Das Dorf, das sich an den Rand des Südlichen Finsterwalds duckte, bestand nur aus zwei Dutzend Hütten und einem großen Versammlungshaus in der Mitte. Der Flecken schien mehr aus dem Wald herauszuwachsen, als an ihn anzugrenzen. Man konnte kaum ausmachen, wo das Dorf endete und die Wildnis begann.
Für die fortgeschrittene Stunde war Dun Ringberg hell erleuchtet – in jedem Fenster Kerzen, auf den Schwellen und in den Straßen Dorfbewohner mit Fackeln und Laternen. Unter anderen Umständen und in anderer Gesellschaft hätte Sturm das einladend, festlich, vielleicht sogar auf ländliche Weise hübsch gefunden. Aber nicht heute nacht: Das ganze Dorf war auf den Beinen, um die Gefangenen zu sehen, und es war kein freundlicher Empfang.
Sturm wurde ausschließlich mit eisigen Blicken bedacht, während er vor der Miliz hertrottete. Die Kinder waren zu mager. Das war das erste, was ihm auffiel. Erst eins, dann noch eins traten mit ausgestreckter Hand – der uralten Geste der Bettler – vor, aber Erwachsene zogen sie zurück, um kalt und heftig auf lemisch mit ihnen zu schimpfen.
Stirnrunzelnd bemühte sich Sturm, aus dem Gerede Worte in Solamnisch oder in Gemeinsprache aufzufangen, doch er hörte nichts als Lemisch mit seinem Strom von langen Vokalen und Pausen.
Hin und wieder wurde etwas nach ihm geworfen. Erdklumpen, Mist und angefaulte Früchte flogen aus der Menge und schlitterten über den harten Erdweg, aber die Angriffe waren halbherzig, und keines der Geschosse kam in seine Nähe.
Hinter ihm ging schweigend Mara, in der überraschend sanften Obhut eines großen, rauhen Bauern, den Hauptmann Duir Oron genannt hatte. Duir selbst eskortierte Sturm und führte ihn vorsichtig und bestimmt, aber nicht grob.
»Was sagen sie, Hauptmann?« fragte Sturm mehr als einmal, aber Duir antwortete nicht. Seine scharfen Augen musterten die ganze Zeit das Versammlungshaus vor ihnen, wo mitten auf dem Platz ein großes Feuer loderte. Als sie sich dem Feuer näherten, führten zwei von den Wachen Eichel und Luin durch die Menschen zum Dorfstall. Sturm sah ihnen durch die Dunkelheit und das trügerische Licht nach. Wo der Stall lag, würde auch die Schmiede zu finden sein.
»Seht lieber nach vorne«, wies ihn Hauptmann Duir an. »Wonach gafft Ihr überhaupt?«
»Nach der Schmiede«, antwortete Sturm. »Ich muß zu Schmied Wieland.«
»Ganz schön vertrauensvoll«, stellte der Hauptmann fest, »Ihr glaubt wohl, daß Ihr Euch aus der Affäre ziehen könnt.«
»Und Eure Leute sind auch vertrauensvoll«, erwiderte Sturm, »wenn ihre mageren Kinder Obst nach Besuchern werfen. Wo bekommt Ihr im März Äpfel her, Hauptmann Duir?«
Die Hand des Wachmanns schloß sich fester um seinen Arm.
»Das könnt Ihr alles mit ihr persönlich ausmachen, schätze ich«, erwiderte er.
»Das heißt, mit der Druidin?« fragte Sturm.
Aber Hauptmann Duir antwortete nicht. Mit einer Geste, die sowohl höflich als auch spöttisch gemeint sein konnte, schickte er Sturm und Mara auf den Platz zu dem hohen Feuer, wo ein leerer Weidenthron wartete, der von einem Dutzend Wachen umringt war.
Sturm hatte das Leben in einem Dorf wie aus dem Bilderbuch kennengelernt, da er längere Zeit am Rand von Solace gewohnt hatte, das damals noch ein unbekannter Ort war, der knapp zehn Jahre später jedoch berühmt sein würde. Als Jack Derry von Dun Ringberg erzählt hatte, hatte sich Sturm auf einen anheimelnden, kleinen Ort gefreut – mit ordentlichen Block- oder Fachwerkhäusern, frisch gedeckten Strohdächern und instandgehaltenen Zäunen.
