12 Nicht weit vom Stamm

Es war ein merkwürdig zusammengewürfelter Haufen, der sie angriff.

Menschen und Hobgoblins, die sich im Unterholz zusammengedrängt hatten, maskiert und unmaskiert, in Kettenhemd, Lederrüstung, Lederpanzer oder ganz ohne Rüstung. Mit wildem Geschrei schossen sie Pfeil um Pfeil auf die unglücklichen Wanderer ab. Zu deren Glück waren die Angreifer jedoch nicht gerade die besten Schützen. Die meisten Pfeile flogen harmlos über ihre Köpfe, obwohl einer mit einem scharfen Aufprall Luins Sattel traf, was die arme Stute jedoch mehr erschreckte als verletzte. Doch nachdem die Banditen sich eingeschossen hatten, kamen die Pfeile allmählich näher.

Jack sah ruhig, aber fest zu Sturm zurück. Er zwinkerte, und seine schwarzen Augen nahmen die Umgebung in sich auf – die überhängenden Zweige, das knappe Dutzend Feinde, das sie am Ufer erwartete.

»Könnt Ihr es mit ihnen aufnehmen, Sturm Feuerklinge?« flüsterte Jack mit dem Rascheln von Eichenblättern in der Stimme, als er seine tropfende, blinkende Schwertklinge aus dem Wasser zog.

»Ich – ich habe keine Waffe, Jack«, sagte Sturm. Augenblicklich bereute er seine Worte. Seine Stimme klang schrill und dünn und fast zitternd neben dem Gebrüll der Banditen und dem nahen Zischen der vorbeifliegenden Pfeile.

»Unsinn!« rief Jack lächelnd aus. »Folgt mir, dann bewaffne ich Euch im Handumdrehen!«

Bevor Sturm etwas sagen konnte, zog sich Jack auf den Strang hoch. Wie ein Seiltänzer rannte er durch den Pfeilregen über das Seil, sprang am anderen Ufer hinunter und erledigte dort mit einem raschen, wirbelnden Schwertschlag einen Hobgoblin, der auf die Erde sank und das rote Ufer mit einem Strom glänzend schwarzem Blut überzog.

Gemächlich hob Jack das Schwert des Monsters auf und warf es zu Sturm hinüber, der seine Hand danach ausstreckte, die Augen schloß und ein Stoßgebet zu Paladin schickte, daß er das Heft erwischen würde und nicht die Klinge. Das kalte, beruhigende Gefühl von rundem Metall in seiner Hand verriet ihm, daß seine Gebete erhört worden waren, und mit seinem tapfersten Schlachtruf zog er sich an dem Strang durchs Wasser, bis seine Füße festen Grund berührten und er das Ufer hochrennen konnte, um seinem Kameraden zu helfen.

Schnaufend und schreiend und mit einer Spur aus Matsch und Wasser hinter sich, kletterte Sturm aufs Trockene und fuhr mit dem schweren Hobgoblinschwert in der Hand herum. Fünf Räuber hatten sich auf Jack gestürzt, während Sturm noch auf dem Weg zum Ufer gewesen war. Doch Jack Derry bewegte sich so schnell und gekonnt. Er schien mit den fünf leicht fertigzuwerden, aber schon brachen drei andere aus den Büschen, zwei dicke Hobgoblins und ein schlaksiger Mann mit einer langen Narbe an der Lippe.

Sturm stellte sich dem häßlichen Dreigespann. Ihre Bewegungen waren langsam und unsicher, eher das Getue von Kneipenschlägern als das zielgerichtete Verhalten von Soldaten. Das sollte doch leicht sein, dachte der Junge. Nachdem er sein Schwert zum ehrwürdigen solamnischen Gruß erhoben hatte, trat er in den Kampf ein.

Sehr schnell entwickelte er einen gesunden Respekt vor den Kneipenschlägern. Die Hobgoblins waren dick und stark und überraschend schnell, aber noch bedrohlicher war Narbenlippe, der magere Bandit, der im Hintergrund blieb, seinen Wurfdolch bereithielt und auf die leiseste Blöße wartete. Sturm wünschte sich den Schild seiner Vorfahren, als er nach links tänzelte, um die Hobgoblins zwischen sich und dem großen, mörderischen Mann zu halten.

