22 An der Vingaardfurt

Ursprünglich waren sie nur zu dritt gewesen, doch inzwischen waren es elf, die am Ufer des Vingaard um ein Feuer hockten, nachdem die Solamnier ihnen versichert hatten, daß der Junge bald vorbeikommen würde. Eine Überzahl war immer sicherer. Sturm würde allein sein. Tivok, der Anführer der Bande, hüllte sich der Kälte der Frühlingsnacht wegen tiefer in seinen Mantel. Die anderen acht mit den blauen Schuppen und den zuckenden Schwänzen hatten sich ihnen ohne Vorwarnung angeschlossen. Er hatte den Mord mit nur zwei angeheuerten Räubern durchführen wollen und hatte sich ursprünglich einen schlauen Plan zurechtgelegt, der dafür sorgen sollte, daß seine Untergebenen das Kämpfen erledigten.

Dann hatten ihn die acht überrascht, die nach einer dreitägigen Reise aus südlicheren Gefilden ins Lager marschiert waren, und plötzlich waren alle Pläne umgeworfen.

Aber so war es eben heutzutage: Es gab mehr von seiner Art – den Drakoniern, die mit Hilfe einer dunklen, namenlosen Macht aus Dracheneiern geschlüpft waren –, mehr, als Tivok sich je hatte vorstellen können, und er hatte Gerede gehört, daß sogar noch größere Horden – dabei Zauberer und Gestaltwandler – aus den Brutstätten in der Eismauer nach Norden wanderten.

Belassen wir es dabei, dachte der Anführer der Assassinen, während er seine lidlosen Augen dem bewölkten Himmel zuwandte. Keiner von ihnen braucht zu wissen, wieviel Gold der Solamnier mir gegeben hat. Zehn Schwerter werden die Aufgabe mit Sicherheit erledigen, während zwei… riskanter gewesen wären. Ich bleibe auf diesem Hügel und beobachte die Furt bis zur zehnten Nacht nach dem ersten Frühlingstag, wie es der Solamnier gesagt hat.

Und ich überwache sie. Ja, ich überwache sie.

Und die Beute, wenn der Bursche kommt? Ich behalte meine Hälfte und teile den Rest durch zehn statt durch zwei.

Er lachte in sich hinein angesichts dieser gerissenen Vorgehensweise, und sein Gelächter klang, als würde der Wind über trockene Blätter streichen. Wenn nur diese verfluchte Kälte vorbeigehen würde, wenn nur der Frühling endlich käme, wie es die Sterne und der Kalender verkündeten…Die Solamnier hatten gesagt, daß das Opfer – wenn es überhaupt kam – innerhalb von zehn Tagen nach der Tag- und Nachtgleiche kommen würde. Er würde eine alte solamnische Rüstung tragen, die mehr Schmuck als Schutz war. Auf seinem Brustharnisch würden sie ein altes Familienwappen sehen: rotes Schwert vor gelber Sonne.

Der Junge würde müde sein, hatten sie gesagt. Vielleicht niedergeschlagen, auf jeden Fall verwundbar.

Die Assassinen hatten bereits drei unglückliche Reisende getötet, die zumindest teilweise der Beschreibung entsprochen hatten oder zu ihrem Pech einfach allein an die Vingaardfurt gekommen waren. Die Mörder waren hinter einem dicken Wacholderbusch hervorgestürmt und hatten den ersten vom Pferd gezerrt. Da war es wärmer gewesen und die Aufgabe eine leichte.

Er war unauffällig gewesen, dieser erste, dem Tode geweihte Reisende. Ein dünner, zahnlückiger Junge aus dem Südosten, der seine letzten Worte auf lemisch sagte, bevor die Schwerter mit den Sägezähnen in seinen Leib eindrangen.

Der zweite war älter gewesen, auch wenn seine Haltung und seine Bewegungen von weitem frisch und kräftig und richtig jung gewirkt hatten. Tivok hatte den vieren, die oben am Fluß an dem frischen Damm warteten, ein Zeichen gegeben, falls der Wanderer dem ersten Hinterhalt wider Erwarten doch entkommen würde.

