5 Abreisen und Pläne

An diesem Morgen wendeten nur die Frechsten ihre Augen nicht ab.

Während die Nacht zu Ende ging und die Glocke der dritten Wacht tief und einsam durch die kalten, fackelerhellten Korridore hallte, regten sich die Knappen langsam, um ihren Herren die Rüstung zu richten. Sie murrten über das Wetter und die frühe Stunde. Zu dieser Zeit wurde es normalerweise richtig lebendig, es wurde gescherzt und geschwatzt, aber heute morgen war es still, alle dämpften ihre Stimmen, als Sturm auf dem Weg zum Stall vorbeieilte. Schweigend, fast beschämt, wendeten Ritter und Knappen die Augen ab. Sogar die Diener, die den Angelegenheiten der Solamnier sonst gleichgültig gegenüberstanden, unterhielten sich nur noch im Flüsterton.

»Als wenn sie einen Verdammten verabschieden«, murmelte Sturm in sich hinein. Er trat in den zentralen Burghof, in die Dunkelheit und die letzten Schneewehen des Winters. Derek Kronenhüter stand einen Steinwurf weit von der Stalltür entfernt. Er war in Decken und Nebelwolken gehüllt. Zwei von den Jeoffreys standen bei ihm. Da sie alle Aristokraten waren und ihre Familien seit Generationen an der Spitze standen, hatten die drei keine morgendlichen Pflichten. Sturm rätselte, was sie aus ihren warmen Betten und ihren hochwohlgeborenen Träumen getrieben hatte.

Als der Junge in den Stall ging und nach seinem Sattel griff, der am gewohnten Platz an der Wand hing, war dieser mit trockenem Efeu festgezurrt und bizarr mit Ewigkeitsbaumgrün geschmückt. Er hörte es draußen lachen und zerrte wütend den Sattel aus der Umklammerung des Grünzeugs. Die Ranken rissen, so daß er mit dem Sattel ins Taumeln geriet, und da erhob sich aus der dunklen Kälte ein Chor junger Stimmen.

»An deine Brust nimm, Huma, ihn«, sangen sie.

»An deine Brust nimm, Huma, ihn

Am Himmel, ungeteilt und wild.

Gönn eines Kriegers Frieden ihm;

Befrei den letzten Blick so mild

Von den Wolken der Kriegesflammen

Die von Sternenfackeln stammen…«

Sturm trat aus dem Stall. Unwillkürlich mußte er lächeln. Schließlich sangen die Jungen eine solamnische Totenklage.

Sie brachten den Vers zu Ende und standen verächtlich vor ihm. Derek Kronenhüter war nach dem schiefen Gesang rot angelaufen und atemlos, aber er hatte sich breit vor seinem Rivalen aufgebaut, obwohl sein Lederharnisch rissig und schmutzig und sein Gesicht ungefähr in vergleichbarem Zustand war. Hinter ihm schüttelten sich die beiden blassen, hämischen Jeoffreys mit ihren Fledermausgesichtern vor Lachen.

Sturm kam ein verrückter Gedanke. Wenn er Derek Kronenhüter wirklich seinen Wunsch erfüllen und von dieser seltsamen, verwünschten Reise nie zurückkehren würde, warum sollte er dann nicht so ausziehen, wie sein Vater in jener legendären Nacht, als Schloß Feuerklinge gefallen war, seine trauernde Garnison verlassen hatte? Warum sollte er sie eigentlich nicht lachend verlassen?

Mit einem Mal stimmte Sturm wild in den Gesang mit ein.

»Laß seinen letzten Atemzug

Ganz sanft in der Luft sich wiegen,

Laß über Rabenträumen ihn fliegen,

Wo Tod bringt nur des Falken Flug.

Dann steig er auf zu Humas Schild

Am Himmel, ungeteilt und wild.«

Lauter und lauter sang Sturm, und brachte so erst den einen Jeoffrey, dann den anderen, dann Derek, den Anstifter, zum Verstummen. Verwirrt und eingeschüchtert wichen die Knappen vom Stall zurück, während Sturm ihnen folgte und noch lauter sang.

Gründlich durcheinander drehten sich die Jeoffreys um und rannten davon, bis nur noch Derek rückwärts durch den Hof schritt. Sturm ging auf ihn zu und sang noch lauter, bis in den Turmfenstern die Lichter angingen, weil ungehaltene Ritter von Dereks schiefgegangenem Streich aus dem Schlaf gerissen worden waren.

