Cyren war zuerst zu Mara gekommen. Es hatte ihn jeden Funken Tapferkeit gekostet, auf das Dach zu klettern und über einem großen Feuer zu stehen und dann auch noch einen Faden mitten über den Soldaten herunterzulassen. Sein groteskes Gesicht wurde von Mondlicht und Sternen eingerahmt, als er wild winkte und zirpte.
Mara kletterte wie eine zweite Spinne an dem dicken Faden hoch. Zweimal stemmte sie die Füße gegen die gewölbte Decke und stieß sich so gekonnt ab, daß sie wie eine Akrobatin unter dem Dach pendelte. Schließlich verschwand sie strampelnd durch das Loch in der Decke. Dann blickte sie zurück und warf das Seil auf der anderen Seite der Wand zu Sturm hinunter.
Sturm hockte sich hin und holte tief Luft. Der Fluchtweg erschien ihm aberwitzig, fast verrückt, aber immerhin führte er ins Freie.
Mühsam zog Sturm sich Hand um Hand an dem Strang hoch und versuchte, seine Schulter nicht zu sehr zu belasten, da sie ihm wieder Probleme machte. Schließlich balancierten seine Füße wackelig oben auf der Vorderwand seiner Zelle. Unter ihm lagen die schlafenden Wachen mit dem Rücken an der Wand. Ein halbes Dutzend anderer schnarchte am heruntergebrannten Feuer, und hinten am Eingang schliefen zwei, über ihre Speere gebeugt, im Stehen.
Sturm lächelte etwas zuversichtlicher und band sich den Strang um den Bauch. Von hier aus war es nur ein kurzer Sprung zu der Öffnung im Dach und in die Freiheit. Er stieß sich von der Wand ab, sprang los, streckte die Arme aus…
… und kam gute drei Fuß zu kurz an.
Er drehte sich in der Luft, versuchte noch einmal verzweifelt zuzugreifen und verlor dadurch das letzte bißchen Gleichgewicht. Seine Füße blieben über ihm in dem Webstück hängen. Sturm unterdrückte einen Entsetzensschrei, als er mit dem Kopf voran halsbrecherisch auf die glühende, torfbedeckte Mitte des Feuers zuraste. Der Webstrang bewahrte ihn wenige Fuß darüber vor dem Schicksal, geröstet zu werden. Lautlos baumelte er über den schlafenden Wachen.
Der Fall hatte ihm den Atem genommen. Keuchend griff er nach seinen Knöcheln, die er jedoch erst beim dritten Mal erwischte. Nachdem er sich in eine bessere Position gezogen hatte, griff er wieder nach dem Seil und kletterte direkt durch die Öffnung, wo Mara ihm half, aufs Dach zu steigen.
Es war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen, und es schien eine weitere Ewigkeit zu dauern, bis er von dem Faden befreit war. Als Sturm aufsah, beugte sich Mara über ihn, während Cyren wie ein von einem perversen Zauberer verwandelter Baldachin über ihr thronte.
»Hier«, flüsterte die Elfe und reichte Sturm sein Schwert. »Hat genau der Schmied neu geschmiedet, von dem Jack Derry gesprochen hat, also dürfte es gute Arbeit sein.«
»Der Schmied!« zischte Sturm. »Also hast du ihn gefunden?« Nachdem er den letzten Spinnenstrang vom Knöchel abgeschüttelt hatte, kroch er zum Rand des Dachs.
»Die Schmiede ist ganz hinten beim Stall. Aber eine Wache könnte uns unterwegs entdecken! Oder auch nur ein kläffender Hund…«
»Zeig mir den Weg«, verlangte Sturm. »Ich muß unbedingt in die Schmiede.«
Er drehte sich zu Mara um und ergriff drängend ihre Hand. »Jack Derry schuldet mir eine Erklärung.«
Sturm steckte das neugeschmiedete Schwert in seinen Gürtel und rutschte das Dach des Rundhauses hinunter. Am Rand hielt er sich fest, denn dort bildete frischer Efeu ein grünes Spalier bis zum Dorfplatz hinunter. Mara folgte ihm seufzend, und die Spinne blieb ihr mit nervösem Zirpen auf den Fersen. Als beide festen Boden erreicht hatten, zeigte das Elfenmädchen zum Stall und auf die Schmiede dahinter, und sie schlichen sich durch die düsteren Gassen von Dun Ringberg und mieden das verräterische Mondlicht, bis sie am Rand des Dorfes angekommen waren – wo in Wielands Fenster ein einsames Licht flackerte.