Die sechs übrigen Söldner mußten sich sehr anstrengen, um den alten Schurken zu überwältigen, der sich bis zuletzt heftig wehrte und dabei zwei von ihnen verletzte. Tivok stellte die Verwundeten am Damm auf und ersetzte sie durch ausgeruhte Kämpfer.

Von seinem Aussichtspunkt konnte Tivok nicht erkennen, daß der dritte Reisende eine Frau war, besonders da sie angesichts der rasch fallenden Temperaturen dick eingepackt war. Auch sie hatte tapfer gekämpft und war vom Wetter begünstigt gewesen. Einer der Assassinen war sogar einem kräftigen Stoß ihres Schwerts zum Opfer gefallen, doch als er zu Stein wurde, wie das bei seiner Art so war, blieb die Klinge in ihm stecken, und ihr fester Griff um die Waffe riß sie vom Pferd.

Die anderen fünf hatten sie wie riesige Aasfliegen mit dunklen, zuckenden Flügeln umschwirrt.

»Wie lange sollen wir noch bei solchem Wetter unsere Zeit verschwenden?« fragte einer von ihnen Tivok, als sie den Körper des Mädchens in einem flachen Grab am Flußufer begruben.

»Noch eine Zeitlang«, zischte Tivok, der die Kapuze zurückschlug, um seine abfallende Stirn mit dem Zackenkamm und den kupferroten Schuppen zu zeigen. »Noch eine Zeitlang.« Er legte seine Schulter an ihren toten Kameraden und stieß die große Steinfigur um, damit der tote Assassine für alle, die sich näherten, wie ein Findling oder eine unschuldige, braune Felsnase aussehen würde.

»Nimm es als… Übung, Nashif«, schlug Tivok mit unterschwelliger Warnung in der Stimme dem Fragesteller vor. »Nimm es als Manöver.«

Nashif konnte dem nichts entgegensetzen. Schweigend schlüpften die fünf Assassinen in die Schatten zwischen den immergrünen Bäumen. Zwei von ihnen blieben kurz stehen, um ihre Klingen abzulecken.


Sturm war knapp zwei Meilen vor der Furt, als sie das Mädchen begruben. Er ritt die ausgeruhte, aber merkwürdig unruhige Luin und hatte sich gegen den überraschend zurückgekehrten Winter tief in seinen Mantel gehüllt.

Er war bereits dabei, seine letzte Begegnung mit dem Herrn der Wildnis zu vergessen.

Er hatte sich nicht mehr lange in Dun Ringberg aufgehalten. Zwar war er noch einmal durch die überwucherten Ruinen gelaufen und hatte sich nach Spuren von Ragnell, Mara, Jack Derry oder Vertumnus selbst umgesehen, doch der Ort war menschenleer und das Dickicht so dicht, daß er hätte schwören können, das Dorf wäre schon siebzig Jahre verlassen, nicht erst sieben Tage.

Daß er Mara verloren hatte, machte ihm am meisten zu schaffen. Irgendwie schien es gegen den Maßstab zu sein, sie zurückzulassen, ohne zu wissen, was mit ihr geschehen war. Und doch hatte er in seinen seltsamen, heilenden Träumen geglaubt, er hätte ihr Gesicht gesehen. Hatte sie sich nicht während seiner fiebrigen, wachen Momente zwischen den Dorfbewohnern aufgehalten?

Irgend etwas sagte ihm, daß Mara sicher war, daß für sie gesorgt wurde, obwohl er sich fragte, ob er dieses Gefühl auch gehabt hätte, wäre er nicht müde und auf den Aufbruch versessen gewesen.

Am Nachmittag gab er auf. Nachdem er Luin gesattelt hatte, ritt er vom Dorf aus auf die Ebene von Lemisch. Am Spätnachmittag überquerte er den südöstlichen Arm des Vingaard genau an dem Punkt, wo ihm, Jack und Mara die Banditen aufgelauert hatten. Als er am jenseitigen Ufer aus dem Wasser stieg, fühlte er sich unbeschwert, als wäre ihm etwas geheimnisvoll Forderndes abgenommen worden.

