Sturm saß im Halbdunkel und rieb sich seine geschundene Schulter.
Er erlebte das Schauermärchen, mit dem man Kinder einschüchtert, um sie von Ruinen und dunklen Kellern fernzuhalten. Sturm hatte sich in die Burg hineingewagt, und irgend jemand – wahrscheinlich Vertumnus, denn eine andere Erklärung gab es nicht – hatte hinter ihm die Tür fest verschlossen. Und dann war die Tür natürlich weder durch Tricks noch mit Gewalt wieder aufzubekommen gewesen.
Sturm sah sich um. Durch ein einzelnes, hohes Fenster strömte schwaches Licht herein, das die große Eingangshalle der di Caelas davor bewahrte, gänzlich in Finsternis zu versinken. Aber dennoch war die Halle, die in Mahagoni oder einem ähnlich dunklen Holz getäfelt war, bedrückend düster, denn nach sechs Jahren ohne Pflege waren Glanz und Prunk dahin.
Denn Kastell di Caela war im gleichen Jahr wie Schloß Feuerklinge an die Bauern gefallen, damals als Fürst Angriff verschwunden war. Agion Pfadwächter war ein Prahlhans gewesen, aber dennoch ein fähiger Statthalter, der die Ländereien gut verwaltet hatte. Doch als er in den Flügeln des Habbakuk verraten und getötet worden war, hatte er nur eine spärlich gefüllte Vorratskammer und eine kleine Besatzung von zwölf Mann hinterlassen. Diese Garnison war von den Bauern im Spätsommer 326, um Sturms zwölften Geburtstag herum, ausgehungert worden.
»Ausgehungert«, sagte Sturm untröstlich zu sich selbst.
Langsam und unter Schmerzen stand der Junge auf und ging zu der ausgehängten Doppeltür des großen Speisesaals. Die Mahagonitische, einst der Stolz von Generationen von di Caelas und nach ihnen den Blitzklinges, lagen auseinandergeschlagen unter einer dicken Staubschicht da.
Hier ist Großvater Emelin zur Welt gekommen, dachte Sturm. Nur einen Monat früher, und Vater wäre auch hier geboren worden, denn als Großmutter hochschwanger war, brachte der alte Emelin sie nach Norden, nach Schloß Feuerklinge, wo sein Vater Bayard…
So sann der Junge auf einem Stuhl mit hoher Lehne vor sich hin und verfolgte zwischen Staub, Spinnweben und Trümmern seine Geschichte zurück. Hier drin gab es mehr Licht, denn am Lichtgaden befanden sich ein Dutzend Fenster, durch die der Wind hereinwehte und den Staub und die schimmeligen Vorhänge aufstörte. Ein Marmorfries, aus dem die Bauern die Köpfe herausgeschlagen hatten, rahmte den Balkon über der Halle. Wegen des Vandalismus und der anschließenden Vernachlässigung war kaum noch zu erkennen, daß es in sieben gemeißelten Szenen die Geschichte von Huma darstellte.
Sturm setzte sich auf, um das Fries genauer zu betrachten. Er hatte ein Faible für alles, was alt und aus Marmor war und voller Geschichte steckte, und schließlich war diese Arbeit fast tausend Jahre im Besitz der Familie gewesen. Er bewunderte die Weinranken, die herrlich gemeißelten Berge, das schreckliche Abbild von Takhisis, der Mutter der Nacht.
»›Mitten aus dem Nichts‹«, rezitierte Sturm. »›Königin der vielen Farben und doch keiner.‹«
Dann sah er Huma selbst, dessen Gesicht genauso aussah wie seines.
»Bei Paladin«, flüsterte der Junge. »Mein Gesicht auf dem von Huma?« Durch die Splitter ging er näher heran, während er gebannt das beschädigte Fries ansah.
Nein. Er hatte sich geirrt. Humas Kopf hatten sie abgeschlagen, zweifellos bei der Einnahme des Schlosses. Was er gesehen hatte, war nur ein Spiel des Lichtes, ein plötzlicher, unerklärlicher Eindruck.