Sturm hörte die ferne, einschmeichelnde Musik, als die Schmiede in Sicht kam. Sie erinnerte den jungen Ritter an Vertumnus und an die Prüfung, die ihm bevorstand. Er schlug seinen Mantel gegen den Regen hoch und bedeutete Mara, im Schutz der Dunkelheit zu warten. Tief gebückt überquerte er das letzte offene Stück zur Schmiede. Leise schlich er ans Fenster und stellte sich auf die Zehenspitzen, um hineinzuspähen.
An der abgedeckten Esse standen zwei Männer, die mit Rechen den Torf entfernten, damit der Schmied sein Tagwerk beginnen konnte.
Sie redeten über Spinnen.
»So dick wie mein Kopf, ich sag’s dir!« behauptete der Größere, der zwei schwarze Hände hochhielt, um den Umfang des Tieres zu beschreiben.
Der Mann, der mit dem Rücken zum Fenster stand, schwieg. Wegen des glimmenden Feuers und der trügerischen Schatten konnte Sturm ihn nicht genau sehen, doch er war eindeutig stark und wendig und schien sich mit Rechen auszukennen.
»Angst vor Spinnen«, sagte er schließlich, doch seine Stimme wurde durch die Bewegung und das sanfte Streichen des Rechens über den Torf gedämpft. »Was hätte dein begnadeter Meister wohl dazu gesagt?«
»Dasselbe, was dein begnadeter Vater gesagt hätte«, erwiderte der große Mann mit merkwürdigem Lächeln, während er sich aufrichtete, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Sturm drückte sich noch näher ans Fenster, so daß er schon die heiße Luft aus der Schmiede spürte.
»Was glaubst du wohl, was so ein Untier frißt?« fragte der große Mann, der wieder zum Rechen griff und weiterarbeitete. »Na, was meinst du?« bohrte er.
»Schmiede«, erwiderte der andere Mann kurz. Sturm versuchte, mehr zu hören, aber der Mann sagte nichts mehr.
»Wie bitte, Jack?« fragte der große Mann. Der andere drehte sich um, so daß sein Gesicht im Licht der Laterne und der Esse jetzt deutlich zu erkennen war.
»Spinnen dieser Größe fressen am allerliebsten Schmiede«, neckte Jack Derry mit ernstem, undurchschaubarem Gesichtsausdruck.
»Wenn sie keinen Gärtner kriegen!« lachte der Schmied, der scherzhaft drohend seinen Rechen erhob.
Sturm war mit einem Satz durch das Fenster gesprungen. Mit dem Schwert in der Hand stolperte er lärmend gegen eine Werkbank und kam in einer wackligen, unsicheren Hocke auf. Das Schwert hielt er immer noch in die Höhe.
Das überraschte alle, nicht zuletzt Sturm selbst, und einen Atemzug lang sahen die drei Männer einander verwirrt und durcheinander an. Dann stürzte Sturm sich auf Jack, und die Schmiede war von Rufen und Waffengeklirr erfüllt.
Sturm jagte Jack Derry um den Schmelzofen, doch der Gärtner riß auf der Flucht eine Zange an sich und stürmte ins Schlafzimmer, wo er auf Wielands Matratze stehenblieb und drohend wie ein plötzlich wild gewordener Koch die Zange schwenkte. Stahl traf auf Eisen, und das Eisen gab nach – die Zange in Jacks Hand zerbrach.
»Diese Klinge nimmt es mit dem besten Werkzeug auf«, erklärte Wieland mit einem gewissen Stolz in der Stimme. Er packte Sturm hinten an der Tunika und hob ihn mit einer Hand in die Luft. Sturm zappelte wie ein Welpe in den sanften Fängen seiner Mutter, und der Schmied griff mit der anderen Hand um ihn herum und nahm ihm das Schwert ab.
Jack kletterte vom Bett, nahm einen Nachttopf und wollte ihn nach Sturm werfen, doch Wieland schob den Jungen hinter sich und baute sich groß wie ein Oger zwischen den jungen Kampfhähnen auf.