Er schlief unruhig an einer Stelle, wo er den Fluß noch hören konnte, und träumte von Bonifaz und Schnee und Messern.

Früh am nächsten Morgen ritt er wieder nach Nordwesten, geführt von seiner Erinnerung. Es hatte wenig Sinn, sich nach den Planeten zu richten, denn während er im Finsterwald gewesen war, hatte sich der Himmel verändert. Chislev, Sirion und Reorx waren an ihre alten Plätze zurückgekehrt, und wenn man sich nicht nach dem Kalender, sondern nach den Planeten gerichtet hätte, hätte man meinen müssen, es wäre noch Winter.

Das Wetter war auch wirklich kühl geworden, und nach dem frühlingshaften Tag, an dem Sturm seine Heimreise begonnen hatte, fiel am nächsten Abend bereits Eisregen. An einem kleinen Eichen- und Erlenwäldchen machte er halt. Diesmal baute er sich geschickt einen groben Unterstand, wobei er im stillen dem Elfenmädchen Mara dankte.

Gegen Mittag des dritten Tages erreichte Sturm Feuerklinge den nördlichsten Arm des Vingaard. Die Kälte war über Nacht von Osten herangeweht, und als er erwachte, lag ein Hauch Reif auf den Eichenblättern, und er konnte seinen Atem in der Luft sehen. Ein zweistündiger Ritt brachte ihn an die berühmte Furt, wo kalter Nebel über dem Flußufer hing. Burg Vingaard im Norden war hinter dem eisigen, lastenden Dunst nicht zu sehen.

Sturm zügelte sein Pferd neben einem großen, braunen Findling und richtete sich im Sattel auf. Fröstelnd rieb er sich die Hände. Für das zeitige Frühjahr, in dem der Fluß normalerweise anschwoll und über die Ufer trat, war das Wasser unnatürlich flach. Das schien ein Glücksfall zu sein. Wenn er leicht hinüberkam und dann einen scharfen Ritt über die Solamnische Ebene unternahm, konnte er heute abend in halbwegs sicherem Gelände lagern, vielleicht sogar im Verkhus-Hügelland, und bis morgen mittag am Turm sein.

Dann würde das Erklären losgehen, dann würde er Gunthar, Alfred und Stephan Rede und Antwort stehen müssen.

Und die Begegnung mit Bonifaz. Darauf sollte er sich gefaßt machen. Darauf und auf Gift oder ein Messer in der Nacht.

Zornig zog er seine Kapuze vom Kopf. Warum Bonifaz ihm nachstellte, war ihm immer noch ein Rätsel. Zweifelsohne wegen etwas, das sein Vater getan hatte, aber was er als Sohn damit zu tun hatte, ging über seinen grünen Verstand. Doch der Orden war seine Familie und der Turm sein Zuhause, trotz der Gefahren, die damit verbunden waren. Er würde leise zurückkehren, und wenn die Zeit reif war…

Dann würde er die Schlangen im Garten entlarven. Er würde seinen Vater rächen.

Dennoch wünschte er, er wäre im Finsterwald geblieben. Sein Wunsch verstärkte sich, als aus dem Nebel vor ihm fünf gedrungene, abgerissene Gestalten mit erhobenen Schwertern und heftig peitschenden Schwänzen langsam näher kamen.

Er hatte noch nie Drakonier gesehen. Er hatte auch noch nie von ihnen gehört, außer in einer Kendergeschichte, die er jedoch als Unfug abgetan hatte. Jetzt aber erkannte er auf einen Blick ihre Wahrheit, und er zog das Schwert aus der neuen Scheide.

Als er das tat, begann es zu schneien. Leichte Flocken betupften Luins stämmige rote Schulter und die bloße Klinge seiner Waffe. Einen Augenblick lang vermeinte Sturm, eine ferne fröhliche, wilde Musik zu hören, doch er verdrängte sie sofort.