Lemisch jedoch war unzivilisiert, und die Menschen schämten sich nicht im geringsten für einfache Unterkünfte. Die Häuser waren groß und rund, aus Balken und Weidengeflecht zusammengezimmert, die Dächer aus schwerem, nassem Stroh. Durch ein großes Loch in der Dachmitte zog der Rauch ab, so daß Sturm annahm, daß die Häuser von einem einfachen Feuer in der Mitte geheizt wurden.
Das war zu erwarten gewesen, dachte Sturm. Schließlich hatte er gehört, daß die Menschen aus Lemisch immer noch im Zeitalter der Finsternis lebten und die Häuser selbst ihrer mächtigsten Herrscher aus solamnischer Sicht kaum Schuppen zu nennen waren.
Was er jedoch nicht erwartet hatte, war der Versammlungsplatz – er blühte und grünte. Inmitten eines wenig einladenden, tristen Dorfes sprießte es direkt aus den Häusern am Platz, denn aus den Wänden wuchsen Blätter und Ranken, als würden die Balken noch leben und treiben.
Dort, inmitten eines von Menschenhand geschaffenen Waldes, erwarteten Sturm und Mara die Druidin Ragnell.
Sie trat unter einem Blätterbaldachin hervor, nachdem drei hübsche Mädchen ihr den Weg mit Lavendel und Fliederblüten bestreut hatten. Die alte Frau war völlig krumm, ihr Gesicht so runzlig und dunkel wie eine Walnußschale, ihr weißes Haar dünn und zerzaust. Sturm dachte an Meeresscheuchen, die spindelförmigen, lebensgroßen Puppen aus Holz und Schlamm, die die Küsten von Kothas und Mithas säumten, um von weitem den Eindruck zu erwecken, die Strände wären ständig bewacht.
Die alte Frau humpelte zu dem Weidenthron, wo sie sich, gestützt von den jungen Mädchen, mit langem, lauten Seufzen niederließ. So leise und rasch wie Vögel hasteten die Mädchen davon. Ihre olivbraune Haut verschwamm im Wald und im flackernden Fackelschein, so daß Sturm aus einiger Entfernung schließlich höchstens noch ihre weißen Kleider wie Geister durch den Wald huschen sah.
»Was bringst du mir, Hauptmann Duir?« fragte die Druidin, wodurch sie Sturms Aufmerksamkeit abrupt wieder auf den Platz, das Licht und die häßliche, alte Frau da drüben auf dem Weidenthron lenkte.
»Einen Solamnier, Lady Ragnell«, gab der Hauptmann bekannt. »Einen Solamnier und seine Gefährtin, eine Elfe.«
»Die Kagonesti sind bei uns willkommen«, entschied Ragnell. »Das Mädchen darf sich im Dorf frei bewegen.«
Wachmann Oron trat höflich, ja, scheu, von Mara weg. Das Elfenmädchen stand von bettelnden Kindern umringt zwischen den Soldaten und wußte nicht recht, was es jetzt tun sollte. Fragend blickte sie zu Sturm, der tonlos das Wort »Geh!« formte. Beinahe widerstrebend bahnte sie sich einen Weg durch die Menschen, bis sie am Rand des Feuerscheins und des Dorfplatzes einen Augenblick stehenblieb, um dann in die Schatten zurückzuweichen.
Nachdem Sturm nun allein der Druidin gegenüberstand, wandte er sich unsicher dem Weidenthron zu. Er wußte nicht, was mit ihm geschehen würde, und noch nebulöser wurde es durch die komischen Geschichten, die er über die Druiden in dieser Gegend gehört hatte. Sturm haßte Unsicherheit und rüstete sich für jede Überraschung, mit der die alte Frau vielleicht aufwarten würde.
Die meisten Ritter von Solamnia kannten Druiden nur vom Hörensagen. Da sie sich am Rande von anderen Religionen bewegten, schien es angebracht zu sein, gegen sie alle vorzugehen, denn vom solamnischen Klerus wurden sie als »Heiden« und »Häretiker« eingestuft. In manchen Teilen von Ansalon verehrten sie angeblich Bäume; andere praktizierten eine merkwürdige, veränderliche Magie, die mehr von den Jahreszeiten abhing als von den Monden der Zauberer. Es gab noch unheimlichere Dinge, die der Junge gehört hatte, aber als er jetzt am Dorffeuer stand, versuchte er, diese furchterregenden Geschichten aus seinen Gedanken zu verdrängen.
