bist du Angriff Feuerklinges Sohn«, fuhr Fürst Bonifaz fort, woraufhin Sturm ihn hoffnungsvoll ansah. »Irgendwo tief in dir steckt er. Ja. Es kommt nur darauf an, daß der Feuerklinge zum Vorschein kommt. Weißt du, Angriff wäre dort im Burghof bei Gunthar geblieben, bis er gewonnen hätte – so einfach ist das. Bis zum Tod oder zur Wiederkehr der Umwälzung – Angriff war mir mit dem Schwert immer gewachsen, und obwohl ich der bessere Kämpfer war…«
Bonifaz legte eine Pause ein und räusperte sich.
»Obwohl ich der bessere Kämpfer war«, sagte er, »siegte dein Vater mit seinem Feuer, seiner Tollkühnheit und seinem Kampfgeist. Darum nannten ihn bald alle nur noch ›Feuerklinge‹.«
Bonifaz machte wieder eine Pause und sah den Jungen neben sich neugierig an. »Dann war da noch«, meinte er nachdenklich, »eine Vertrautheit mit dem Schwert selbst, als ob etwas in ihm die Gedanken und Bewegungen von Metall erspüren könnte. Er hätte einen guten Waffenschmied abgegeben, wenn der Orden ihn nicht gerufen hätte. Aber das war etwas Unterschwelliges, fast Unbewußtes, als ob es ihm im Blut liegen würde.«
»Davon hab’ ich aber nichts geerbt«, erklärte Sturm matt. »Weder Vertrautheit noch Feuer noch Tollkühnheit noch Kampfgeist.«
»Und doch reitest du los, um dich dem Herrn der Wildnis zu stellen«, erwiderte Bonifaz leise, »nach reichlich Vorbereitung. Welchen Weg willst du nehmen?«
»Angeblich ist der direkte Weg immer der beste«, antwortete Sturm. »Ich reite nach Burg Vingaard, dann flußabwärts bis zur großen Furt im Süden. Dort überquere ich den Vingaard, folge dann seinem südlichen Lauf und reite direkt am Ufer entlang bis in den Finsterwald. Nichts ist einfacher, keine Straße besser.«
Fürst Bonifaz legte ihm fest die Hand auf die Schulter.
»Ein tapferer Plan, Sturm Feuerklinge, der deinem Namen Ehre macht«, erklärte er. »Ich hätte selbst keinen besseren Weg wählen können.«
»Danke, Fürst Bonifaz«, erwiderte Sturm mit verwirrtem Stirnrunzeln. »Euer Vertrauen macht mir wirklich Mut.«
Der ältere Ritter lächelte und rückte näher an Sturm heran. »Hat Angriff dir je die Geschichte erzählt«, fragte er, »wie er sich mit seinem eigenen Vater überworfen hat?«
Sturm schüttelte langsam lächelnd den Kopf. Seit seiner Ankunft im Turm des Oberklerikers schien jeder Ritter, dem er begegnete, eine Geschichte über Fürst Angriff Feuerklinge zu wissen. Glücklich und wißbegierig lehnte der Junge sich vor, um wieder einmal eine Geschichte zu hören.
Ein Lächeln zog über das Gesicht von Fürst Bonifaz, als er zu erzählen begann.»Dein Großvater, Fürst Emelin Blitzklinge, war ein guter Ritter und ein guter Mann, aber er war weder als geduldig, noch als sanft verschrien. Als Sohn von Bayard Blitzklinge und Lady Enid di Caela, war Fürst Emelin so hart wie ein Blitzklinge und so, hm, hochnäsig? oder stur? wie ein di Caela.«
Sturm schaute finster drein. Er konnte sich nicht an seinen Großvater Emelin erinnern, aber so kritische Worte gefielen ihm nicht. Aber Bonifaz war es offenbar gewohnt, seine Meinung über die Blitzklinges frei herauszusagen.
Der ältere Ritter fuhr fort, die Augen auf das Schwert in seinem Schoß geheftet. »Nun, das war nie die einfachste Familie. Angriff fürchtete seinen Vater genausosehr, wie er ihn respektierte, und in den schwierigen Jahren des Heranwachsens hielt er sich bei formellen Anlässen vom alten Emelin fern und begegnete ihm lieber auf der Jagd. Denn dort waren sie gewöhnlich ein Herz und eine Seele, wie es bei Vätern und Söhnen sein soll.«
Bonifaz streckte sich rücklings auf dem schmalen Bett aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
»Gewöhnlich«, wiederholte Sturm.