Schneller und schneller wich der hochnäsige Knappe zurück, dem jetzt das Lachen im Hals steckenblieb, als er in die harten Augen dieses offensichtlich irren Südländers blickte. Derek Kronenhüter war so auf seinen Rückzug versessen, daß er den Gärtnerjungen Jack übersah, der hinter ihm stehengeblieben war, um sich von der unangenehmen Aufgabe zu erholen, eine Schubkarre voll Mist von den Ställen wegzuschieben.

Es war wirklich schade, daß er ihn übersah.

Derek kippte hintenüber in die Schubkarre, doch sein Fall wurde von deren noch recht frischen Inhalt abgebremst. Während er aus der Schubkarre kroch, stolperte und hinfiel, brachte Sturm die Totenklage mit lauter, überschnappender Stimme zu Ende.

Stephan und Gunthar standen oberhalb der Jungen auf den Zinnen, blickten hinunter und beobachteten den Verlauf der ungewöhnlichen Morgenmusik.

»Ein echter Feuerklinge, der da unten«, sagte Fürst Gunthar leise zu seinem alten Freund.

»Nicht nur Feuerklinge«, räumte Stephan ein. »Aber, so die Götter wollen, feurig genug.« Sturm lächelte wieder, als er sein Pferd sattelte. Ihm war wild, unruhig und seltsam frei zumute.

Derek war rot und wütend geworden und davongelaufen, diesmal sehr vorsichtig, und hatte sein arrogantes Gehabe im verschneiten Hof zurückgelassen. Auf den Stufen zum Rittersporn war ein verärgerter Fürst Bonifaz aufgetaucht, der den dreckigen Knappen an einem sauberen Ärmel festhielt.

»Wie kannst du den Morgen mit solchem Unfug vertun«, schimpfte Bonifaz, »wenn ich bis Sonnenaufgang noch hundert Dinge für dich zu tun habe!« Sie trollten sich über den Hof, wobei der Ritter seinen Knappen schalt und ihn mit Fragen über Fragen überhäufte. Der Gärtner Jack verbarg ein zahnlückiges Lächeln und schob die Schubkarre hinter ihnen her. Leise summte er Sturms Lied vor sich hin.

Sturm grinste, als er die Prozession abziehen sah. Zweifellos würde Derek ein Bad nehmen müssen und dann in seine mit Teppichen ausgelegten Gemächer geschickt werden, wo er wütend und gedemütigt üben konnte, was er am besten gesagt oder getan hätte, als der Emporkömmling aus Solace sich brüllend vor Lachen gegen ihn wandte.

»Nur einen Tag, Luin«, flüsterte Sturm der Stute zu, die freundlich in die langsam dämmrig werdende Dunkelheit des Stalls schnaubte. »Einen Tag für Derek, und wenn ich erst weit fort bin, ist völlig offen, was man sich über den Vorfall heute morgen erzählen wird.«

Die Silhouette der Festung tauchte langsam im blaßgrauen Licht auf. Die Lampen im Turm wirkten jetzt schwach, und über ihnen jagten Fledermäuse und leuchtende Vespertile in die Sicherheit ihrer Höhlen und der Heuböden des Tieflands. Tief unten in der Ebene zeichnete sich der Horizont im Nebel ab.

Bis Sturm Luin schließlich in den Hof und zum Südtor führte, war die Sonne schon aufgegangen. Dort stand Fürst Stephan, um ihn zu verabschieden. Auch Gunthar war da, der den jungen Mann streng musterte und sich davon überzeugte, daß sein Pferd ordentlich gesattelt war und daß die ererbte Rüstung auch so saß, wie es einem Solamnier angemessen ist.

»Diese Rüstung deiner Vorfahren ist ein bißchen… groß, Bursche«, erklärte Gunthar enttäuscht, während er zweifelnd auf Angriffs Brustharnisch starrte, der so weit war, daß es aussah, als hätte jemand Sturm in einen Käfig gesteckt. »Vielleicht hast du etwas Angemesseneres in deinem Zimmer?«

»Etwas Passenderes schon, Fürst Gunthar. Aber angemessener? Denn ich bin der Feuerklinge, der vom Herrn der Wildnis zum Duell gefordert wurde. Mein Erbe zieht mit mir, wohin, wissen nur die Götter.« Der Junge unterdrückte ein Lächeln. Diese Worte hatte er sich ausgedacht, während er die Stute gestriegelt hatte, und er fand sie wohlklingend und dem Maßstab getreu, eine passende Rede zum Auszug und eine passende Einleitung seines eigenen, großen Abenteuers.