Der kleinere Hobgoblin, ein zahnlückiger, gelbgrüner Schurke, der nach Aas stank, stürzte sich immer wieder auf Sturm. Jedesmal parierte der Junge seine Schläge, doch jedesmal wurde er auch weiter zurückgedrängt, immer weiter, bis er merkte, wie seine Füße im Schlamm des Flußufers zu rutschen begannen. Verzweifelt warf er sich nach vorn, glitt schnell unter dem ausgestreckten Schwert des Räubers durch und stieß sein Schwert unter dessen ledernen Brustpanzer, während sein Gesicht an dem seines Feindes klebte. Die gelben Augen des Hobgoblins wurden groß und glasig, als Sturm ihn wegstieß, das Schwert aus seinem Bauch zog und sich seinem größeren Kameraden stellte.

Der große Goblin, dessen Keule so lang war wie Sturms Bein, schlug mit seiner Waffe krachend ins hohe Gras, als Sturm gekonnt beiseite sprang. Einen Augenblick war er in Narbenlippes Wurfbereich, und der hagere Mann trat vor, um anzugreifen. Aber Sturm sprang auf die andere Seite des großen Hobgoblins, der wieder seine Keule erhoben hatte.

Wieder und wieder schlug das Ungetüm mit seiner Waffe zu, doch jedesmal war Sturm viel zu schnell, seine Bewegungen viel zu unberechenbar. Hinter diesem seltsamen, mörderischen Tanz wurde Narbenlippe immer ungeduldiger. Wenn er den großen Banditen beobachtete, sobald er den angreifenden Hobgoblin kurz aus den Augen lassen konnte, sah Sturm den Mann vortreten, einen Wurf ansetzen und dann ärgerlich aufstampfen, wenn sein Ziel wieder in Sicherheit sprang.

So hätte es weitergehen können, bis Sturm müde wurde und die Keule oder der Wurfdolch ihr Ziel fanden, wenn Narbenlippe nicht zu ungeduldig geworden wäre. Mit frustriertem Aufschrei schleuderte der große Bandit seinen ersten Dolch.

Er senkte sich in den Rücken des Goblins, der mit dem Gesicht nach vorn in den Fluß fiel. Narbenlippe hatte einen zweiten Dolch parat, den er auf Sturm warf, der keuchend und sprachlos vor Überraschung und Müdigkeit dastand.

Sturm sah, wie der Räuber den Arm hob und vorschnellen ließ, so daß der Dolch wie ein Komet durch die Luft blitzte. Dann traf Sturm etwas von der Seite, und er fiel hin, worauf das Messer an seinem Ohr vorbeisauste.

Jack Derry kniete mit dem Schwert in der Hand über ihm.

»Bleib unten, Jack!« rief der junge Gärtner, der dann herumfuhr, um Narbenlippe anzugreifen.

Benommen und ausgepumpt versuchte Sturm aufzustehen, was ihm jedoch nicht gelang.

›Jack?‹ dachte er. Wieso nennt er mich Jack? Aber es war keine Zeit für Erklärungen. Jack Derry rannte auf Narbenlippe zu, der einen neuen Dolch zog und ihn genau auf Jacks Bauch warf. Jack zog mit fast unnatürlicher Schnelligkeit seine eigene Klinge vor den Körper, um das Geschoß perfekt abzuwehren. Narbenlippe drehte sich um und wollte davonrennen, aber dann bäumte er sich plötzlich auf, denn ein Dolch flog über Sturms Kopf und bohrte sich in den Rücken des großen Räubers. Nachdem sie schnell wie eine Hirschkuh an Sturm vorbeigesprungen war, zog Mara Jack einen Dolch aus dem Gürtel und nahm neben dem Gärtner den Kampf auf.

Völlig erschöpft stand Sturm auf. Er sah zum Fluß, wo sieben tote Räuber lagen, die Jacks schwindelerregender Schnelligkeit und Tapferkeit zum Opfer gefallen waren. Aber weiter hinten kamen zehn oder gar zwölf weitere, die ihre Schwerter schwenkten und in der rauhen Sprache von Neraka schrien.

»Verschwinde hier, Jack!« rief Jack Sturm zu, der befremdet auf ihn zu taumelte.