»Ich erinnere mich an diese Jagden«, fuhr Bonifaz fort. »An den Geruch des Holzrauchs an kalten Morgen wie heute, wenn wir dem Keiler nachsetzten. Am besten erinnere ich mich an den Winter mit Fürst Tück.«
»Fürst Tück, Sir?« fragte Sturm. Trotz seiner Vorliebe für solamnische Geschichten und Legenden fiel ihm kein Ritter namens Tück ein.
Bonifaz schnaubte. »Ein Keiler. Tück war ein Keiler mit langen Stoßzähnen, der in jenem Winter dreihundertsiebzehn selbst den Besten entwischte. Dein Vater und ich waren siebzehn und für alles gerüstet – bis auf dieses Schwein. Fürst Tück entkam uns in den Bergen, in den Hügeln und in den schneebedeckten Ebenen, wo man die Spuren tagelang verfolgen konnte.
Das Julfest verstrich, ohne daß wir ihn erlegten. Erst im tiefsten Winter konnten wir ihn zur Strecke bringen, nicht weit von hier, in den Flügeln des Habbakuk. Ich erinnere mich gut an den Tag. Die Jagd. Wie wir ihn erlegten. Aber am besten daran war, was hinterher geschah.«
Sturm legte vorsichtig die Beinschienen ab, ohne den alten Freund seines Vaters aus den Augen zu lassen. Bonifaz schloß die Augen und schwieg so lange, daß Sturm schon fürchtete, der Ritter wäre eingeschlafen. Aber dann erzählte Fürst Bonifaz, und Sturm ging ganz in der Geschichte auf. Sie spielte fünfundzwanzig Jahre früher, weit im Süden des Turms.
»Fürst Agion Pfadwächter führte uns in die Hügel. Dein Cousin. Der stämmigste Pfadwächter, der je diesem jetzt erloschenen Geschlecht entwachsen ist. War nach einem Zentaurenfreund seines exzentrischen Vaters benannt, dieser Agion. Bester Freund deines Großvaters und ein großer Raufbold, und wie oft haben die beiden gerauft, sich gründlich verprügelt und einander die Freundschaft aufgekündigt. Wie sein Namenspatron wirkte Agion, ein breiter Mann, im Sattel wie ein halbes Pferd, wenn er wie der Südwind über die Hänge der Flügel brauste.
Wir hatten die Spur gleich nach der Morgendämmerung aufgenommen, nachdem die breitnackigen Alanhunde, unsere besten Jagdhunde, schon allein beim Geruch von Tück aufgejault hatten. Sie rannten durch die Felsen wie Wasser, das bergauf schäumt, fächerten sich weit auf und kamen wieder zusammen, bis sie durch einen engen Paß in ein struppiges Ewigkeitsbaumwäldchen hetzten, wo der Keiler wartete. Die Jäger konnten die Meute kaum bändigen. Sie kläfften und bellten und jagten immer um dieses kleine Dickicht herum. Tück war da drin, das wußte jeder, aber wir, hm, hielten uns alle zurück damit, als erster hineinzugehen, um ihn zu begrüßen.«
Sturm nickte und schüttelte sich leicht, denn er hatte letzten Herbst selbst seine erste Wildschweinjagd überstanden.
»Schließlich saßen vier von uns ab und betraten das Dickicht zu Fuß: Agion, Emelin, dein Vater und ich. Angriff und ich waren mehr oder weniger als Knappen dabei. Wir sollten die Speere tragen und die Stellung halten und still sein. Aber Angriff war eben anders. Als Agion durch das Unterholz brach und den Keiler aus seinem Versteck jagte, ging dein Vater wie ein Panther auf das Tier los, schnell und bedrohlich, und traf das Biest nicht nur einmal, sondern gleich dreimal mit seinen Speeren. Tück war alt und hatte eine dicke Schwarte, und die Würfe deines Vaters waren die eines jungen Mannes – schnell und gezielt, aber ohne die Kraft, die Knorpel und Knochen zu durchbohren.«
»Er hat den Keiler also nur gereizt«, stellte Sturm fest. Bonifaz nickte.
»Tück griff Agion an, der kehrtmachte, losrannte und sich durch einen dichten Ewigkeitsbaum hindurch in Sicherheit brachte, doch der aufgebrachte Keiler blieb ihm dicht auf den Fersen. Gleichzeitig schlug dein Großvater einen Bogen um das Tier und wartete auf die Gelegenheit, ihm den Todesstoß zu versetzen.