Dreister kleiner Wichtigtuer, dachte Fürst Stephan leicht amüsiert. Wie er in seinem Sarg von Brustharnisch herumplappert. Mal sehen, wie ›der Feuerklinge‹ und seine Erbschaft die Neuigkeiten aufnehmen.

»Wohin, wissen nur die Götter, sehr richtig, Sturm Feuerklinge«, erklärte Stephan laut, als die großen Eichentore des Turms des Oberklerikers hinter ihm aufgingen. »Aber dein erstes Ziel ist zweifellos der Südliche Finsterwald, und anscheinend, hm, besteht Fürst Vertumnus darauf, dir den Weg dorthin zu zeigen.«

Sturm riß die Augen auf, als er Stephan über die Schulter sah. Auf unerklärliche Weise waren Ranken über das Pflaster unter dem Südtor gewachsen, die sich wie ein enormes, grünes Spinnennetz über den breiten Durchgang zogen. Und draußen auf den Flügeln des Habbakuk, die südöstlich in die felsigen Vorberge abfielen, war aus dem Nichts ein schmaler Graspfad gewachsen. Über Nacht hatte er sich von den Schloßtoren bis hinunter zur Solamnischen Ebene gezogen. Hell wie grünes Feuer strahlte er und war makellos wie ein Ehrenteppich.

»Ein guter Gastgeber, dieser Vertumnus«, scherzte Sturm unsicher, während er sich die Schulter rieb, die ganz plötzlich wieder zu pochen begann. »Wirklich ein guter Gastgeber, daß er mich vom Turm zu seiner Festung führt.« In der nebligen Luft klangen seine Worte dünn.

»Ich vertraue darauf, daß das Wagnis nicht so schlimm ist, wie es dein Freund Kronenhüter macht«, beharrte Fürst Stephan. »Aber ich würde auch nicht lügen und behaupten, dein Weg würde leicht sein. Aber mögen auch der Drache und die Gottesanbeterin dich führen, und möge das Graue Buch sich auftun und dir seine Weisheit zeigen.«

Jetzt klinge ich selbst schon aufgeblasen, dachte Fürst Stephan. Muß an der frühen Stunde und am Grünzeug liegen. Denn das hatte auch die Ritter überrascht – daß Vertumnus’ Magie bis direkt vor die Tore des Turms führte. Es war nur ein schmaler Grünstreifen – aber welche Macht! Fürst Gunthar war vom Tor weggetreten und berührte das Gras zuerst mit dem Schwert, dann mit der bloßen Hand. Stephan war ihm sogleich gefolgt. Das Frühlingsgras fühlte sich warm und biegsam an, und durch die Berührung erwachte eine seltsame Sehnsucht nach den Tiefen der Wildnis, nach dichten, grünen Wäldern.

»Mögen der Drache und die Gottesanbeterin dich leiten«, flüsterte er wieder, als Sturm vorsichtig sein Pferd durch das Rankengewirr zu Vertumnus’ magischem Pfad führte. Auch Bonifaz und Gunthar sahen von den Mauern aus zu, und den Rittern kam der Junge verletzlich und völlig unzureichend vorbereitet vor. Wieder bedauerte Fürst Stephan, daß Eid und Maßstab sie daran hinderten, alle zusammen die Waffen zu ergreifen und ihm zu folgen.

Mag er auch ein Feuerklinge sein – ja, in Aussehen und Mut war er wirklich Fürst Angriffs Sohn. Aber was vor ihm lag…Bonifaz zerrte seinen stotternden Knappen zu einem abgeschiedenen Platz außerhalb des Gartens, der neben einem Schuppen lag, wo Gärtnerwerkzeug zwischen zerbrochenen Statuen und den Resten eines gnomischen Beregnungssystems lag, das von Anfang an nicht funktioniert hatte.

Bonifaz sah sich um und ging sofort auf seinen zerknirschten Neffen los.

»Ist alles bereit, Derek?«

»A-alles?« stammelte der Junge ängstlich.