»Bald wird es dunkel werden«, sagte er zu sich. »Ich sollte weitergehen, solange noch die Sonne durch die Fenster scheint und mich vielleicht herausführen kann.« Tapfer holte er tief Luft und stieg die breite Treppe in die oberen Räume von Kastell di Caela hoch. Die Gänge waren von Statuen und halb verrosteten künstlichen Vögeln gesäumt.
Sturm hatte von den Kuckucks von Kastell di Caela gehört – daß sein Ururgroßvater, Sir Robert, diese ganzen zirpenden, schwirrenden Kunstwerke gesammelt hatte, von denen keines funktionierte, jedenfalls nie so, wie es sollte, und die jeden Besucher ärgerten und erschreckten. Urgroßmutter Enid hatte die ganzen Apparate im Katzenturm verstaut, dem kleineren der beiden Türmchen, aber Sir Robert und Sir Galen Pfadwächter, ein unberechenbarer Freund von Urgroßvater Bayard, hatten den Vogelpark in seiner ganzen entnervenden Pracht wiederhergestellt, weil sie fest daran glaubten, daß das Piepsen »den kleinen Emelin beruhigen« würde.
Jetzt waren sie alle tot. Robert war ertrunken, als sein Gnomengefährt, das dazu gedacht war, Pferde überflüssig zu machen, die Zugbrücke hinunter in den randvollen Burggraben der di Caelas gejagt war. Urgroßmutter Enid war mit hundertzwölf Jahren ruhig und friedlich entschlafen. Sie hatte so lange gelebt, daß sie noch den kleinen Sturm in der Wiege gesehen hatte. Was aus Sir Bayard und Sir Galen geworden war, wußte keiner. Noch vor der Jahrhundertwende, als beide schon weiße Haare gehabt, an Umfang ordentlich zugelegt und als glückliche Großväter mit ihren Enkeln gespielt hatten, war das ungewöhnliche Duo zu einem neuen Abenteuer nach Karthay aufgebrochen, in die hintersten Winkel des Courrainischen Ozeans. Nur Sir Galens Bruder, ein verrückter Eremit, der mit Vögeln und Grünzeug redete, hatte sie begleitet, und keiner von ihnen war zurückgekehrt.
Sturm betastete den Messingschnabel von einem der komischen Vögel. Der Bronzekopf fiel ihm in die Hand und piepste ein letztes Mal.
Soviel zu den di Caelas und denen, die sich mit ihnen einließen. Es war ein wild wuchernder Zweig der Familie: Sturms Mutter hatte ihn vor diesem Erbe gewarnt und dem Jungen eingeschärft, er müßte immer sein bestes Feuerklinge-Betragen zeigen, sonst würde er noch werden wie sie und Türme hochklettern, um sein Leben mit Katzen und Echsen zu verbringen.
Sturm zog das Schwert aus der Scheide, als er zum helleren Obergeschoß hochstieg, vorbei an den Markierungen der Diener, bis wohin die Geysire von 231 durch die Gänge hochgeschossen waren, um selbst die obersten Stockwerke zu überfluten. Dutzende von Statuen standen hier, noch aus der Zeit vor der Umwälzung, als die Blitzklinges wie die di Caelas in ungewohnter Heldenmanier unter den ersten Rittern an Vinas Solamnus’ Seite geschritten waren. Sie alle wachten für immer hier, wenn auch etwas staubig.
Sturm ging an ihnen entlang und staunte. Denn hier stand eine Statue von Lucero di Caela, der als Kommandant in den Ogerkriegen mit gezogenem Schwert in die Schlacht zog. Und da die Statue von Bedal Blitzklinge, der einarmig an einem Paß in Solamnia die Wüstennomaden aufhielt, bis Hilfe kam. Und da sogar Roderich di Caela, der eine Hobgoblininvasion aus Trot niedergeschlagen hatte, aber dabei ums Leben gekommen war.