Die Drakonier kamen langsam näher und hoben ihre gezackten Schwerter, obwohl sie noch gute zwanzig Schritt entfernt waren. Sturm gab ihnen noch einen kurzen solamnischen Gruß, worauf drei von ihnen ganz stehenblieben. Wie Raben scharten sie sich geduckt zusammen und begannen, miteinander zu flüstern und aufgeregt ihre Waffen zu schwenken.

Auf der Stelle spornte Sturm Luin an. Mit blitzendem, hocherhobenem Schwert und dem alten Ruf der Solamnier auf den Lippen – »Est Solaris oth Mithas!« – ritt er auf die beiden vordersten Drakonier zu.

Er war über ihnen, bevor sie ihre Schilde heben konnten, und sein Schwert krachte dem einen in den Schädel. Mit blitzschneller Wendung im Sattel ließ Sturm die Klinge auf den nächsten heruntersausen und lenkte Luin noch im selben Moment auf die anderen drei zu, die sich kreischend, aber träge auf den flachen Fluß zu bewegten.

Es sah aus, als würden sie bereits bis zum Bauch im Wasser waten. Sturm ritt dazwischen und wendete Luin abrupt am Ufer des Vingaard. Mit dramatisch erhobenem Schwert stellte er sie mit einem neuerlichen, lauten und durchdringenden Ruf. Entsetzt ließen die Drakonier ihre Waffen fallen und stapften in verschiedene Richtungen davon. Ihre rauhen Schreie verloren sich in der Musik und im aufkommenden Wind.

Während er sich im Sattel weit nach vorne beugte, sah Sturm, wie sie sich trennten. Es wäre ein leichtes gewesen, ihnen zu folgen und jeden einzelnen zur Strecke zu bringen. Aber in seiner Erinnerung stieg die Vision auf, die Ragnell ihm in jener Nacht im Haupthaus von Dun Ringberg gezeigt hatte – das winterliche Land Trot, der Überfall auf das Goblindorf, die grausamen Schwerter über den armseligen, spuckenden Kreaturen.

»Nein«, flüsterte er. Vielleicht würde eine Zeit kommen, wo man ihnen nachjagen mußte, aber nicht jetzt. Und nicht er. Er sah ihnen nach, bis sie hinter Felsen, Büschen und Brombeerranken verschwunden waren. Dann machte er sich daran, die Furt zu überqueren.

Das Wasser umfloß ihn langsam und leckte nur zahm an den Flanken seiner Stute. Hinter dem gleichmäßigen Fließen des Flusses glaubte Sturm wieder die Musik zu hören. Er erinnerte sich an den Klang von Maras Flöte, und etwas tief in seiner Erinnerung und seiner Vorstellung verriet ihm, daß sie in Sicherheit war.

Von seinem Beobachtungsposten auf dem Hügel über dem Westufer des Vingaard sah Tivok, wie der Junge sein Pferd in das flache Wasser lenkte. Der Drakonier zog seinen Mantel gegen den eisigen Ostwind fester um sich und winkte seinen Kumpanen zu, die flußaufwärts lagerten. Das war die zweite Schwadron. Die vier – kleine Baazdrakonier, die an dem selbstgebauten Damm postiert waren – würden ihn sehen. Sie würden die Steine und Äste auseinanderziehen, bis das plötzlich befreite Wasser schnell und machtvoll nach Süden rauschen und am Flußufer anschwellen würde. Wenn sie den richtigen Zeitpunkt trafen, würde die Flutwelle die Furt erreichen, wenn der Reiter mitten im Fluß war.

Tivok lachte. Wir wollen doch sehen, wie dieses Bürschchen mit einem Pferd umgeht.

Er war überzeugt, daß es diesmal der Richtige war. Er hatte den Ruf der Solamnier in der kalten Luft gehört und das erhobene Schwert wie einen heißen Blitz am fernen Himmel durch die Luft sausen sehen.

Er würde Nashif bestrafen, weil er ihn durchgelassen hatte.