»Alles, du verzogener, kleiner Trottel! Die Falle an der Furt, die Stute, der Hinterhalt, die Überraschung im Dorf, das – «

»Onk – Fürst Bonifaz, bitte!« flüsterte Derek drängend, wobei er verzweifelt zu Jack hin nickte, der gelassen den Mist auf einen Haufen am Ende des Gartens kippte. Der Gärtner wischte sich die Hände ab und schob sich vorsichtig durch ein Blumenmeer, um sich dann hinzuknien und die grüne Knospe einer grünen Rose zu untersuchen.

»Vergiß ihn!« befahl der Ritter mit drohender, aber gesenkter Stimme. »Das ist bloß ein einfältiger Diener, aber vielleicht hätte selbst er die Überraschung für diesen Trottel von Feuerklinge besser vorbereiten können.«

»Sorgt Euch nicht, Sir«, erwiderte Derek kalt und würdevoll, obwohl er sich ärgerte. »Bei Paladin und allen Göttern des Guten, seid gewiß, daß alles, was Ihr für Sturm Feuerklinge geplant habt, an Ort und Stelle ist und nur auf seine… seine ehrenvolle Ankunft wartet.«

Bei diesen Worten entspannte sich der mächtige Schwertritter von Solamnia und ließ seinen Knappen los. Mit neugierigem Lächeln betrachtete er den Jungen vor sich.

»Das sind merkwürdige Götter für deinen Eid, Derek Kronenhüter. Wirklich merkwürdige Götter.« Sturm staunte, wie der grüne Strang dem Weg folgte, auf den er sich vorbereitet hatte.

Durch die Flügel des Habbakuk senkte er sich hinunter, grenzte an den Hartwald, das kleine Dickicht, das neben Nadelbäumen und Ahorn die einzigen Vallenholzbäume in den Vingaard-Vorbergen beherbergte, verlief dann glitzernd nach Süden, wo ihn der Morgennebel verdeckte, wo er aber zweifelsohne zum Fluß führen mußte und dann weiter in die Provinzen von Lemisch und ins Herz jenes geplagten Landes, wo der Südliche Finsterwald lag.

Obwohl ihm der grüne Mann den Weg zeigte, konnte man auf der Solamnischen Ebene nicht mehr sicher reisen, denn seit den großen Zeitaltern von Helden wie Vinas Solamnus, Bedal Blitzklinge und Huma Drachentöter hatten sich die Zeiten geändert. Damals war das Land noch rechtschaffen gewesen, denn starke Lanzen und noch stärkere Überzeugungen hatten es gegen seine Feinde verteidigt.

Jetzt war es beinahe unmöglich, sich diese alten Zeiten auch nur vorzustellen. Das Land hatte sich wütend und gewaltsam gegen die Ritter aufgelehnt. Bauern rebellierten. Nerakanische Räuber machten die Ostgrenzen unsicher, und im Kernland hatten sich angeblich noch dunklere Wesen eingenistet – schnatternde Schuppenwesen, verschlagene Reptilien, die Kinder stahlen und Vieh töteten, die wie ein kalter Wind durch die Dörfer zogen und an Türen rüttelten…

Sturm erschauerte. Vor ihm erstreckte sich die weite Ebene, die nebelverhangen und nur von rostroten Tupfen toter Heide gefleckt war, über die sich wie eine glitzernde Schärpe der grüne Pfad zog. Es war eine eintönige, herbe Landschaft, wo er sich schnell für Tage verirren konnte, wenn er nicht achtgab. Es war hier so seltsam still, als hätte der Wind keine Stimme.

Luin wieherte fröhlich unter ihm und blieb stehen, um auf Vertumnus’ hellem Weg zu grasen. Sturm drehte sich im Sattel um und sah ins Vingaard-Gebirge zurück, wo der hohe Turm des Oberklerikers in der Sonne glänzte. Obwohl der Rückweg nur knapp drei Stunden dauern würde, schien der Turm so fern, als säße er fest im Herzen eines anderen Zeitalters.

Sturm wandte sich dem grünen Weg wieder zu, der sich vor ihm entlang einer gedachten Reiseroute erstreckte, die ihm plötzlich feindselig erschien. Über den schnell fließenden Vingaard, hinunter in die Hobgoblinhochburgen von Trot – und das alles nur als Vorspiel für den Finsterwald und das, was Vertumnus mit ihm vorhatte.

»Puh, schon der Weg hin könnte mich das Leben kosten«, flüsterte Sturm nervös.