Und die letzte der Statuen war Bayard Blitzklinge, zweifellos von Lady Enid zum Gedenken an ihren verschollenen Ehemann aufgestellt. Auch er zog sein Schwert und trat vor.
Sturm rieb sich die Augen, weil er nicht glauben konnte, was er plötzlich sah. Was unten in der großen Halle ein bizarrer Fehler gewesen war, war hier in den oberen Bereichen der Burg beunruhigend wahr.
Jeder Held hatte jetzt Sturms Gesicht, bis zu der Narbe am Kinn, die aus seiner Kindheit stammte. Schnell lief er von einem zum anderen und sah sich alle noch einmal an. Diesmal war es kein Lichtspiel. Wieder Vertumnus?
Eine Zeitlang saß er grübelnd an der Statue von Sir Robert di Caela. Es dauerte eine Weile, bis er zu sich kam und sofort aufsprang, denn er wollte sich auf keinen Fall in einem verlassenen Schloß von der Nacht überraschen lassen. Eilig durchschritt er die Räume und Kammern, während mit dem Sonnenlicht auch seine Hoffnung sank. Aus allen Fenstern würde ihn ein Sprung auf das Pflaster des Burghofs tief unten zweifellos umbringen.
Auf seiner verzweifelten Suche nach Spalieren, Wein oder geheimen Treppenschächten nahm Sturm drei Stufen auf einmal, bis er im Sonnenzimmer des obersten Geschosses angelangt war. Das Sonnenzimmer war das geräumige Gemach, in dem unzählige di-Caela-Fürsten und nach ihnen zwei Generationen Blitzklinges Tausende von Nächten verbracht hatten. Als Nachfahre dieser Tradition war Sturm ein bißchen benommen, als er den Raum betrat.
Von hier aus sah seine Lage allerdings höchstens noch hoffnungsloser aus. Über dem Sonnenzimmer waren die Zinnen, doch die einzige Leiter zu der Falltür in der Decke lag in knapp ellenlangen Stücken am Boden. Ja, es gab reichlich Fenster, aus buntem Glas in kräftigen Grünschattierungen, aber die saßen hoch in einem weiteren Lichtgaden, zu dem nicht einmal ein Eichhörnchen hätte hochklettern können.
Mutlos setzte sich Sturm auf das große Himmelbett und wickelte sich in die Überreste der zerrissenen Vorhänge.
»Morgen«, sagte er sich mit schweren Augenlidern in den muffigen, aber warmen Vorhängen. »Es gibt auf jeden Fall einen Keller, aus dem ich… bestimmt…«
Im grünen Abendlicht und den Staubwolken übermannte ihn die Müdigkeit und raubte ihm die Worte. Zwei oder drei Mal nieste er im Schlaf, ohne jedoch aufzuwachen.
Und so verschlief Sturm Feuerklinge seine erste Nacht unterwegs wie ein heruntergekommener Fürst in der Burgruine. Er war gefangen, Flucht schien aussichtslos, und er war so müde, daß er friedlich schlief, bis die Morgensonne durch die Falltür zu den Zinnen zu sehen war. Der nächste Tag brachte allerdings nichts Besseres. Die Kellerschlösser waren einfach zu knacken, aber alle Gänge oder Tunnel, die einst aus dem Keller herausgeführt haben mochten, waren versperrt. Sturm vermutete, daß dasselbe Erdbeben, das das Wasser bis in die oberen Stockwerke gedrückt hatte, auch die unteren Bereiche des Kastells versiegelt hatte. Trübselig wühlte er auf der Suche nach Geheimtüren, verborgenen Gängen und etwas Eßbarem zwischen leeren Fässern, Flaschen und Weinregalen. Rot vor Zorn und Anstrengung lehnte er sich an die feuchte Wand.