Diese Gelegenheit kam nicht, weil Angriff ungeduldig war.
Er hetzte den alten Tück durch das Unterholz, und im Dickicht verlor ich ihn immer wieder aus den Augen. Schließlich hörte ich es rascheln und husten und stolperte um ein dickes Zweiggeflecht herum… und stand dem alten Keiler selbst gegenüber.«
Bonifaz machte eine Pause. Er stand auf und begann, durch den Raum zu schreiten, während Sturm atemlos lauschte.
»Er war so zottig wie der Bison von Kiri-Jolith, triefte vor Schweiß und Schlamm und war halb in Nebel und Ewigkeitsbaumgrün versteckt. Er sah aus, als stamme er aus einer Legende, aus dem Zeitalter der Träume und den Liedern der Barden. Ich weiß noch, wie ich vor seinem Angriff gedacht habe, wenn die Natur selbst Gestalt annehmen müßte, dann als dieses Untier da vor mir, mit seiner schrecklichen Wildheit und der merkwürdigen, grausigen Gleichgültigkeit.«
Wieder machte der Ritter eine Pause, in der er mit geballten Fäusten durch die Luft fuhr, als wollte er etwas umklammern oder wegstoßen.
»Er… hat Euch angegriffen, Fürst Bonifaz?« fragte Sturm schließlich. »Der große Keiler hat Euch angegriffen?«
Bonifaz nickte. »Ich hatte sofort mein Schwert parat. Aber ich kam nicht mehr dazu, es zu benutzen.«
Ein eigenartiger Schatten verdüsterte das Gesicht des Ritters. Sturm wartete gespannt, denn der Mann erinnerte sich offenbar deutlich an jenen Moment, in dem der furchtbare Keiler angriff.
»Ich kam nicht mehr dazu«, wiederholte Bonifaz. »Angriffs Speer fuhr Tück sauber zwischen die Schulterblätter, und der Keiler taumelte, richtete sich wieder auf und taumelte wieder. Glaub mir, beim zweiten Taumeln war ich längst aus dem Weg, aber ich sah, was jetzt geschah – wie dein Großvater und Agion auf die Lichtung stürmten und Fürst Emelins Schwert silbern in der Wintersonne aufblitzte, als er es hochriß und das Tier erschlug.
Eine Zeitlang standen wir alle neben dem Keiler. Die Alans bellten irgendwo draußen vor den Bäumen, doch das schien so weit entfernt, als würden wir uns bloß an sie erinnern.
Dann sagte Fürst Agion: ›Ein passendes Ende für unseren Gegner Fürst Tück, dessen Kopf den Saal von Fürst Emelin Blitzklinge zieren soll, der ihn erlegt hat.‹
Dein Großvater lächelte und nickte, aber dein Vater stand blaß und totenstill da, und in diesem Moment wußte ich, daß etwas zwischen den beiden zerbrochen war, was vielleicht nie mehr gutzumachen war. ›Aber, Fürst Agion‹, widersprach Angriff, der so unüberlegt und stürmisch zur Sache kam wie bei jeder Jagd, bei jedem Turnier. ›Ich erwarte doch, daß beim Erzählen hervorgehoben wird, daß ich den ersten und ausschlaggebenden Speer geworfen habe.‹
›Unsinn‹, widersprach Fürst Emelin. ›Mein Schwert hat den Keiler getroffen, und er war tot. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.‹
Es gab wirklich nicht mehr dazu zu sagen. Aber ich konnte sehen, wie Angriff es dennoch sagen wollte. Er fing an, zu widersprechen und seine Ehre zu verteidigen. Aber Fürst Emelin wollte nichts mehr davon hören.«
Fürst Bonifaz machte eine Pause und blickte den Jungen an. Sturm starrte mit geballten Fäusten zurück. Wie ungerecht von Fürst Emelin, dachte Sturm wütend. Das verstößt doch völlig gegen Kodex und Maßstab!
»Nicht ganz, Sturm Feuerklinge«, korrigierte Fürst Bonifaz, als ob er die Gedanken des Jüngeren lesen könnte. »Die Regeln der Jagd sind einfach, so einfach, wie Fürst Emelin sie an jenem Morgen in den Flügeln des Habbakuk ausgelegt hat. Aber Angriff sprühte vor Wut. Er spürte, daß etwas daran über Regel und Protokoll hinausging, aber Regel und Protokoll verlangten, daß über den Rest zu schweigen war. Er zog seinen Speer heraus…«
Bonifaz hielt inne und schüttelte etwas traurig den Kopf.