Tivok gab das Signal sicherheitshalber noch einmal und leckte dann sein Schwert an, um die Klinge zu vergiften.


Jetzt fiel der Schnee in dichten Flocken, und stromaufwärts war das Ufer von einem dünnen Eisfilm überzogen.

Hawod, Hauptmann Tivoks Stellvertreter, setzte sich unbequem auf einem Haufen Holz und Steine um. Es war furchtbar ermüdend, auf das Zeichen ihres Anführers von dem kleinen Hügel zu warten. Gab es nicht ein altes Sprichwort über den Topf, den man ansieht?

Er hatte Kopfschmerzen und war schläfrig. Drakonier waren nicht für diese Jahreszeit und so ein Wetter geschaffen, denn ihr kaltes Blut lullte sie ein, wenn es kälter wurde. Eine von den Verwundeten hatte er bereits geweckt, indem er sie mit seinem Schwert angestoßen hatte. Er hatte ihr eine harte Strafe angedroht, falls sie wieder einschlafen sollte.

Unter ihrer schwarzen Kapuze hatte sie ihn böse angestarrt. Er sehnte sich nach dem Sommer.

Er schüttelte den Kopf, um den Schmerz zu vertreiben. Der Hügel war immer schlechter zu erkennen, als der Schnee dichter fiel, und zweimal hatte er zu seinem Entsetzen kurz gar nichts mehr gesehen. Da hatte er überlegt, ob er einfach handeln und den Damm öffnen sollte, damit das Wasser losrauschte, aus der verzweifelten Hoffnung heraus, daß er Tivoks Signal auf dem Hügel übersehen haben könnte.

Das war dumm, er wußte es. Also hatte er es nicht getan. Schlecht gelaunt blieb er sitzen, bis sich aus dem blendenden Weiß wieder die Umrisse des Hügels herausschälten und seine Panik einer nagenden Unruhe wich.

Wenn das der solamnische Frühling war, überlegte Hawod mit trägen, schwerfälligen Gedanken, dann würde er nur höchst ungern…

Der Gedanke blieb unvollendet in der eisigen Luft hängen. Der Drakonier döste ein, und mit dem Schnee wurde auch sein Schlaf tiefer, als er seinen drei Gefährten in den traumlosen Winterschlaf der Reptilien folgte.


Tivok schäumte, als der Reiter das andere Ufer erreichte.

Zischend stürmte er den Hügel hinunter, rutschte auf knöcheltiefem, frischem Schnee hinab, bis sich sein Umhang aufblähte wie das Segel eines mürben Eisbrechers.

Sie hatten alle versagt – Nashif mit seinem Hinterhalt, Hawod und die anderen flußaufwärts am Damm. Er hatte so etwas befürchtet, aber noch mehr befürchtete er den Verlust des solamnischen Golds.

Er rutschte aus, fiel hin und stand leise fluchend wieder auf. Das Schwert glitt ihm aus der Hand und rutschte durch den weißen Schnee, wobei es eine dicke grüne Spur hinter sich zog. Am Fuß des Hügels blieb es stecken. Die Klinge mit den Sägezähnen glitzerte, nachdem der schmelzende Schnee sie reingewaschen hatte.

Überhaupt, dachte Tivok, als er die Waffe aufhob, hatte er eigene Pläne auf dieser Seite des Flusses. In Gedanken bei dem bevorstehenden Kampf, steckte er die Klinge geistesabwesend weg und sprang ans Westufer der Furt.


Luin erschauerte, als der Wind ihre nassen Flanken traf. Sturm stieg schnell ab und zog eine Decke vom Sattel, um die Stute so gut wie möglich abzutrocknen.

Die Überquerung der Furt war beinahe verdächtig einfach gewesen. Mitten im Fluß hatte die Musik nachgelassen, doch sein Pferd war gemächlich und stetig von Osten nach Westen gezogen. Obwohl der Wetterumschwung einen unangenehmen Ritt versprach, hatte Sturm den längsten Teil der Reise jetzt hinter sich, und ihn erwarteten keine Gefahren mehr außer der letzten und tödlichsten – der Begegnung mit Bonifaz im Turm.