»Und nimm sie mit«, sagte er mit einem Nicken zu Mara. »Nur die Götter wissen, was sie mit ihr anstellen würden!«

»A-aber-«, fing Sturm an, wurde jedoch unterbrochen. Jack wollte nichts mehr hören.

»Los, Jack!« schrie der Gärtner, so laut er konnte, und schüttelte zum Nachdruck seine dunklen Haare. »Beschütze diese Frau – und vergiß nicht, die Eichel fällt nicht weit vom Stamm!« Er machte drohend einen Schritt auf Sturm zu und hob sein Schwert. Sturm, der jetzt überzeugt war, daß sein Begleiter verrückt geworden war, wich zurück, als Mara auf ihn zu rannte, ihn am Arm packte und ihn nach Süden am Ufer entlang zog.

»Mach schnell, Sturm!« flüsterte sie, während sie ihn mit aller Kraft über eine Wurzel zerrte. »Jetzt kannst du mich endlich retten!«

Völlig durcheinander warf Sturm einen letzten Blick auf den mutigen Gärtner und drehte sich um.

Obwohl er nicht gerade ein Held war, hatte sich Cyren wenigstens darum gekümmert, die Pferde das Ufer hoch zu treiben. Aufgeregt zertrampelten sie das hohe Gras, während ihre groben, rollenden Augen wieder und wieder zu der lauernden Spinne gingen. Sturm schwang sich auf Eichel und hob Mara zu sich hoch; sie wiederum hatte Luins Zügel ergriffen und zog das große solamnische Pferd hinter sich her. Als hätten sie die Flucht monatelang geplant, bewegten sich Eichels kurze Beine schnell und zielstrebig, während sie außer Schußweite und schließlich außer Hörweite trabte.

Sturm sah sich ein letztes Mal um, bevor die Äste und Büsche ihm den Blick zum Fluß versperrten. Der tapfere Jack stand lächelnd zwischen den Nadeln, den Zweigen und den frischen Blättern. Er reizte die Räuber, indem er sein Schwert schwang und auf eine merkwürdig dreiste Art herumtanzte, die Sturm irgendwie unklar an etwas erinnerte.

Fürs erste hielten sich die Räuber zurück. Jack hatte ihnen gezeigt, was er mit seiner Waffe vermochte, und keiner von ihnen wollte seine Schwertkunst als nächster auf die Probe stellen.

Aber das würde nicht lange dauern. Sturm schüttelte den Kopf und wurde traurig, als er sich dem vor ihm liegenden Weg zuwandte, um Jack Derry allein zurückzulassen. Wäre Mara nicht dabei, würde er Seite an Seite neben dem Gärtner kämpfen und die Nerakaner und Hobgoblins besiegen oder ihnen bis zum Ende trotzen. Aber sie war hilflos und zerbrechlich und…

»Schau auf den Weg, Solamnier!« befahl das hilflose, zerbrechliche, kleine Ding, das ihn am Ohr riß, damit er wieder achtgab. »Jack Derry riskiert doch nicht seinen dummen Kopf, damit du uns den Hals brichst!« Eine Stunde lang ritten sie schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Obwohl Sturm den Gärtner kaum kannte, trauerte er sehr um ihn. Er versteckte sein Gesicht dabei in den dunklen Falten seiner Kapuze. Dennoch war seine Verwirrung ebenso groß wie die Trauer.

»Jack«, sagte er schließlich zu Mara. »Warum hat er mich Jack genannt?«

Das Elfenmädchen zog die Pelze, die es bedeckten, enger zusammen. Mondlicht floß über die silberne Flöte in ihrer Hand. »Damit sie ihn angreifen und nicht dich, du Einfaltspinsel«, antwortete sie und hob die Flöte an die Lippen.

»Das verstehe ich nicht, Mara«, sagte Sturm, der die ersten Töne der Musik unterbrach.

»Erinnerst du dich an die Fallen und Hinterhalte, von denen Jack dir erzählt hat? Die dieser Bonito – «

»Bonifaz«, unterbrach Sturm. »Fürst Bonifaz von Nebelhafen.«

»Bonifaz, Bonito…«, meinte Mara wegwerfend. »Wer auch immer versucht hat, dich aus dem Weg zu räumen. Meiner Meinung nach hat Jack gedacht, die Räuber wären eine dieser Fallen.«

»Und daß er mich Jack nannte…«, fing Sturm an, dem es allmählich dämmerte.