»Und ich steckte mein Schwert weg, damit wir aufsitzen konnten. Ich sah zu«, fuhr er fort, »wie mein Freund den ganzen Ritt von den Verkhus-Hügeln bis nach Schloß Feuerklinge schäumte. Er war so stumm wie ein Schaf unterm Scherer und sagte den ganzen Nachmittag kein Wort mehr. Denn schließlich verstieß es mehr gegen Kodex und Maßstab, sich gegen seinen eigenen Vater aufzulehnen, als alles, was Fürst Emelin den Regeln entsprechend auf der Lichtung getan hatte.
Agion hat den jungen Angriff auf dem ganzen Rückweg nach Schloß Feuerklinge gehänselt. Er rief ihn ›Treiber‹ und ›Spürhund‹ und ›Alan‹, als ob der Junge bei der ganzen Jagd nur das Tier aufgespürt hätte. Angriff kochte fast über, aber er schwieg immer noch. Doch ich wußte, daß die Sache noch nicht ausgestanden war.
Es geschah beim Bankett am Abend zu Ehren von Fürst Emelin. Alle führenden Familien waren da – die Merkenins, die Jeoffreys, die Celestes –, und es ging um Jagd und Zeremonien.
Nachdem das Essen aufgetragen war und die Gäste dem Essen und dem Wein kräftig zugesprochen hatten, ging Angriff zu seinem Vater. Agion, der links neben Fürst Emelin saß, rümpfte die Nase, als er kam, und sagte viel zu laut: ›Da kommt der Junge, der um seinen Hundeanteil betteln will.‹«
Sturm hielt den Atem an. Wenn man bei der Jagd ein Tier abgezogen und zerlegt hatte, überließ man die Eingeweide und Hufe den Hunden. Agions Worte waren nicht nur beleidigend, sondern schon grausam.
»Emelin drehte sich zu Agion um und sagte etwas in scharfem Ton, aber man konnte nichts verstehen«, erzählte Bonifaz, »doch Angriff schien den dicken Flegel nicht zu beachten. Er stand schweigend vor seinem Vater, bis Fürst Emelin von dem Streit mit seinem Cousin aufblickte. Dann fing Angriff an. Seine Rede war sanft und milde und genauestens durchdacht, aber noch nie zuvor oder seither sind in Schloß Feuerklinge solche Worte gesprochen worden.
›Mein Fürst und Vater weiß‹, sagte er, ›daß Maßstab und wahre Gerechtigkeit manchmal nicht übereinstimmen. Er weiß auch, daß – trotz Schwert und Gnadenstoß – mein Speer Fürst Tück den tödlichen Stoß versetzt hat.‹
Das klang gestelzt und künstlich, aber man hatte ihn verstanden. Ein Murmeln ging durch den Raum, bis Fürst Emelin verärgert aufstand.
›Willst du damit sagen, Angriff‹, fragte er, ›daß dein Vater… daß ich… dir die Trophäe gestohlen hätte?‹
›Gestohlen würde ich es nicht nennen‹, entgegnete Angriff, dessen eigener Ärger durch die ruhige Höflichkeit hervorbrach. ›Eher erobert.‹
Da holte Fürst Emelin aus und schlug seinen Sohn ins Gesicht.«
»Schlug ihn ins Gesicht?« fragte Sturm, dessen Stimme sich vor Empörung erhob. »Vor seinen Freunden bei einem offiziellen Bankett? Aber… es gibt kein… keine…«
»Keine Antwort auf so eine Demütigung«, erwiderte Bonifaz ruhig. »Anscheinend nicht. Aber Emelin hatte alle Grenzen überschritten, hatte den Grundsatz des Maßstabs verletzt, denn ›obwohl die Ehre alle Gestalten und Formen annehmen kann, muß der Vater seinen Sohn ehren wie der Sohn den Vater.‹ Seinen Vater zurückzuschlagen, wäre undenkbar gewesen, genau wie jedes harte Wort angesichts einer solchen Beleidigung. Aber er konnte auch nicht stehenbleiben und den Schlag hinnehmen, ohne seine Mannesehre zu verlieren.
Emelin wurde sofort rot vor Scham. Er wußte, daß er zu weit gegangen war, aber er konnte den Schlag nicht zurücknehmen. Anscheinend gab es für Angriff keinen Ausweg. Aber hör zu.