Wieder dachte der Junge über die letzten vierzehn Tage nach, trennte Beweis von Gerücht und Tatsache von Hörensagen. Er wäre ein leichtes Ziel gewesen, als er gedankenverloren und beschäftigt neben seinem Pferd kniete, wenn Tivok nicht aus dem Wasser gekommen wäre. Seine Schritte brachen laut durch eine dicke Eisscholle.

Sturm sprang sofort auf. Er zog seine Waffe und fuhr herum, um sich dem großen Drakonier zu stellen. Mit drohendem Zischen zog Tivok sein Schwert und ließ es hinuntersausen. Sturm erhob seine Waffe, um den Schlag abzufangen, und bekam den Aufprall bis hinauf in Arme und Schultern zu spüren.

Der Drakonier war stärker als er. Schlag um Schlag war er ihm nicht gewachsen.

Sturm wich eilig vor Tivok zurück, indem er vor einem wirbelnden Schlag der Klinge mit den Sägezähnen zur Seite sprang. Mit überraschtem Schnauben trottete Luin zum Fluß hinunter und überließ die zwei Kämpfenden sich selbst. Während er sein Schwert gerade ausgestreckt vor sich hielt, umkreiste Sturm den Drakonier geduckt und sprungbereit.

Tivok jedoch war weder ein ungeschulter noch ein unerfahrener Kämpfer. Er wartete ab, folgte unablässig dem kreisenden Jungen, und als es soweit war, kam sein Angriff plötzlich, gezielt und fast tödlich. Sturm stolperte vor dem unerwartet schnellen Vorstürmen und dem Stoß zur Seite, fing einen Schlag ab, lenkte einen zweiten ab und schlidderte über den vereisten Boden, bis er außer Reichweite des Schwerts war. Nur die Schnelligkeit seiner Jugend und die winterliche Trägheit seines Gegners retteten ihn vor dem Tod durch die Sägezähne.

Trotz allem aber hatte der Drakonier ihn verwundet.

Sturm stand unsicher auf und hielt sich das Bein.

Tivok trat zurück. Verächtlich lehnte er sich auf sein Schwert.

»Das sollte reichen, Solamnier«, meinte er.

Sturm sagte nichts, sondern rüstete sich für einen zweiten Angriff.

»Die Klinge war nämlich vergiftet, wie es bei uns üblich ist, egal, wie unehrenhaft dein Orden das findet.«

»Was hat denn mein Orden damit zu tun?« fragte Sturm wütend und hob sein Schwert.

»Sein Geld hat das Gift bezahlt«, gab Tivok mit trockenem Lachen zurück. Höhnisch hob auch er sein Schwert und drehte es langsam.

»W-was soll das heißen?« fragte Sturm. Sein Bein pochte, und er wankte.

»Solamnisches Geld hat mich und meine Kameraden bezahlt«, erklärte Tivok mit langsamer, freundlicher Stimme, als würde er einem kleinen, etwas dummen Kind etwas beibringen. »Der beste Schwertkämpfer deines Ordens hat mir Gold geboten und mir befohlen, hier auf deine Rückkehr zu warten.«

»Bonifaz?« fragte Sturm, obwohl er die Antwort bereits kannte. Der Drakonier begann, ihn zu umkreisen. Seine schwarze Zunge fuhr hin und her.

»Reg dich nicht auf«, spottete Tivok, der das Schwert von einer Hand in die andere nahm. »Gift verteilt sich schneller in heißem Blut.« Lachend machte er einen vorsichtigen Schritt auf den Jungen zu. »Aber es war wirklich Bonifaz«, flüsterte er melodramatisch, während seine Augen vor böser Belustigung funkelten. »Nannte sich Tückjäger – als ob wir nicht von dem großen Schwertkämpfer der Solamnier gehört hätten. Als ob wir nicht gehört hätten, wie er mit seinem Knappen redete, als sie zum Vingaard kamen. Allerdings Bonifaz, und er wird mir noch mehr Gold für deinen Kopf geben, den ich mir hole, wenn das Gift mit dir fertig ist.«

Der Drakonier kam zuversichtlich auf Sturm zu. Sein Atem schlug sich auf den Sägezähnen seines Schwerts nieder.