Nervös blinzelte er das häßliche, alte Weib an. Sie hatte eine Hakennase, und über ihre rechte Wange schlängelte sich eine weißliche Narbe. Nur die Götter wußten, wie sie dieses Ehrenmal erhalten hatte, und vielleicht kannten nicht einmal diese die Bräuche der Druiden von Lemisch.
Diese runzlige, vernarbte Lady Ragnell war offensichtlich eine Oberdruidin, was auch immer das bedeutete. Alle begegneten ihr mit ehrfürchtigem Respekt, so wie die Ritter eine Edelfrau behandeln würden, doch sie hörten auch auf ihre Ansichten und befolgten ihre Anordnungen. Jetzt blieb Sturm nichts anderes übrig, als zuzuhören. Die alte Frau beugte sich mit funkelnden, schwarzen Augen auf ihrem Thron vor.
»Solamnier sind hier unerwünscht, Bursche. Oder wußtest du das nicht?«
»Ich habe eine wichtige Mission, die mich in den Wald hinter Euch führt«, erklärte Sturm in bester Rittermanier. Er trat vor und straffte die Schultern, denn ihm wurde unvermittelt bewußt, daß noch der Dreck von dem Kampf am Fluß an ihm klebte. Er wünschte, er besäße die selbstsichere Autorität eines Fürsten Alfred oder Gunthar. Seine Stimme, der trotzige Verkündungen neu waren, wirkte in dieser bodenständigen Versammlung schwach und dünn.
Ragnell zuckte mit den Schultern und faltete die Hände fast zierlich im Schoß. Einen kurzen Augenblick konnte Sturm sich vorstellen, wie sie in ihrer Jugend ausgesehen hatte. Damals mußte sie wirklich schön, geradezu atemberaubend, gewesen sein. Aber jetzt waren hundert Jahre vergangen, und sie hatte sich langsam in den Wald um sich her zurückgezogen und war selbst knorrig wie die Bäume geworden.
»Du hast nirgends eine Mission, Junge«, erwiderte sie. Es lag nichts Unfreundliches in ihrer Stimme, keine Drohung. »Du hast überhaupt kein Ziel außer diesem Ort, bis wir das… Rätsel um dich gelöst haben. Bis dahin ist dein Platz im Rundhaus, in dem Raum, den wir für dich vorbereitet haben.«
»Vielleicht«, schlug Sturm vor, »bin ich im Haus von Jack Derry mehr willkommen.«
Die Druidin schloß kurz die Augen. »Als Jack Derry ging«, antwortete sie, »haben Blätter und Schnee den Weg hinter ihm verdeckt. Kein Jäger in Lemisch könnte ihn finden, und keiner von meinen Leuten würde es versuchen wollen.«
Sturm schluckte beklommen und wandte den Blick von dem kantigen Gesicht der Druidin ab.
»Es sind Jahre vergangen«, stellte sie fest. »Ich kenne keinen Jack Derry mehr.«
Verräter, dachte Sturm wütend und merkte, wie sein Gesicht heiß wurde. Er machte den Mund auf, brachte jedoch kein Wort heraus.
»Aber ich kenne deinen Orden«, fuhr Ragnell fort, »und ich kenne die Geschichte. Und beides ist keine Empfehlung für dich. Unser Land ist immer noch kein Freund von deinem, unser Volk kein Freund des Ordens.«
»Was nicht bedeutet, daß ich Euch schaden will«, erwiderte Sturm.
»Aber es ist wahrscheinlicher, daß du uns schaden wirst, als daß du uns Gutes tust«, antwortete die Druidin, die sich zurücklehnte und ins Feuer blickte, als würde sie in die Zukunft oder in die Vergangenheit sehen.
»So war es immer«, fuhr sie leise fort. »Ihr Ritter seid wie ein Wirbelsturm über dieses Land geritten, habt Dörfer und Hoffnungen zerschlagen bei eurer unablässigen Jagd nach etwas, das ihr gut und rechtschaffen nennt. Aber es gab eine Zeit, erst vor wenigen Jahren, wo eure bedrohliche Rechtschaffenheit zurückgedrängt, fast weggefegt wurde.«
»Die Rebellion?« fragte Sturm, der sich an seine Flucht über den verschneiten Bergpaß in der Obhut von Soren Vardis erinnerte.