Tatsächlich war der Weg für manche gefährlich gewesen. Es gab zahlreiche, üble Geschichten von den Gefahren auf den Straßen von Solamnia. Zum Beispiel die Karawane aus Kargod, die tagelang vermißt wurde, bis man die rollenden Wagen auf der Straße nach Burg Thelgaard entdeckte. Die Pferde waren noch angeschirrt, doch die Fahrer und die Reisenden waren allesamt verschwunden. Dann war da das Dutzend Pilger aus Kaolyn, die zu den Schreinen von Palanthas wollten. Als Fürst Gunthars Suchtrupp sie entdeckte, waren ihre Körper, die man an den unteren Ästen von Vallenholzbäumen aufgeknüpft hatte, nur noch leere Hüllen.

Sturm rieb sich die Augen und zog sich den Mantel fester um die Schultern. Zweimal war es ihm schon so vorgekommen, als würde ihm jemand folgen, aber wenn er sich umschaute, sah er nur blasses Sonnenlicht, nur den Wind im hohen Gras.

Die Zwerge erzählten noch schlimmere Geschichten, überlegte er. Wie Hobgoblins gelernt hatten, den Schrei eines Menschenkinds nachzuahmen, um weichherzige Opfer zu einem einsamen, tückischen Platz zu locken, wo sie dann im dichten Nebel…

Nebel! Sturm stand senkrecht in den Steigbügeln. Während er vor sich hingesponnen hatte, hatte die Stute auf dem Grasweg angehalten und genüßlich den Pfad vor ihnen vertilgt.

Jetzt erhoben sich unnatürlich blasse Nebelarme wie Geister überall aus der Ebene. Die Sonne war nur noch schwach zu sehen. Die Luft war weiß, weiter entfernt, wo der aufsteigende Nebel jedes Sonnenlicht verdeckte, nur noch grau.

Sturm lehnte sich nach vorn und blinzelte umher, die Hand am Schwert. Er schnalzte mit der Zunge, damit die verängstigte Luin weiterging. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, als würde sie durch einen Sumpf laufen.

Dann erhob sich aus dem Nichts Musik, ein altes Hornstück in Moll. Sturm zog sein Schwert und fuhr im Sattel herum, aber überall war nur Musik und Nebel und sonst nichts. Sofort kam er sich dumm vor, als ob er sein Schwert gezogen hätte, um gegen die Luft zu kämpfen.

»Komm raus, Vertumnus!« murmelte Sturm, dessen Stimme sich vor Ärger hob. »Komm raus aus deinem Nebel und Quatsch und laß es uns beilegen. Schwert gegen Schwert, Ritter gegen Ritter, Mann gegen Mann!«

Aber die Musik ging unaufhörlich weiter. Die Melodie veränderte sich, wiederholte sich und war immer zu erkennen und doch nie dieselbe. Der Nebel begann, zur Musik zu tanzen, bis er in einem irren, wilden Kreistanz herumwirbelte. Jetzt konnte Sturm nicht einmal den Boden sehen. Es war, als würde Luin durch flaches, unbekanntes Wasser waten.

Vorsichtig stieg der Junge ab und ging mit leichten, zaghaften Schritten neben seinem Pferd her. Er konnte das frische Gras nicht mehr fühlen und fragte sich allmählich, ob sich auch der Boden in Nebel aufgelöst hatte.

»Die Burg… ist Burg Vingaard links? Der Sonnenuntergang…«, murmelte Sturm vor sich hin. Jetzt waren Anhaltspunkte nutzlos, falls er sich in dieser teuflisch verwirrenden Musik überhaupt noch an sie erinnern konnte. Die Straße veränderte sich Schritt um Schritt, und er haßte sich dafür, daß er sich jetzt schon verirrt hatte.

Fast eine Stunde lang stapfte Sturm im Nebel umher. Sein Weg war hoffnungslos verworren, und allmählich war er nicht mehr befremdet, sondern voller Furcht.

Ganz plötzlich hörte die Musik auf. Die sich anschließende Stille war wieder reglos und feindselig, als würde die Ebene selbst schweigen, weil sie eine furchtbare Untat erwartete. Sturm merkte, wie das Schwert in seiner Hand zitterte.