»Jetzt aber Schluß«, erklärte er streng. Ein liebenswertes Lächeln machte sich auf Jack Derrys Gesicht breit, während er den Nachttopf einfach wieder vorsichtig hinstellte, als ob er ihn die ganze Zeit nur woanders hatte hinsetzen wollen.
Sturms Wut war verflogen. Eigentlich war er froh, daß Wieland ihm das Schwert weggenommen hatte, denn sein plötzlicher Jähzorn hatte ihn selbst überrascht.
Mara tauchte im Fenster auf, schwang ein Bein hinein und stieg in das Schlafzimmer.
»Die Schmiede hat auch eine Tür, und ich habe es lieber, wenn meine Gäste dort eintreten«, schlug Wieland höflich vor, ohne seine schwere Hand von Sturms Schulter zu lösen.
»Ich… ich habe Geschrei gehört«, erklärte die Elfe, die ihren Dolch wieder wegsteckte.
»Es gab eine… Meinungsverschiedenheit zwischen Meister Jack und dem kleinen Solamnier«, erläuterte Wieland. »Eine Meinungsverschiedenheit, die sie hoffentlich beilegen, damit wieder Ruhe in meinem Haus herrscht.«
Sturm riß sich von Wieland los und setzte sich höchst würdevoll auf einen Schemel an der Schwelle. Jack hockte sich auf den Boden. Um den muskulösen Wall des Schmieds herum funkelte Sturm seinen ehemaligen Freund an, der zum Verrücktwerden freundlich zurückgrinste.
Langsam brach ein fröhliches, freches Lachen aus Jack heraus. Er stand auf und wirkte irgendwie viel größer, als Sturm ihn in Erinnerung hatte.
»Du überraschst mich, Sturm Feuerklinge«, lachte Jack, der die Arme verschränkte. »Und Überraschungen sind gut fürs Gleichgewicht.«
»Es heißt Meister Sturm Feuerklinge, Gärtner!« gab Sturm wütend zurück.
Jacks Lächeln wurde dünner.
»Den Meister und den Gärtner haben wir am Fluß gelassen«, sagte er ruhig. »Jetzt bist du in meinem Land, wo die Bäume Augen haben und andere Regeln gelten.«
Sturm runzelte die Stirn. Es war wirklich ein anderer Mann, der vor ihm stand. Verschwunden die Demut und die Schmeichelei, die schlichte Gutmütigkeit und die angenehme Bescheidenheit.
Der Mann vor ihm war selbstsicher, klug und großmütig. Er war ein Prinz, ein Erbe von Wald und Wildnis. Sturm bemerkte einen schwachen Duft nach Regen und Blättern und etwas anderes, das er nicht genau erkennen konnte, obwohl es seltsam vertraut war.
Jack setzte sich auf die Bank in der Schmiede, stützte sein Kinn in die Hände und beobachtete Sturm mit der dunklen, schlauen Gründlichkeit eines Raubtiers. »Wie ich schon sagte, bevor du mich unterbrochen hast«, meinte er, »du hast mich überrascht.«
»Wo warst du?« fragte Sturm kalt. »Drei Tage war ich bei den Druiden eingesperrt, und jetzt ist der erste Frühlingstag, und ich kann mich überhaupt nicht mehr vorbereiten…«
Bei Jack Derrys ungerührtem Blick wurden seine Worte leiser.
»Vielleicht erinnerst du dich noch«, sagte der Gärtner, »daß ich dir hinten am Vingaard ein paar Räuber vom Hals gehalten habe.«
»Aber wo…«, fing Sturm wieder an. Jack hob die Hand.
»Aber es waren zwölf«, beharrte Sturm. »Vielleicht sogar mehr.«
»Vierzehn, meiner Zählung nach«, stellte Jack richtig. »Wo warst denn du?«
»Aber du hast doch… du sagtest doch…« Sturm kamen seine eigenen Worte schwach vor, und der Blick der auf ihm ruhte, war verachtungsvoll.
»Was soll das, Sturm Feuerklinge?« fragte Jack leise. »Warum suchst du so nach Verrat und Betrug, wo nichts zu finden ist? Keiner läßt dich in einem verschneiten Schloß mit frierenden, ausgehungerten Leuten allein zurück.«
Sturm wußte keine Antwort. Müde stand er von dem Schemel auf und schwankte etwas, als er auf die Beine kam. Mara sprang schnell hinzu und half ihm, sein Gleichgewicht wiederzufinden.