»Den Aufschrei, wie wir es nennen«, antwortete Ragnell gemessen. »Als sich das Volk von Lemisch und Südlund und Solamnia gegen den harten, selbstgerechten Orden erhob.«
Sie machte eine Pause, lächelte schief und zeigte dabei eine Zahnlücke.
»Wir waren nahe daran, eure Kavallerie zu zerschlagen«, verkündete sie. »Ich bin Ragnell, die Belagerin, weiß du.«
»Ich… ich fürchte, dieser Name wird… in unserer Geschichte nicht erwähnt«, erwiderte Sturm mit taktvoller Zurückhaltung. Die alte Hexe winkte lachend mit ihrer knotigen Hand durch die verrauchte Luft, als würde sie sowohl die Geschichte als auch seine Worte wegwischen.
»Burg Vingaard haben meine Truppen besiegt, ebenso wie die Schlösser Feuerklinge, di Caela und Jochanan. Aber beim Fall von Burg Vingaard habe ich mir diesen Namen gemacht.«
Wie vom Donner gerührt starrte Sturm die keckernde, alte Frau an. Instinktiv griff er an seinen Gürtel, doch seine Schulter wurde zurückgerissen, und die Hand fuhr ziellos durch die Luft.
Was machte das schon, dachte Sturm bitter, als er sich zusammenriß und die Frau vor ihm unnachgiebig anstarrte. Denn schließlich lag sein zerbrochenes Schwert in eine Decke gewickelt auf Luins Sattel. Er wünschte sich einen Dolch, ein Halseisen, Gift – egal was, Hauptsache, es würde dieses monströse Lebewesen umbringen, das da aufgebläht vor ihm saß.
Denn das war die Druidin, von der Fürst Stephan Peres damals im Turm des Oberklerikers gesprochen hatte, als er Sturm den Schild von Angriff Feuerklinge übergeben hatte. Das war die Frau, die Schloß Feuerklinge belagert hatte – die Frau, die – wenn die düsteren Ahnungen wahr waren – seinen Vater getötet hatte.
Mara schlenderte durch die dunklen, dreckigen Seitenstraßen, bis der Lärm der Versammlung hinter ihr lag und von einer eigenartig erwartungsvollen Stille überlagert wurde – vom Lied der Nachtigallen, von Eulenrufen und hin und wieder dem schwachen, ruhelosen Ruf eines Pferdes im Stall.
Sie folgte dem Gewieher in eine Scheune am Ortsrand. Richtig, da war Luin, und in der Box neben ihr fraß Eichel Heu und fühlte sich schon ganz zu Hause. Einen Augenblick verweilte Mara bei den Tieren. Der Gedanke an Flucht war durchaus verführerisch, Silvanost war von Dun Ringberg bequem in vierzehn Tagen zu erreichen, und auf einem gesunden Pferd konnte sie innerhalb von zehn Tagen am Sternenturm sein.
Aber sie mußte auch an Cyren denken: Cyren, der beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten davongerannt war und der zweifellos durch die angrenzende Ebene streifte, Netze baute, ihre Gefangennahme betrauerte und sich vor nächtlichen Geräuschen erschreckte. Solange sie ihn nicht gefunden hatte, durfte sie nicht an Flucht denken.
Dann war da Sturm Feuerklinge. Ja, er war umständlich, und seine närrische Ehrauffassung hatte sie das Wiedersehen und viele Jahre und hinten am Vingaard fast das Leben gekostet. Aber die Ehre eines Narren ist dennoch Ehre. Welches Unheil Sturm auch immer angerichtet hatte, es war stets aus den besten Absichten erwachsen.
Und so drückte Mara in dem nach Heu duftenden Stall ihr Gesicht an die warme Flanke von Jack Derrys kleiner Stute. Eichel schnaubte schläfrig, denn nach dem wohlverdienten Abendessen galten ihre Gedanken zweifellos einem wohlverdienten Nickerchen.
»Ich kann doch nicht einfach losreiten und den Einfaltspinsel hierlassen, oder?« fragte Mara niemand Bestimmten, während ihr Kinn auf Eichels Rücken ruhte. »Einer muß schließlich bei ihm bleiben und ihn beschützen. In Lemisch sind Menschen wie er nicht willkommen, und jetzt sitzt er in diesem Dorf fest, wird bewacht und…«
Sie machte eine Pause. Hellwach lauschte sie mit ihren scharfen Elfenohren, aber was sie gehört hatte, war nur eine Maus auf dem Speicher.