»Hieß, daß der andere junge Mann der Mensch war, den sie suchten«, sagte Mara. »Der, der dumm und solamnisch genug sein würde, sie alle aufzuhalten, damit wir entkommen können.«

»Also hat Jack sich… sich für mich ausgegeben!« rief Sturm aus, der vergeblich versuchte, Eichel wieder auf den Weg zu lenken.

»Sind alle Feuerklinges so begriffsstutzig?« fragte Mara ironisch. »Paß auf dein Pferd auf, Meister Sturm, bevor es uns noch bis ganz nach Neraka schleppt!« Die Dunkelheit kam rasch und plötzlich, wie so oft gegen Ende des Winters. Sie waren durch hohes Gras und über die Äcker gestreift, immer vergeblich auf der Suche nach dem Weg nach Dun Ringberg. Westlemisch war offenbar so konturlos wie das Gesicht eines Mondes, und genauso gastfreundlich.

So weit Sturm sehen konnte, nicht eine Laterne oder Lampe, kein Holzrauch in der Luft, kein Geräusch von Herden oder Wachhunden. Es war ein menschenleeres Land ohne jeden Orientierungspunkt.

Sturm stieg vom Pferd. Vor ihm erstreckte sich das hügelige Land, doch die Wolken verdeckten die Sterne so gründlich, daß er nicht einmal Norden von Westen unterscheiden, geschweige denn sich vom Himmel leiten lassen konnte.

»Soviel zu Lemisch«, sagte er niedergeschlagen. »Alles eine einzige Weide.«

Mara blieb im Sattel und suchte blinzelnd mit ihren scharfen Elfenaugen die Umgebung ab.

»Dun Ringberg ist irgendwo in der Nähe«, sagte sie. »Da bin ich ganz sicher.«

Hinter ihnen bewegte sich das Gras, und Cyren krabbelte ins Freie. Er zog einen einzelnen, weißen Faden hinter sich her.

»Ich dachte mir schon, daß du schon mal in dieser Gegend gewesen bist«, sagte Sturm, der das Mädchen ansah.

»Allerdings«, meinte Mara ruhig. »Ich bin Jack Derry schon einmal begegnet – nicht weit von hier.«

»Was? Wie hast du ihn kennengelernt? Und wer ist Jack Derry wirklich?« fragte Sturm, der vor lauter Neugier alle solamnische Höflichkeit vergaß. Denn schließlich konnte die Elfe ihm vielleicht etwas sagen, was sie in das Dorf und zu Wieland, dem Schmied, und vielleicht in Sicherheit bringen würde.

»Ich wette, er wartet in Dun Ringberg schon auf uns. Um das Dorf zu finden, müssen wir zuallererst Osten und Westen unterscheiden können. Das wird uns der Sonnenaufgang früh genug verraten.«

Zwischen den Pelzen sahen ihn ihre dunklen Augen durchdringend und fragend an.

»Du weißt genau, daß es nicht so ist«, murrte Sturm. »Jedenfalls nicht früh genug. Das Land wimmelt von Banditen, und wir sollten lieber nicht mittendrin lagern.«

»Dann richten wir uns nach den Sternen«, erklärte Mara und hob wieder die Flöte an die Lippen.

»Nach den Sternen?« fragte Sturm skeptisch. »Schaut Euch mal die Wolken an, Madame…«

Aber die Elfe hatte die Augen geschlossen, und eine unheimliche Musik erklang aus ihrem Instrument. Es war ein Choral aus Qualinesti, der Gilean dem Buch gewidmet war. Knappe Staccatotöne erfüllten die feuchte Luft um sie her, und Sturm sah sich vorsichtig um, denn er war sicher, daß die Musik sie den Räubern verraten würde.

Mara spielte, bis silbernes Licht auf ihrem Haar glänzte. Einen Augenblick lang dachte Sturm, sie würde aus sich heraus strahlen, doch dann merkte er, wie sich dasselbe Licht allmählich über seine Arme und Schultern, über Eichels Hals und die braunen Flanken von Luin hinten ausbreitete. Der weiße Solinari war durch die dichte Wolkenmasse gebrochen, so daß der Weg vor und hinter ihnen so hell war wie im Mittagslicht.