»Wo warst du?« fragte Sturm wieder dünn, ohne sich noch um die Antwort zu scheren.
Das Lächeln kehrte in Jacks Gesicht zurück. »Hab’ deine Spuren verwischt, wie üblich«, erwiderte er. »Du bist aus dem Gefängnis entkommen, Sturm Feuerklinge, und dazu braucht man Grips und Geschick und was so dazugehört. Jetzt ist Frühling, und bis zum Wald ist es nur ein Katzensprung. Wenn du dich von mir führen läßt, bringe ich dich zum Herrn der Wildnis.«Mehr sagte Jack vor dem Schmied nicht mehr. Er ignorierte Sturms drängende Fragen und blieb auf der Schwelle der Schmiede stehen, wo ihm das Mondlicht in den Rücken schien und ein seltsamer, rätselhafter Zug in den Schatten seines Gesichts lag.
»Komm«, sagte er. »Nimm die Elfe mit, wenn es sein muß. Komm zu Fuß oder zu Pferd, das spielt keine Rolle. Aber du mußt mitkommen. Die erste Frühlingsstunde naht.«
Der Regen ließ nach, als sie vor die Schmiede traten. Cyren hockte naß und zitternd und ausgesprochen schlecht gelaunt vor dem Stall. Sturm winkte der Spinne mit dem Schwert zu, worauf sie zurückwich, damit sie die Pferde zum Satteln herausholen konnten.
Von hier aus bis zum Wald ging alles fast verdächtig glatt. Es wurde kein Alarm geschlagen, die Warnglocke ertönte nicht, niemand machte Geschrei, und das Dorf schien friedlich zu schlafen.
»Glaubst du, Fürst Bonifaz… wartet noch im Wald, Jack?«
Jack zuckte mit den Achseln und beugte sich auf der zähen, kleinen Eichel tief hinunter. »Wohl nicht«, sagte er. »Bonifaz ist wieder auf dem Weg nach Solamnia. Wenn er gesehen hat, daß du nach Dun Ringberg gebracht wurdest, amüsiert er sich auf dem Heimweg mit grausigen Vorstellungen, was ein Haufen Druiden wohl mit einem solamnischen Gefangenen anstellen mag.«
»Und was hätten sie getan, Jack?« fragte Sturm.
Jack schnaubte. »Vielleicht gar nichts. Außer wenn der Orden sie bezahlt hat.«
»Der Orden! Sie bezahlt?«
Jack Derry warf Sturm über die Schulter ein kurzes, ironisches Lächeln zu.
»Ich habe zufällig die Sachen der toten Räuber untersucht«, erklärte er. »Nach Hinweisen sozusagen, wo sie herkamen und wer sie geschickt hat.«
»Und?«
»Jeder von ihnen trug solamnisches Geld bei sich.«Der Finsterwald schien sich für sie zu öffnen. Hintereinander ritten sie den schmalen Pfad nördlich des Dorfs entlang. Als sie einige Schritte in den Wald eingedrungen waren, schienen die Lichter im Dorf plötzlich alle zu verlöschen; dichtes Blattwerk umschloß die Wanderer.
Sturm zog sofort das Schwert. Die frisch geschmiedete Klinge fing den letzten, weißen Strahl Mondlicht auf, als Solinari hinter ihm in dichtes Föhrendickicht tauchte. Für den Bruchteil eines Augenblicks schien auf der Klinge ein Gesicht aufzutauchen – nicht sein eigenes, aber dennoch ein vertrautes, als hätte jemand durch seine Augen gesehen und wäre plötzlich und unerwartet im Spiegelbild sichtbar geworden. Sturm schüttelte den Kopf und steckte das Schwert wieder zurück.
Jack ritt mit einer abgeblendeten Laterne in der Hand vorn auf Eichel. Aus den Bäumen vor ihnen schien eine langsame, getragene Musik aufzusteigen, und somit trieb der Gärtner sein Pferdchen zuversichtlich voran. Es trabte so sicher drauflos, als wäre es den Pfad schon unzählige Male gegangen. Sturm mußte sich Mühe geben, mit Jack Schritt zu halten. Luin trat immer noch vorsichtig auf und hatte auch noch das zusätzliche Gewicht von Mara zu tragen. Immer wieder hielt Jack vor ihnen an, um das Licht hochzuhalten. Sie folgten ihm durch die grüne Finsternis und die süß duftende, weiche Luft.