Ein paar Minuten später setzte er seine Wanderung noch zögerlicher fort. Der Schrei einer Eule in einer vom Blitz getroffenen Eiche klang wie ein Ruf aus dem Land der Toten, und einmal oder zweimal kam es dem Jungen so vor, als würde in der Nähe ein Baby schreien. Diese Geräusche brachten ihn an den Rand der Panik. Zweimal setzte er den Fuß in den Steigbügel, aber beide Male riß er sich zusammen und besann sich eines Besseren.

»Das fehlte noch!« flüsterte er verstimmt. »Ein böser Sturz vom Pferd in dichtem Nebel! Schlag dir doch den Schädel ein, auf daß du dein letztes bißchen Verstand los bist!«

Als er schließlich befürchtete, daß er schon auf dem Rückweg zum Turm war, beschloß Sturm, anzuhalten und zu warten, bis sich der Nebel hob. »Denn würde Derek Kronenhüter nicht feixen«, fragte er Luin, »wenn ich einfach vor dem Südtor aus dem Nebel laufen würde, und das außer mir vor Entsetzen?«

Er biß die Zähne aufeinander. »Bei Huma!« schwor er. »Lieber sterbe ich, als daß ich diesem Schuft einen solchen Triumph gönne!«

Luin schob dem Jungen ihre lange Schnauze über die Schulter und knabberte gedankenverloren an seinen Haaren.

Gemeinsam warteten die beiden, die alte Stute und ihr junger Reiter. Sie dösten vor sich hin, um nur hin und wieder beim Aufflattern von Wachteln oder dem Zirpen von Eichhörnchen in den fernen Bäumen hochzufahren. Schließlich kam der Abend, und das Land um sie herum beruhigte sich. Sturm schreckte aus dem Schlaf auf. Einen Augenblick lang dachte er, er wäre wieder im Turm des Oberklerikers, sicher in den Knappenquartieren. Aber er steckte in Rüstung und Mantel und lag auf freiem Feld. Er drehte sich um und zwinkerte traumverloren, doch ihm fiel sofort ein, wo er sich befand.

»Luin!« flüsterte er. Das Pferd hatte sich nur ein Stück von ihm entfernt. Durch die Dunkelheit des frühen Morgens hörte er es schnauben und dahintrotten. Mühsam richtete Sturm sich auf, denn der Brustharnisch seines Vaters war sperrig und schwer auszubalancieren. Nach einem letzten Taumeln stand der Junge gerade und marschierte in die Richtung des Geräuschs.

Plötzlich gab es ein leichtes Rascheln im Wind, ein Geräusch, an das er sich Jahre später in den Ruinen von Xak Tsaroth sofort erinnern würde. Zuerst dachte er, es wäre ein Sturm, der durch die Blätter rauschte, aber die Luft war unbewegt. Sturm dachte an Vertumnus, an den ungewöhnlichen Wetterumschwung…

Er geriet ins Stolpern, als ein heißer Windhauch über ihn hinwegstrich, der nach Schwefel, Asche und Zorn roch. Zuerst war es, als würde die Ebene brennen, als stünde der Nebel ringsumher in Flammen. Er hustete heftig.

Sturm drehte sich um sich selbst, während er verzweifelt nach Luin pfiff. Ruhig tauchte die Stute aus dem Nebel und den Rauchschwaden auf und blieb nur stehen, um faul nach einem niedrigen Kleebüschel zu schnappen. Er sprang neben sie und stieg auf…

Und stand noch in dem einen Steigbügel, als Luin im durchdringenden Gestank etwas witterte, etwas viel Entsetzlicheres. Auf der Stelle trat sie wie hysterisch aus und galoppierte in den Nebel.

Sturm klammerte sich an den Zügeln fest. Sein Fuß hatte sich im Steigbügel verfangen. Vergeblich versuchte er, sich im Sattel zurechtzusetzen, doch Luins wilde, kopflose Flucht durch den Nebel trug die beiden durch unwegsames Gelände, und er konnte sich gerade auf ihr halten. Hinter ihm ließ das raschelnde Geräusch nach, um dann noch viel lauter wieder loszugehen. So etwas hatte der Junge noch nie gehört. Er dachte an Zyklone, an den heftigen Wind aus Aferia, der durch die Bergpässe pfeift und alles dem Erdboden gleichmacht, wenn er in die Ebene rast. Luin rannte schneller, bis ihr braunes Fell vor Schweiß naß war, aber immer noch kam der gewaltige Lärm näher, wurde lauter, schneller und drängender.