»Wenn ich je den Herrn der Wildnis treffe oder den, der mich hier eingesperrt hat«, fluchte er, während er mit den Fäusten auf die festgestampfte Erde des Kellerbodens trommelte, »dann wird er mir das teuer bezahlen! Ich werde… ich werde… ach, ich werde einfach etwas tun, und zwar etwas Schreckliches!«
Er schloß die Augen und seufzte, denn er kam sich dumm und hilflos vor. Er war kein würdiger Nachfahre von Rittern. Bevor er sich bitter rächen konnte, bevor er den Schurken in die Enge treiben und gnadenlose, solamnische Gerechtigkeit üben konnte, mußte er einen Weg aus dem Haus seines Großvaters finden. Am Nachmittag sah es um nichts besser aus. Sturm durchwanderte die Gänge des Kastells und wurde mehr und mehr mit ihnen vertraut.
Langsam wich sein Ärger dem Hunger und der Angst. Der Burgbrunnen und die Zisterne im Sonnenzimmer lieferten ein bißchen Wasser, aber offenbar konnte man in einem Schloß ebenso leicht verhungern wie in der Wildnis oder in der Wüste. In dieser Nacht hielt ihn der Hunger wach, und er schlief so unruhig, daß er beim Erwachen nicht viel ausgeruhter war als beim Einschlafen.
Schlapp und müde landete er am Vormittag wieder in dem Gang mit den Statuen, dessen Geschichtsträchtigkeit ihn anzog. Er ging mit wachsender Benommenheit den ganzen Gang entlang, von einer Marmorgeneration zur nächsten, bis er die Statue von Robert di Caela erreichte, der in der gleichen kriegerischen Pose festgehalten war wie seine Vorfahren und Nachkommen. Der Kopf saß merkwürdig schief, als ob der Bildhauer versucht hätte, das Exzentrische an seinem Modell durch ein etwas seltsames Werk zu erhalten.
Seufzend lehnte sich der Junge an den staubigen Marmor und ließ sich zu Boden rutschen. Und so saß Sturm Feuerklinge zwischen den Statuen, die eine ganze Schar seiner Vorfahren verewigten, und lachte aus vollem Herzen – über seine eigene Unbeholfenheit und seine unzureichende Vorbereitung auf das, was noch vor ihm lag. Kichernd stand er auf, sprang auf das Podest und drehte am Kopf der Statue, um Sir Robert wenigstens einmal in seiner bunten Geschichte geradezurücken.
Lachend zog er an dem Marmorkopf, zog lachend noch einmal, und sein Lachen hallte durch den höhlenartigen Gang, während das Sonnenlicht um ihn her verschwamm. Ihm war so schwindelig vor Hunger und Schwäche, daß er nicht einmal merkte, wie die Statue ins Wanken geriet, kippte und ihn unter sich begrub. Sein Kopf schlug auf dem Boden auf, und er wurde ohnmächtig.
Sturm erwachte zu Musik – dem klagenden, einsamen Klang der Röte – und einem komischen, nicht greifbaren Licht zwischen den Statuen. Zuerst hielt er es für eine Spiegelung in einem der zahllosen di-Caela-Spiegel, ein Strahl Mondlicht, der durchs Fenster fiel, seine eigene Bewegung, die ein Bronzepanzer zurückwarf. Aber da war noch die Musik, die er sich nicht erklären konnte, und die ergänzte das Licht zu einem weiteren, fesselnden Mysterium.
Er folgte dem Licht in einen Korridor, und die Musik begleitete ihn und hallte durch die staubigen Gänge. Während Sturm regungslos auf der Empore an der Treppe zum Vorraum stand, sah er, wie das Licht sich veränderte und wie Nebel auf die Doppeltür der unteren großen Halle trieb. Langsam folgte er dem Licht mit gezogenem Schwert, als es in die Mitte der großen, hohen Halle trieb und sich auflöste.
Sturm war durcheinander. Was er gerade gesehen hatte, war gewiß ein erstes Wahnbild des Verhungerns. Er setzte sich auf einen Mahagonistuhl mit hoher Lehne. Da er jetzt schwächer war und seine Stirn schmerzte, war er gar nicht mehr so sicher, ob er überhaupt wieder hochkommen konnte.