»… und hat keine Waffe«, flüsterte sie, um den Gedanken zu Ende zu bringen. »Aber dem kann man abhelfen.«
Schnell nahm die Elfe das geborstene Schwert, das immer noch in die Decke gewickelt war, und lief los, um die Schmiede zu suchen.
Wieland, der Schmied, war selbst für sein Handwerk groß – groß und rot, die Unterarme so dick wie ihre Taille. Obwohl er wirklich freundlich und sanft reagierte, war Mara von der rein körperlichen Erscheinung des Mannes schon so eingeschüchtert, daß sie lieber auf der Schwelle der Schmiede stehenblieb, während der gewaltige Schmied sich auf eine Bank setzte, um das Schwert auszuwickeln.
»Das hier, ja?« fragte er, und seine Stimme rumpelte wie ein ganzer Bergrutsch.
»›Das hier‹?« fragte Mara. »Soll das heißen, du kennst das Schwert?«
»Allerdings, Mädchen«, antwortete der Schmied, der das wunderbare solamnische Heft in seiner enormen, rußgeschwärzten Hand drehte. »An ein solches Erbstück erinnere ich mich leicht, denn in Dun Ringberg geben wir selten etwas anderes als Armut weiter. Das hier habe ich… ach, so vor sechs Wochen gesehen. Um Mittwinter, als Lunitari endlich…«
»In den gleichen Himmelsabschnitt lief wie der weiße Mond«, sagte Mara. Sie war überrascht, daß der Schmied den Lauf der Gestirne verfolgte. »Der Junge, der es dir brachte…«
»Kein Junge, Mädchen, sondern ein erwachsener Mann mit Bart«, stellte der Schmied richtig, der immer noch das Schwert untersuchte. »Aus dem Norden war er, der Stimme nach, aber ich frag’ eigentlich nicht, wo die Leute herkommen.«
Er legte das zerbrochene Schwert – erst die Klinge, dann das beschädigte Heft – vor sich auf die Werkbank. Auf seinem Gesicht lag ein kluger, sinnender Ausdruck. Mit dem Finger zog er verlegen die Runen entlang der Blutrinne der Klinge nach.
»Hätte ihn wohl fragen sollen«, stellte Wieland fest, »wo seine Bitte doch so verrückt war. Denn er wollte, daß ich dieses Schwert verderbe.«
»Es verderben?« fragte Mara.
»Ein Haarriß. Eine Bruchstelle im Metall«, erwiderte der Schmied. Er zeigte es ihr. Stundenlang hätte er weitererzählen können, ihr alle Methoden zeigen können, wie man eine Klinge nutzlos machen konnte.
Konnte, ja, aber nicht wollte. Verächtlich zog er einen Mundwinkel hoch und spuckte ohne Umschweife in den Schmelzofen. »So was mach’ ich aber nicht«, erklärte er. »Würde nur ein Schuft machen, eine Waffe versauen.«
Er sah die Klinge liebevoll an und hob sie noch einmal hoch. »Barbarisch«, sagte er, »eine solche Klinge zu versauen. Aber der Mann war ein feiner Herr auf einem schönen, schwarzen Pferd, auch sein Diener beritten und so, die zogen richtig feierlich durch die Gegend. Wollte, daß ich das Schwert ruiniere, damit es so zerbricht, daß es nicht mehr neu zu schmieden ist – sollte wie Porzellan in Dutzende von Stücken zerspringen, die nie wieder richtig zusammenpassen.«
Mara nickte. »Sein Name?« fragte sie.
»Ach, da kann ich dir nicht helfen, Mädchen. Den hat er mir nicht gesagt, hat mich auch keines Blickes mehr gewürdigt, nachdem ich die Sache abgelehnt hatte. Ist einfach hochnäsig wieder abgezogen und sagte, er wüßte einen, der die Sache besser machen könnte. Da hab’ ich mich noch gefragt, warum er sich so weit im Süden einen Schmied sucht, wenn er in seiner Gegend einen ebenso guten finden kann.«
Wieland untersuchte blinzelnd den Rand des Schwerts.
»Ist ihm aber wohl auch nicht geglückt. Mein Meister hätte es vielleicht gekonnt – wenigstens ist er der einzige Schmied, von dem ich weiß, daß er dazu fähig ist.«
»Dein Meister?« fragte Mara. Die Selbstsicherheit des großen Mannes vor ihr ließ nicht auf einen Meister schließen. Sie konnte sich Wieland nicht als Lehrling vorstellen.