Weiß vor Wut stand er vor seinem Vater. Der knallrote Abdruck von der Hand des alten Emelin war noch in seinem glatten Gesicht zu sehen. Da drehte Angriff sich um und schlug Agion gezielt aufs Nasenbein.
Es gab ein Geräusch, als wenn ein dicker Ast im Sturm bricht. Agion fiel schwer hintenüber und knallte auf den Boden, wo er eine gute halbe Stunde bewußtlos liegenblieb. Als er aufwachte, brabbelte er etwas über Socken und Rhabarberkuchen.«
»Mein Vater hat Agion geschlagen?« rief Sturm erstaunt und entzückt aus. »Aber wieso? Und… und…«
»Hör zu«, sagte Bonifaz lächelnd. »Denn jetzt kommt, was dein Vater gesagt hat: ›Zeig das meinem Vater, wenn ihr euch mal wieder prügelt. Es war mein Treffer auf ihn, so wie er Fürst Tück getroffen hat.‹«
Sturm schüttelte bewundernd den Kopf. »Wie ist er darauf bloß gekommen, Fürst Bonifaz? Wie ist er darauf bloß gekommen?«
Bonifaz machte den Beutel zu seinen Füßen auf und zog langsam den Brustharnisch und den Schild heraus. »So hat er eben gedacht, Sturm. Er hat auch daran gedacht, das hier bei mir zu lassen… damit ich es zu gegebener Zeit an dich weitergebe.«
Atemlos griff Sturm nach dem Schild.
»Der Eid verpflichtet mich, dir das hier zu geben«, erklärte Bonifaz geheimnisvoll. »Aber dieses Schwert, das ist… mein Geschenk.«
Er reichte ihm das Breitschwert aus seinem Schoß. »Dein Vater hat die Blitzklinge anscheinend mitgenommen oder irgendwo versteckt, wo sie nicht einmal seine Freunde gefunden haben. Aber Angriff Feuerklinges Sohn verdient ein Schwert wie das, das ich dir hier gebe.«
Er streckte ihm das Heft der Waffe entgegen. Im Lampenschein von Sturms Zimmer glänzte es matt.
»Mach es zu deinem«, flüsterte Bonifaz geheimnisvoll. »Dein blitzendes, zweischneidiges Schwert.« Bonifaz ließ Sturm mit dem Schwert auf den Knien zurück. Ein oder zwei Stunden lang polierte der Junge die Waffe. In der glänzenden Klinge konnte er sein Spiegelbild sehen, und ähnlich im eckigen Rand des Schildes. Als Fürst Gunthar Uth Wistan das Zimmer betrat, nahm Sturm ihn kaum wahr.
»Im Südlichen Finsterwald mußt du besser auf der Hut sein«, bemerkte der Hofrichter, als der Junge überrascht aufsprang und das Schwert klirrend auf den Steinboden fiel.
»Ich habe… ich…«
Fürst Gunthar ignorierte das Gestammel des Jungen und setzte sich, wobei sein Kettenhemd rasselte. Vorsichtig legte er das Bündel ab, das er mitgebracht hatte – etwas Schweres, Unförmiges, das in eine Decke gewickelt war. Sturm wunderte sich, daß der Mann in voller Rüstung durch die Gänge des Turms gewandert war. Man konnte meinen, der Turm des Oberklerikers würde belagert.
Jetzt streckte Gunthar seinen Arm aus. In der Handfläche des Handschuhs lagen ein paar hellgrüne Blätter. »Kennst du die?« fragte er kurz.
Sturm schüttelte den Kopf.
»Kalvianeiche«, stellte der Ritter schlicht fest. »Erinnerst du dich an das alte Sprichwort?«
Sturm nickte. Mit Reimen und Legenden kannte er sich besser aus als mit Blättern und Bäumen. ›»Grünt zuletzt und fällt zuletzt‹, Sir. Heißt es jedenfalls unten in Solace.«
»Hier sagt man genauso«, bestätigte Gunthar. »Deshalb ist es auch so merkwürdig, daß ich diese Blätter mitten im Winter anbringe, meinst du nicht auch?«
Er bedachte Sturm mit einem ruhigen, undurchschaubaren Blick.
»Ich muß aufbrechen«, stellte der Junge fest. »Das hat es zu bedeuten.« Das Zimmer kam ihm warm vor, und durch das Fenster trieb ein leichter Südostwind Blütenduft herein.