»Das ist also das Ende der Blitzklinges«, stellte er mit erschöpfter Ironie fest. »Im Speisesaal ihrer Burg ausgehungert!«
»Wenn das das Ende ist, dann ist das Geschlecht zu Dummköpfen und Schulmeistern heruntergekommen!« erklärte eine barsche, kaum wahrnehmbare Stimme irgendwo in den Dachsparren über dem Jungen.
Überrascht versuchte Sturm aufzuspringen, doch er taumelte vor Schwäche und Furcht.
»Was nicht heißen soll, daß so was zum ersten Mal in der Familie geschehen würde«, fuhr die Stimme fort. Sturm spähte in die schattigen Dachsparren.
»Wer ist da?« fragte er nervös, »und… und… wo seid Ihr?«
»Auf dem Balkon«, erwiderte die Stimme knapp. »Beim Rest deiner ehrwürdigen Ahnen.«
Dann breitete sich langsam vom Balkon ein merkwürdiges gelbgrünes Licht über den düsteren Raum aus, und der erstaunte Sturm erkannte, daß das Licht aus einer Gestalt mit Helm und Rüstung emporstieg, die rittlings auf der Balustrade saß – ein blasser, alter Mann mit unerträglich hellem Gesicht, doch seine Gesichtszüge waren verschwommen und fern.
»Wer… wer seid Ihr?« stammelte der Junge.
Der Mann lehnte sich schweigend über den Balkon wie ein brennender Mastkorb oder ein Fuchsfeuer, jenes grüne, gasartige Licht tief in den Sümpfen. Über seine Kleider tanzte der Feuerschein, und eine weißglühende Flüssigkeit tropfte herunter, die auf dem Boden wie geschmolzenes Gold in glitzernden Pfützen zusammenlief. Angesichts der merkwürdigen, bedrohlichen Schönheit des Mannes hielt Sturm den Atem an.
»Seid Ihr derjenige, der… mich hier eingesperrt hat?« fragte er, dieses Mal etwas sanfter.
»Nein«, antwortete der Mann schließlich. Seine volle, tiefe Stimme klang wie altes, poliertes Holz, und als er sprach, leuchtete die dunkle Mahagonitäfelung des Saals in grünlichem Licht. »Nein, ich bin kein Gefängniswärter. Und du bist der erste, der diesen Palast ein Gefängnis nennt.«
»Wer seid Ihr?« fragte Sturm erneut. Der Mann stand bewegungslos da, über ihm eine Feuersäule.
»Schau in deinen Schild, Junge, und sag mir, was du siehst.«
»Ich sehe glänzende Bronze«, sagte Sturm, »und mein Gesicht im Spiegelbild.«
»Halt ihn zu mir hoch, du Dummkopf! Und dann sieh dir das Spiegelbild an! Beim Barte des großen Paladin! Ihr Blitzklinges habt noch nie besonders schnell kapiert! Falls du ein Blitzklinge bist, wie mir dein Schild und dein Selbstmitleid verraten.«
Während sich der Mann zornig aufplusterte, hob Sturm den Schild und neigte ihn so, daß das helle Spiegelbild im Buckel zu sehen war. Ohne das grüne Licht sah der Mann noch blasser aus, wirklich uralt, und Sturm konnte sein Gesicht, den Schnurrbart und das Zeichen auf seinem Brustharnisch erkennen.
Hellrote Blume auf weißer Wolke vor blauem Grund. Das Zeichen di Caela, der verlorene Name in einem verlorenen Heim.
»Alter Großvater«, begann Sturm, der sich auf den Boden zwischen die Trümmer kniete, »oder Großvater von Großvätern, wer du auch sein magst. Oder was – ob Erscheinung oder Heiliger oder Erinnerung, ich grüße dich!«
Tapfer streckte der Junge in feierlicher Geste sein Schwert aus. Jetzt bewegte sich der Mann auf dem Balkon zum ersten Mal, um abwehrend mit dem linken Arm zu winken.