»Ja, natürlich«, meinte Wieland. »War Solamnier und hat Stimmen im Metall gehört. Aber Verrat war ebensowenig seine Sache wie meine, und er ist der einzige andere Schmied, den ich kenne, der so etwas hier bewirken oder reparieren könnte.«
Mara sah ihn fragend an, worauf Wieland nickte.
»Ja«, sagte er. »Ich kann dieses Schwert reparieren, Mädchen, und ich mache es gern.«
»Danke«, sagte Mara leise. Jetzt mußte sie nur noch einen Weg finden, wie sie die Waffe dem Gefangenen bringen konnte. Nach einer raschen Verbeugung lief sie rückwärts aus dem Raum, drehte sich dann um und rannte zum Stall zurück. In dem eingewickelten Bündel, das Sturm den größten Teil der Reise auf den Schultern geschleppt hatte, hielt sie Pfeil und Bogen versteckt.
Ihr Gepäck war auf zwei Heuballen ausgebreitet. Mara hätte bei ihrem Leben geschworen, daß es noch fest verschnürt gewesen war, als sie das Schwert zum Schmied gebracht hatte. Doch das Gebäude war dunkel, und die Zeit hatte gedrängt. Zweifellos erinnerte sie sich nicht mehr genau, wenn überhaupt.
Jedenfalls war es jetzt geöffnet. Im schwachen Mondlicht lagen ihre Siebensachen ausgebreitet: eine Bronzeharfe und drei Trillerpfeifen, zwei Roben und ein Beutel mit ihrer alten Muschelsammlung, Cyrens Brosche, sein Siegelring mit dem grünen Drachen der Familie Calamon…
Mit wachsender innerer Unruhe kniete sie auf der Decke über ihren Schätzen.
»Ist es das, was Ihr sucht, Lady?« fragte eine rauhe Stimme hinter ihr.
Mara fuhr herum. Vor ihr stand Hauptmann Duir mit dem Bogen und dem Köcher voll Pfeile in der Hand. Neben dem Hauptmann stand der riesige Wachmann Oron, dem eine gewisse Enttäuschung vom Gesicht abzulesen war.
»Oh, tut uns leid, daß wir diese Waffen gefunden haben«, erklärte der Hauptmann mit schiefem Lächeln. »Und noch mehr tut es uns leid, daß Ihr trotz des Vertrauens und des Entgegenkommens der Druidin Ragnell zurückgekommen seid, um Eure Waffen zu holen. Ich nehme an, Ihr wolltet als nächstes… abreisen?«
»Nein«, erwiderte Mara, woraufhin der Hauptmann die Augen zusammenkniff.
»Nun… wenn Ihr vorhattet, in unserem friedlichen Dörfchen Waffen zu tragen, dann zu welchem Zweck?«
»Ich… ich…«, setzte Mara an, doch sie wußte, daß Duir sie durchschaut hatte.
»Ich habe keine Wahl«, sagte der Hauptmann langsam, als Oron mit ausgestreckter Hand auf sie zukam, »als Euch ebenfalls im Rundhaus unterzubringen. Die Freiheit in Dun Ringberg ist ein Privileg, das Ragnell Euch persönlich großzügigerweise zugestanden hat, aber Ihr habt bewiesen, daß Ihr mehr Solamnierin seid als Kagonesti.«
Sie führten sie an der Schmiede vorbei. Wieland stand in der Tür, so daß kaum noch Licht von der Esse herausdrang. Er sah zu, wie sie zur Wiese mit dem Rundhaus und der Zelle neben dem gefangenen Solamnier gebracht wurde.
Wieland schüttelte den Kopf. Seine Gedanken waren ganz woanders. Dann drehte er sich wieder um und schloß die Tür hinter sich. Vorher aber hob er noch die lange Klinge von seiner Bank auf, die im Feuerschein rotsilbern glänzte.
Hätte er nicht den Blasebalg betätigt, so hätte er vielleicht gehört, wie noch jemand vorbeikam, gegen Mitternacht, als sich alle im Dorf in ihre runden Hütten zurückgezogen hatten. Denn vor der Schmiede huschte etwas vorbei, das vorsichtig durch die Gassen eilte und leise zirpte wie eine Grille. Doch irgendwo in dieser merkwürdigen, fremdartigen Sprache schwangen elfische Worte, elfische Ängste und elfische Trauer mit.