»Wie ich befürchtet habe«, sagte Mara, als das Lied vorbei war und die Wolken sich wieder zuzogen. »Wir sind ein bißchen nach Süden abgekommen. Wenn wir so weiterziehen, kommen wir wieder zum Fluß.«

»Wie… wie hast du das gemacht?« fragte Sturm, der Eichel nachdrücklich von dem Weg weglenkte, dem die störrische kleine Stute unbedingt folgen wollte.

»Gileans Weise«, sagte Mara gelassen, »mit dem Hohelied des Paladin in den Pausen. Wenn man sie kombiniert, entsteht ein Lied der… Enthüllung. Vertreibt Wolken und Nacht und macht das Wasser so still, daß man bis auf den Boden eines Teiches oder Flusses blicken kann. In den Händen der großen Barden entlarvt es Heuchelei.«

Sie lächelte Sturm zu, der angesichts ihrer tiefen braunen Augen den Atem anhielt.

»Aber ich bin kein großer Barde«, schloß die Elfe leise. »Bei meiner Musik haben wir Glück, wenn das Wetter mal kurz umspringt.«

Sturm wurde rot und riß wieder an Eichels Zügeln.

»Nun, die Wolken haben sich lange genug geöffnet«, sagte Mara, die genau nach Osten zeigte. »Dort liegt unser Ziel. In dieser Richtung liegt der Finsterwald.«

»Aber wo am Waldrand finden wir Dun Ringberg?« fragte Sturm. »Das verraten uns die Sterne nicht. Wenn wir bloß Jack Derry hier hätten!«

»Ja, aber Jack ist verloren oder flußaufwärts oder… anderswo«, sagte Mara. »So daß wir zwar leben, aber nicht schlauer sind.«

»Er hat mir zugetraut, den Weg zu finden«, murmelte Sturm untröstlich. »Er hat darauf gebaut, daß ich der Sohn meines Vaters bin, daß ich mehr vermag, als ich selbst glaube.«

»Guter Junge«, meinte Mara mit schiefem Lächeln, »im Namen der Sieben, wie kommst du denn darauf?«

»Er hat gesagt«, erklärte Sturm, »die Eichel fällt nicht weit vom Stamm. Was soll er damit schon meinen als Väter und Söhne?«

»Vielleicht etwas, was mehr mit… Bäumen zu tun hat?« fragte Mara. »Oder einfach ein Rätsel, daß du nicht verstanden hast, weil du nur an Väter denkst? Schließlich konnte Jack dir nicht den Weg nach Dun Ringberg beschreiben. Die Räuber hatten schließlich Ohren und hätten uns wie Spürhunde verfolgt.«

Sturm nickte. Das klang einleuchtend. Jack war schließlich ein Mann voller Rätsel und Heimlichtuerei. Sturm saß auf seiner zunehmend widerspenstigen Stute und sann darüber nach, was er alles über Bäume gehört hatte, über Gärtner, über den mythischen alten Kalender der Dryaden, der angeblich einer Baumsymbolik folgt. Es half alles nichts. Er kam sich vor, als wäre er wieder im Labyrinth von Kastell di Caela oder im dichtesten Nebel des grünen Mannes.

Die Stute bockte wieder, worauf er wütend die Zügel anzog. »Bei den Göttern, Eichel!« fauchte er. »Wenn du nicht – «

Maras Gelächter ließ ihn stocken.

»Was soll das?« rief er, doch die Elfe lachte nur noch lauter.

»Laß die Zügel los, Sturm Feuerklinge«, sagte sie, als sie wieder Luft holen konnte.

»Wie bitte?«

»Denk doch nach, Sturm. Wer von uns kennt den Weg zum Dorf Dun Ringberg?«

Langsam und widerstrebend öffnete Sturm seine Hand. Die Zügel fielen schlaff über Eichels Hals, und als sie die plötzliche Freiheit spürte, drehte sich die kleine Stute um und schritt zielstrebig nach Osten, dann nach Süden, dann wieder nach Osten. Mara begann zu singen, ein altes Lied aus Qualinost mit den ebenso alten Worten.