»Steh schon auf, Junge, oder was wir auch immer gesagt haben, wenn der Maßstab dran war und ich mit ganzen Scharen deiner Sorte fertig werden mußte. Das hier ist ein Speisesaal, kein Schrein, und ich bin Robert di Caela, nicht Huma oder Vinas Solamnus oder wen ihr auch heutzutage mit dem Schwert grüßt.«
Robert di Caela sank durch den Steinbalkon wie durch dunkles Wasser. Zuerst tauchten seine glänzenden Stiefel an der Unterseite auf, dann seine grünen Hosen und der sonnenbestrahlte Brustpanzer. Grellbunt wie ein großer Tropenvogel schwebte er sanft auf den Boden des Saals. Die Eichentüren, Sturms einziger Fluchtweg aus dem Raum, lagen offen hinter Robert. Sein wabernder Körper war so durchsichtig, daß Sturm sie sehen konnte. Leuchtende Flechten und Moose lösten sich von ihm und glitzerten hinter ihm auf dem dunklen Boden, als er näher kam.
Instinktiv wich Sturm zurück.
»Ein einfacher Hinterlandsritter bin ich«, sagte Sir Robert. »Und noch einfacher, seit ich nicht mehr lebe. Obwohl du hier den Staub aufgewirbelt und die Vorhänge bewegt hast, will ich dir nichts Böses, Junge – bin nur neugierig. Mal hören, was einen Blitzklinge nach all den Jahren hierher zurücktreibt.«
Sturm wich zurück bis zum Stuhl, in den er sich mit einem Plumps niederließ. Er kannte seinen Stammbaum gut genug, um nicht überrascht zu sein, daß ein Fürst di Caela nach neuem Klatsch hungerte.
Jedenfalls lehnte der Geist sich mit seinem weißen Gesicht, das von einem gepflegten, eleganten weißen Bart eingerahmt wurde, nach vorn. Das Gesicht sah aus wie eine Maske, denn in den leeren Augenhöhlen war die dunkle Magahonitäfelung zu sehen.
»Eine Suche, Fürst Robert – «, stammelte der verängstigte Junge.
»Sir Robert«, korrigierte der Geist. »Es gab mal Zeiten, wo wir uns mit aufgeblasenen Titeln zierten. ›Sir‹ war gut genug für solche wie deinen Urgroßvater und ihresgleichen.«
Sir Robert setzte sich auf eine wacklige Bank, durch die er beim Reden irgendwie durchrutschte, so daß er mit einem Puff im Staub landete.
»Das waren noch Zeiten, wo eine Suche eine große Sache war, mein Junge! Wir sind Zauberern nachgejagt! Vergessenen Welten und Würmern, die den ganzen Kontinent umschlangen!«
Der Geist schloß die Augen, als ob er von jenen alten Tagen träumte.
»Und worum«, fragte Sir Robert übergangslos, als seine blassen Augen aufflogen, »geht es bei deiner Suche, kleiner Blitzklinge?«
Als wäre er bezaubert oder aus Hunger schon jenseits von Lüge oder Verstellung, erzählte Sturm dem Geist die ganze Geschichte. Von der Nacht mit dem Bankett über seine vernebelte Wanderung bis zu seiner Gefangensetzung hier in Kastell di Caela. Beim Erzählen fiel ihm auf, wie lang und gefahrvoll ihm alles unterwegs vorgekommen war, und wie platt und einfach und geradezu dämlich es sich nun anhörte.
Am Anfang der Geschichte hörte Sir Robert noch gebannt zu, aber seine Begeisterung hielt nicht lange an. Bald zeigte seine Miene nur noch höfliche Aufmerksamkeit, dann wurde sie gleichgültiger, bis der Alte schließlich fast einnickte.
»Ist das alles?« fragte er. »Du brichst auf, um einen Gegner zu treffen, der eindeutig stärker und geschickter ist, und du hast es geschafft, dich in meinem Schloß einschließen zu lassen, bevor du auch nur den halben Weg hinter dir hast?«
Sturm wurde rot und nickte, als Sir Robert ein dünnes, tiefes Glucksen von sich gab.