Sturm wollte nach seinem Schwert greifen, um sich dem zu stellen, was Vertumnus ihm hinterhergeschickt hatte – was auch immer es sein mochte. Aber Luin jagte weiter wie der Wind über die Solamnische Ebene. Wenn er die Hand von den Zügeln nahm, würde er riskieren, sich den Hals zu brechen oder auf dem harten Untergrund zu Tode geschleift zu werden. Also hielt er sich fest und schwang einmal, zweimal, ein drittes Mal sein Bein über den Sattel, doch die Geschwindigkeit des Pferdes und das Gewicht der Rüstung ließen ihn weiter baumeln und kämpfen. Der Nebel hinter ihm begann bedrohlich blutrot zu glühen, und inmitten des Lichts schoß eine riesige, dunkle Gestalt mit ledrigen Fledermausflügeln auf sie zu, während die Luft immer heißer wurde, bis die Hitze unerträglich war.

Da plötzlich kehrte unerwartet die Musik zurück. Der Nebel schloß sich um sie, und das Licht verschwand und nahm Getöse und Hitze mit sich. Hustend, keuchend und halb im Sattel hängend, sah Sturm zu, wie sich der Nebel auf tat und die bedrohliche, ledrige Gestalt seines Verfolgers verschluckte. Die Hitze und das Gebrüll ebbten ab.

Und die Musik echote von den Felsen um sich herum. Diesmal eine andere Melodie – ein schneller, witziger Tanz, der so mitreißend war, daß die Nachtigallen, die in den dunklen Nischen der Eichen und Vallenholzbäume versteckt saßen, trillernd zu antworten begannen. Luin fiel langsam in Trab, dann in Schritt, und der ausgepumpte, erschütterte Sturm konnte sich endlich auf ihren Rücken setzen.

»Bei Branchala, das war vielleicht was!« murmelte der junge Mann. Er sah sich um, als der Nebel zerstob und wie Regen in den harten, kargen Boden sank. Über ihm tauchten die Sterne des solamnischen Nachthimmels auf – erst die Monde, dann der helle Sirion und Reorx. Nach ihnen geschätzt war er meilenweit südlich von seinem Ausgangspunkt.

»Was… was war das, Luin?« fragte er. »Und… wo sind wir?«

Der Nebel hatte sich jetzt aufgelöst, so daß Sturm weit über die flache Ebene sehen konnte. Weiter westlich lag ein Dorf, dessen schwache Lichter in die klare Winternacht blinzelten. Es war eine einladende Vorstellung – ein warmes Dach für die Zeit bis Sonnenaufgang.

Aber Sturm kannte die Bauern und wußte, welch beständigen Haß sie gegen den Orden hegten. Welches Dorf es auch war, wie freundlich die Lichter auch winkten, Eisvogel, Krone und Rose waren in den Häusern gewiß nicht willkommen.

Seufzend wendete der Junge seinen Blick gen Osten, wo im schwachen Licht des Sonnenaufgangs und im schwindenden weißen Schein von Solinari die zwei Türme einer großen Burg am Horizont aufragten. Es war zwar sicher nicht Schloß Feuerklinge, aber immerhin ein Schloß, und in dieser Gegend gewährte ein Schloß denen vom Eid und vom Maßstab Zuflucht.

Gemächlich lenkte Sturm sein Pferd nach Osten zu den Türmen, die wie Nebel vor ihm aus dem Boden zu ragen schienen. Es dämmerte bereits, als die Wehrgänge sichtbar wurden, und im schwachen Grau des ersten Sonnenlichts konnte er das verblaßte Wappen des Schlosses ausmachen, das auf einem gewaltigen Schild über dem Westtor prangte.

Das Wappen war verwittert, die Farbe leicht abgebröckelt, doch Sturm kannte seine eigene Familiengeschichte gut genug, um die Linien zu erkennen: Hellrote Blume auf weißer Wolke vor blauem Grund.

»Di Caela!« hauchte Sturm. »Die Heimat meiner Großmutter! Wir sind weit nach Süden abgekommen, meine liebe Luin. Aber irgendwie sind wir wohl zu Hause.«

Das Pferd schnaubte wieder angesichts der Aussicht auf einen Stall. Langsam verfiel es in Trab, dann in einen leichten Galopp, und mit verdoppelter Energie trug es Sturm Feuerklinge zu den verwitterten Toren seiner Ahnen.

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