Der Wald war still und erwartungsvoll. Hin und wieder rief ein Vogel, dem ein anderer antwortete, doch das Land um die Wanderer schwieg. Selbst die ersten Frühlingsinsekten waren noch still.
»Jack«, flüsterte Sturm. Der Gärtner zügelte sein Pferd, damit Sturm neben ihm aufschließen konnte. »Woher kennst du eigentlich – «
Etwas raschelte und knackte im Unterholz. Eine braune Taube flatterte mit einem leisen, schleppenden Schreckenslaut auf. Im gleichen Moment griffen beide Männer zum Schwert, denn so plötzlich, als wäre er einer der Bäume gewesen, stand ein grüner Ritter vor ihnen auf dem Pfad.
»Vertumnus«, hauchte Sturm.
»Kaum«, zischte Jack Derry. »Und wenn du schlau genug bist, machst du einen weiten Bogen um den.«
Der riesige Ritter rührte sich nicht. Ein Visier aus hell getupftem Efeu verdeckte sein Gesicht, und sein Kettenhemd war nicht aus Ketten, sondern aus dicken, grünen Schlingpflanzen. Sein Schild war so groß wie die Heuluke einer Scheune und sah mit ihren dicken, zusammengezimmerten Eichenbrettern auch genauso aus.
Doch es war die Waffe, die die jungen Männer genauer hinsehen ließ. Eine Keule, so lang wie Sturms Bein, lag auf der Schulter des großen Kerls. Wenn der Schild noch grob gemacht war, wirkte die Keule wie frisch aus dem Wald, ein Stamm, dem man noch ansah, wo er gefällt worden war; die kleineren Zweige waren zurechtgestutzt und zu bösartigen Dornen gespitzt worden.
»Ich glaube, es gibt einen besseren Weg in diesen Wald«, schlug Jack vor, der Eichel mit einem heftigen Ruck wendete, um danach zu suchen. Nach einem Schubs von Mara folgte ihm Sturm, der noch einen letzten Blick auf den Ritter warf, der sich nicht von seinem Posten auf dem Pfad weggerührt hatte.
»Das gefällt mir nicht«, murmelte Sturm. »Dieser Kerl vor uns… und die Herausforderung ablehnen… also, nach dem Maßstab muß ein Ritter die Forderung zum Zweikampf annehmen – «
»Um die Ehre des Ordens zu verteidigen«, unterbrach die Elfe, die ihre Arme so fest um Sturms Bauch legte, daß ihm einen Moment der Atem wegblieb. »Das wissen wir inzwischen alle, Sturm. Wir wissen, was der Maßstab zu allem sagt, von der Grammatik über die Tischmanieren bis zur Etikette des Schaukampfes. Du hast den Orden jetzt gegen Geister und unschuldige Spinnen und Banditen verteidigt, und ich habe noch keinerlei Verleumdungen über die Solamnier gehört.«
»Was war das?« fragte Sturm. Jack drehte sich zu ihm um, doch sein Gesicht lag im Schatten der Blätter.
»Ein Baumhirte, Sturm – eine alte Riesenrasse, älter als der älteste Vallenholzbaum im Wald, älter als die Zeit. Es heißt, sie waren schon hier, als Huma noch in der Wiege lag. Sie beschützen den Wald, hüten sein Wachsen und seine Geheimnisse. Es gibt Dinge in diesem Wald, die jenseits deiner oder auch meiner Vorstellung liegen.«
»Woher weißt du das alles, Jack Derry?« fragte Sturm.
Jack antwortete nicht, sondern zeigte auf einen tiefhängenden Vallenholzzweig. Pflichtschuldig duckte sich Sturm, wobei er heimlich hoffte, daß Mara so mit ihren Kommentaren beschäftigt sein würde, daß sie aus dem Sattel gefegt würde. Aber sie wich geschickt aus und schwatzte weiter über Beleidigungen und Ritterlichkeit und Eid und Maßstab.