»Und?« fragte der Geist, der keine zwanzig Fuß vor dem Jungen herumschwebte.
»Sir?«
»Was weißt du über Geister, Junge? Um welche Rache habe ich gebeten?«
»Keine, Sir.«
»Und welche unerledigte Sache solltest du für mich zu Ende bringen?«
»Wirklich keine.«
»Sehr richtig. Wie ich sehe, hast du selbst schon genug unerledigte Angelegenheiten für ein ganzes Leben. Was für Schätze habe ich?«
»Sir?«
»Was für Schätze, verdammt! Du hast das Gebäude von den Zinnen bis zum Keller durchsucht. Was verstecke ich?«
»Nichts, Sir.« Der Junge war es leid, ausgefragt zu werden. Er war müde und hungrig.
»Was bleibt also übrig?« bohrte Sir Robert.
»Sir?«
»Was machen wir Geister noch?«
Sturm stand schweigend da. Sir Robert näherte sich ihm in Grün, Gelb und Rot.
»Wir beantworten Fragen. Ich bin zurückgekehrt, um eine Frage zu beantworten. Nein, ich werde zwei Fragen beantworten.«
Mit ausgebreiteten Armen schwebte der Geist gut zwei Ellen vor Sturms Stuhl. Obwohl ihm ganz flau im Magen war vor Hunger, sah Sturm dem Geist direkt in die Augen.
»Ich dachte immer«, meinte der junge Ritter zaghaft, »daß bei allem, was mit Magie zu tun hat, normalerweise drei Fragen beantwortet werden.«
»Handel nicht mit mir, Knabe!« fauchte Sir Robert. »Entweder zwei Fragen oder gar keine. Hier hält man nichts von dummen Traditionen. Zwei Fragen.«
Tausend Fragen gingen Sturm durch den Kopf, als er den Geist anstarrte – zur Geschichte, zur Geisterwelt, zur Religion…
Aber welche Fragen?
»Wieso kommst ausgerechnet du zu mir?«
»Ist das deine Frage?«
»Ja.« Sturm sah den Geist vorsichtig an. Sir Robert schwebte gut drei Fuß über dem Boden, als würde er in Wasser treiben.
»Tja, wenn ich das wüßte«, erwiderte Robert. »Nächste Frage.«
»War das deine Antwort?« rief Sturm aus.
»Ist das deine zweite Frage?« wollte Sir Robert wissen.
»Was? Ach… nein…«, stammelte Sturm. Er wurde still, und das grüne Licht in der großen Halle wurde allmählich intensiver. Jetzt verlängerten sich die Schatten von Bank, Thron und Trümmern, bis es so aussah, als wären alle Möbel über menschliche Proportionen hinausgewachsen.
»Ich… ich weiß nicht recht, was ich fragen soll«, sagte Sturm schließlich. Sein Kopf war voller alter Märchen über gefangene Zauberer, die Wünsche erfüllen sollten – wie sie ihre Herren dazu verleiteten, um Frühstückswürstchen zu bitten anstatt um Unsterblichkeit oder unendliche Weisheit. Was für ein Geist der da vor ihm auch war, er würde sich nicht von ihm reinlegen lassen.
»Ich finde, die Frage liegt auf der Hand«, sagte Sir Robert mit erstauntem Lächeln.
Sturm sah den Geist mit großen Augen an und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Jetzt stand Sir Robert über ihm. Die dünnen Arme hatte er über seinen luftigen Brustpanzer gefaltet, die Augen blickten in geisterhafte Ferne. Langsam senkte er den Blick zum Thron mit der hohen Lehne und zu dem sprachlosen, bebenden Mann hin, der darauf saß.
»Die Frage liegt auf der Hand«, wiederholte Sir Robert. »Ich finde, du mußt fragen, wie du hier rauskommst.«