»Die Sonne, Das herrliche Auge

In unser aller Himmel,

Verläßt den Tag Und läßt

Den verträumten Himmel

Mit Feuerfliegen übersät

Die das Dunkel vertiefen

Die Blätter

Verbreiten kaltes Feuer,

Verglühen zu Asche

Am Ende des Jahres. Und Vögel

Bewegen sich im Wind

Und fliegen gen Norden

Wenn der Herbst endet.

Der Tag wird dunkel,

Die Jahreszeit kühl,

Aber wir

Erwarten der Sonne

Grünes Feuer über

Den Bäumen.«

Vor ihnen sprossen grüne Fußstapfen aus dem trockenen Bodenbewuchs. Eichel beugte sich hinunter und fraß leise einen davon. Luin folgte ihnen. Sie knabberte ebenfalls an den Fußstapfen und fraß so den Weg hinter ihnen auf. Sie hörten, wie die Spinne Cyren ihnen folgte.

Sie hatten noch keine zwanzig Schritt zurückgelegt, als auch vor ihnen Musik erklang. Eine wunderbar fließende Melodie gesellte sich zu Maras Gesang, und als Sturm die Augen schloß, sah er vor seinem inneren Blick flüssiges Silber wie einen Zauberfluß vorbeiströmen.

Also hatte Vertumnus wieder in die Musik eingestimmt. Sturm setzte sich im Sattel zurecht und überließ sich Eichels Orientierungssinn und der Musik um sich her. Obwohl das Lied des grünen Mannes unausweichlich zu… Herausforderungen führte, führte es auch zum Südlichen Finsterwald. Und trotz der Risiken und Gefahren war das das Ziel seiner Reise.

Sie zogen weiter, und obwohl die Nacht undurchdringlich war, war Sturm jetzt viel leichter ums Herz zumute. Jack Derrys Rätsel war nichts gewesen im Vergleich zu den Mysterien, die vor ihm lagen. Aber daß er das eine gelöst hatte, gab ihm Hoffnung, auch die anderen zu lösen. Der Weg vor ihm sah jetzt weniger einschüchternd aus, und als die schwachen Lichter von Dun Ringberg vor ihnen schimmerten, stellte sich Sturm die Schmiede, das neugeschmiedete Schwert und einen geschlagenen Vertumnus vor, der, das Gesicht nach unten, am ersten Tag des Frühlings auf dem Boden lag.

Alles schien möglich, sogar wahrscheinlich. Er spürte das aufgeregte Kribbeln des Abenteuers. Er setzte sich im Sattel zurück, wobei er die schlafende Mara anstieß, die murmelnd ihre Arme fester um seinen Bauch legte. Einen Augenblick lang schien es, als wäre er für diese Reise geboren.

Er bemerkte die Männer erst, als sie wie Nebel aus dem hohen Gras auftauchten – plötzlich, schnell, ruhig und überlegt. Der Anführer, ein brauner, verhutzelter, kleiner Kerl, hob lächelnd die Hand.

»N’Abend, Sturm Feuerklinge!« rief er in fließender Gemeinsprache, jedoch mit deutlich lemischem Akzent.

Guter, alter Jack Derry, dachte Sturm bewundernd. Zu Fuß so schnell wie mit dem Schwert. »Holla!« rief er und sprang vom Pferd. Und dann, mit etwas mehr solamnischer Förmlichkeit: »Mit wem habe ich die Ehre?«

»Hauptmann Duir von der Miliz von Dun Ringberg, Sir!« verkündete der hutzelige, kleine Mann, dessen Strammstehen seltsam komisch wirkte. »Ernannt zum Schutz der Westgrenze.«

Sturm sah sich belustigt zu Mara um, die sich augenreibend im Sattel zurechtsetzte.

Sturm stieg ab, zog seinen Handschuh aus und streckte in guter, solamnischer Tradition die Hand aus. Scheu und verlegen reichte Hauptmann Duir ihm die Hand, und die beiden Männer begrüßten sich als Gleichgestellte.

Sturm nickte dem Bauernsoldaten lächelnd zu, der zaghaft zurücklächelte, während er die blauen Augen merkwürdig amüsiert zusammenkniff.

»Meister Sturm Feuerklinge von Solamnia«, erklärte der Hauptmann, dessen Griff um Sturms Hand fester wurde, »im Namen der Druidin Ragnell verhafte ich Euch als Eindringling!«

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