»Wenn ich vergiftet bin, was habe ich dann noch zu verlieren?« meinte Sturm kalt. Es war ein tollkühner, seltsam befreiender Gedanke.

Tivok zuckte ironisch mit den Achseln. Dann brach überall um sie Musik aus.

Es war ein kriegerisches Flötenspiel, eine alte solamnische Totenklage, die laut und schrill erklang. Tivok zuckte einen Augenblick erschrocken zusammen, doch bevor er wieder zu sich kam, war Sturm bei ihm und sang so laut wie an jenem eisigen Morgen im Hof des Turms:

»Laß seinen letzten Atemzug

Ganz sanft in der Luft sich wiegen,

Laß über Rabenträumen ihn fliegen,

Wo Tod bringt nur des Falken Flug.

Dann steig er auf zu Humas Schild

Am Himmel, ungeteilt und wild…«

Tivok stolperte rückwärts. Sein Schwanz peitschte wild auf den vereisten Schlamm. Die zwei Schwerter, das solamnische Erbstück und der Drakoniersäbel mit den Sägezähnen, verkanteten sich sofort. Sturm tauchte geschwind darunter, rollte dem Drakonier durch die Beine und sprang auf der anderen Seite wieder auf, wo er spielerisch mit der flachen Klinge auf den Schwanz seines Gegners klopfte.

»Hier hinter Euch, Eure Froschheit«, spottete Sturm. Er wirbelte herum und ließ sein Schwert in einem blitzschnellen Bogen herunterzischen, so daß der Drakonier all seine Schnelligkeit brauchte, um den vernichtenden Schlag abzufangen.

Tivok taumelte zurück, denn der Junge vor ihm war nur noch Schwert und Bewegung und Idee. Wo Tivoks Schwert auch hinging, Sturm parierte, als würde die Waffe selbst Bewegung und Absicht erahnen. Sturm tänzelte knapp außer Reichweite herum und sauste wie ein Kolibri immer wieder vor, um mit seiner langen Klinge blitzartig zuzustechen.

Er schien sich verdoppelt zu haben, so tapfer schlug er sich am Ufer des Vingaard.

Langsam bekam es der Drakonier mit der Angst zu tun. Mit dem Gift mußte etwas schiefgegangen sein, denn der Mensch hätte inzwischen gelähmt und hilflos sein müssen.

Hektisch sah sich Tivok um, hielt nach einer Erhöhung, Verstärkung, nach Fluchtwegen Ausschau. Seine Augen gingen immer wieder zu dem Schwert, das blitzschnell auf seine Kehle, seine Brust, sein Gesicht zustieß. Sturm tanzte und sang beim Kämpfen, und der Wind ließ die Luft über das Metall pfeifen. In der Ferne war schwach ein Flötenspiel zu erahnen.

Der Drakonier riß sich zusammen und sprang verzweifelt auf den Jungen zu. Während er durch die Luft setzte, drehte er sich ungeschickt um und schwenkte wirkungslos sein Schwert, als Sturm beiseite trat…

Und dem Drakonier sein Schwert ins Genick schlug.

Im nächsten Moment war alles vorbei. Obwohl der letzte Schrei von Tivok dem Drakonier zu seinen schlummernden Kumpanen hochgetragen wurde, kam ihm keiner zur Hilfe, um seinen Tod an dem Jungen zu rächen, der sich in den Sattel schwang und klug genug war, nicht auf weiteren Ärger zu warten, sondern lieber seine kleine Stute über die weite, menschenleere Ebene nach Westen jagte.

Oben auf dem Damm regte sich Hawod bei dem fernen Lärm, um dann um so tiefer einzuschlafen.

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