»Und auch von dem Mann hinter uns habe ich nichts Schlechtes über deinen kostbaren Orden gehört«, sagte sie. »Du nimmst Anstoß, wo es keinen Grund gibt, und siehst Herausforderungen im Wind und im Regen.«
Ihr Griff wurde lockerer, und sie verfiel wieder in Schweigen. Aber sie konnte ein letztes Wort nicht lassen. Sie griff hoch, zog Sturms Kopf am Ohr zu sich herunter und flüsterte:
»Deine größte Gefahr ist immer bei dir.«Jack Derry ritt um dichte Dornenranken herum, bis er einen Durchgang fand, und führte die Gruppe auf einen neuen Pfad. Inzwischen brach im Wald der Morgen an, und einzelne Sonnenstrahlen erhellten die Schatten und machten das blasse, vielfarbige Grün des Waldbodens sichtbar. Sie fanden einen kleinen Teich, an dem sie abstiegen, um die Pferde zu tränken.
Mara gab schläfrig auf Cyren acht, der in einer etwas entfernten Erle angefangen hatte, sich ein Netz zu spinnen. Seit sie Dun Ringberg verlassen hatte, hatte die Spinne sicherer, ja, fast mutig gewirkt. Sie schlich nicht mehr halb versteckt von Blatt und Zweig hinter den dreien her, sondern lief wacker neben Luin, wobei sie glücklich und geheimnisvoll vor sich hin knurrte.
Irgendwo im Westen hörten sie in der Ferne Hunde bellen.
Sturm kniete sich neben Jack Derry, und die zwei beugten sich über das Wasser und tranken durstig. Plötzlich sah Sturm ihr Spiegelbild, wie sie Seite an Seite von einem Blätterdach umrahmt wurden.
Wieder sah er eine verblüffende Ähnlichkeit, warf aber schnell einen Stein in den Teich.
Jack sah ihn an. Ihm tropfte noch das Wasser vom Kinn. Mit fröhlichem, offenem Blick sah er Sturm an, und wieder machte sich dieses geheimnisvolle Lächeln auf seinem Gesicht breit.
»Das Hundegebell kommt von einer Jagd, die von der Nähe her von Dun Ringberg ausgehen müßte. Ich nehme an, die alte Ragnell hat jetzt Wind davon bekommen, daß du fort bist, und soweit ich sie kenne, läßt sie nach dir suchen.«
»Was können wir machen, Jack?« fragte Sturm. Alle solamnische Großspurigkeit war aus seiner Stimme gewichen.
Jack sah ihn nachdenklich an. Er nickte.
»Ich nehme an, ich kann… mich ein bißchen um den Westrand kümmern, Sturm Feuerklinge«, sagte er geheimnisvoll. »Ich kann unsere Spuren mit Zweigen verwischen und mit Rosenwasser und Schnaps die Fährte verdecken. Damit kann ich eine Stunde gewinnen. Vielleicht zwei Stunden oder sogar bis zum Mittag, ehe die Hunde deine Witterung wieder aufnehmen.«
Er blinzelte hinter ihnen in den Wald.
»Nutze die Zeit klug«, flüsterte er.
Sturm nickte dankbar und bückte sich, um noch etwas zu trinken. Als er aufsah, war Jack Derry verschwunden. Der Wald hatte den wilden Burschen bereitwillig verschluckt. Weder Zweig noch Blatt noch Grashalm regten sich, um ahnen zu lassen, in welche Richtung er aufgebrochen war.
Sturm stand auf und winkte Mara zu.
»Wir sollten lieber weiterziehen«, drängte er, hob die Elfe in den Sattel und stieg hinter ihr auf. »Bis ins Herz des Waldes ist es gewiß noch ein ganzes Stück, und Jacks Worten nach ist uns halb Dun Ringberg auf den Fersen…«
Er schwieg, als auch jedes andere Geräusch auf der Lichtung verstummte. Das Vogelgezwitscher hörte auf, und der Teich, in den die beiden geschaut hatten, sah plötzlich ruhig und klar aus. Sturm wagte nicht hochzuschauen. Er suchte die Spiegelbilder auf der Wasseroberfläche ab, das weite Blätternetz, das gefilterte Licht.
Drüben auf der anderen Seite des Teichs stand der Baumhirte, der riesige Krieger, der schwer auf seinem gewaltigen Hengst thronte. Langsam und entschlossen hob er seine Keule.