Lange ehe er die nähere Umgebung des Dorfs erreicht hatte, verlor Sturm den Rauch und die flackernden Lichter aus den Augen, die er von Norden her gesehen hatte. Er versuchte, seiner Erinnerung zu folgen, wartete verzweifelt auf Vertumnus’ leitende Musik, doch im Wald war es still bis auf die gelegentlichen Vogelrufe. Gerade als er glaubte, er würde Dun Ringberg niemals finden, gelangte er über eine Anhöhe direkt an den Rand der Siedlung.
Der Ort sah völlig verändert aus, als hätte etwas Großes, Namenloses fürchterlich Rache an diesem Flecken genommen. Hütten und Schuppen neigten sich gefährlich schief, weil sie von Schlingpflanzen, ausschlagenden Bäumen und dem hartnäckigen Druck herankriechenden Unterholzes von ihren Grundmauern gedrückt wurden. Dun Ringberg war bis zu den Spitzen der Dächer ergrünt.
Sturm wanderte durch einen Dschungel aus Blättern und Häusern, im Ohr das zornige Summen von Insekten, seine Nase durch den scharfen Geruch des Immergrüns und den zarten Duft der Blumen abgelenkt. Das Grünzeug hatte sich dem Anschein nach von Osten nach Westen ausgebreitet, und das große Mittelhaus war von Schlingpflanzen überwuchert und durch die großen, ausladenden Wurzeln eines zweihundert Fuß hohen Zürgelbaums säuberlich von seinem Fundament gehoben worden.
Sturm lief schweigend mit blanker Klinge durch die Gäßchen und Seitenstraßen, während er über einen Umweg auf Wielands Schmiede zusteuerte. Er überquerte den überwucherten Dorfplatz, drängte sich nach Westen durch ein plötzlich aufschießendes Gewirr aus Wein- und Kürbisranken zum Ortsrand, wo – wenn ihn seine Erinnerung nicht gänzlich täuschte – die Schmiede und der Stall liegen mußten. Seine Rüstung schepperte in den efeubewachsenen Gassen, und seine Hoffnung wechselte sich mit Angst vor Entdeckung ab.
Die Straßen um Wielands Werkstatt waren still und leer. Es war, als wäre dieser Teil des Dorfes verlassen oder als hätten sich die Dorfbewohner ein Stündchen zurückgezogen, weil bei der Schmiede eine wichtige Privatangelegenheit auszutragen war. Obwohl die Dörfler fehlten, lagen ihre Sachen herum: Messer, Halsreifen, Ahlen und Spindeln lagen kreuz und quer auf dem Dorfplatz, und mehr als einmal trat Sturm auf zerbrochenes Geschirr, das unter seinen Stiefeln zerbröselte wie die Außenskelette großer Insekten. Ein Bronzespiegel, dessen Oberfläche grün angelaufen und matt war, lehnte völlig schief an einer Haustür. Nicht weit davon lag ein goldener Schleier, dessen Rand mit grünen Rosen bestickt war, seltsam unberührt zwischen all dem Wachstum und Verfall. Sturm ging in die Knie und hob den Stoff auf, um ihn traurig ins Sonnenlicht zu halten.
Er warf ihn in die Luft. Der Stoff wiegte sich im leichten Wind, blähte sich auf und blieb auf dem Fensterbrett eines verlassenen Häuschens liegen. In diesem Augenblick ging der Klang eines Hammers, der auf einen Amboß trifft, durch das Dorf.
Sturm rannte in wilder Hoffnung los. Wenn überhaupt jemand hier, dann würde Wieland den Weg zu Jack Derry wissen. Und Jack würde den Weg zu Vertumnus wissen.
Die Stalltüren standen weit offen, doch in der warmen, stickigen Dunkelheit wieherte und schnaubte ein Pferd. Auch im Fenster der Schmiede waren Bewegung und Licht zu sehen, und ein Mann ging in der Schmiede auf und ab und sang dabei leise vor sich hin.
Ohne zu zögern, lief Sturm zur Tür der Schmiede und machte sie auf.
Vor ihm stand Vertumnus, der mit erwartungsvollem Lächeln Hammer und Zange hielt.
Er legte sein Werkzeug hin und wischte sich mit einem rauhen, festen Tuch die Hände ab, während Sturm auf der Schwelle in der Hitze der Schmiede stand und sich zu erinnern versuchte.
Erstaunt ließ Sturm sein Schwert sinken. Plötzlich war es fast greifbar. Die Träume und seine Wahl schienen irgendwie einen Sinn zu ergeben, obwohl Sturm sie noch immer nur schwer hätte erklären können. Er wollte etwas sagen, wollte Vertumnus mit hundert Fragen bestürmen, doch der Herr der Wildnis blieb stehen und gebot mit erhobener Hand Schweigen.
»Du siehst müde und abgekämpft aus«, stellte er fest, »und ich wäre ein armseliger Gastgeber, wenn ich dir kein Brot und nichts zu trinken anbieten würde.«
»Nein, danke. Ich meine, ja. Ja, Brot wäre gut. Und Wasser.«
Vertumnus verschwand mit der Schöpfkelle in der Hand durch die Hintertür zum Brunnen. Sturm folgte ihm einfach, wobei er ungeschickterweise gegen den Amboß stieß.
»Ein grüner Junge bist du, Solamnier«, sagte der grüne Mann gut gelaunt, der Sturm auf seinem Weg zum Vorratsschrank mit dem Brot streifte. »Grün und stur, obwohl beides in diesem Fall zu deinem Besten war. Daß du so grün bist, hat dich vor Bestechlichkeit und Kompromissen bewahrt, und deine Sturheit hat dich hierhergeführt.«
»Sie hat mich scheitern lassen«, sagte Sturm verärgert, »denn der erste Frühlingstag ist bereits vergangen. Ihr seid mir entkommen, Vertumnus, und Ihr habt somit gewonnen!«
»Immer dieser Solamnier in dir, der über Formfragen jammert«, erwiderte Vertumnus fröhlich. »Ich weiß noch, daß ich gesagt habe, wenn du mich nicht zur rechten Zeit triffst, ist deine Ehre für immer dahin.«
Sturm nickte wütend, setzte sich umständlich auf die Bank in der Schmiede und nahm Brot und Schöpfkelle an.
»Daran ist nur diese Druidin schuld«, beharrte Sturm. »Ragnell hat mich drei Tage eingesperrt und mich hinterher eine Woche schlafen lassen, sonst hätte ich Euch rechtzeitig erreicht.«
Vertumnus setzte sich auf den Boden. »Durch diese Gefangenschaft warst du sicher. Du wurdest von einem gnadenlosen Feind verfolgt, und als die Herrin dich in Gewahrsam nahm… hat er die Jagd aufgegeben.«
Sturm zog verärgert die Nase hoch. Wieder dieses Märchen von Bonifaz und seiner Verschwörung.
»Und?« fragte Vertumnus, der seine Hände im Schoß faltete. Er sah aus wie eine alte östliche Statue, ein Symbol ferner Heiterkeit. »Und? Spürst du die Wunde? Den Verlust? Das Dahinsein?«
»Das… das verstehe ich nicht«, wehrte sich Sturm.
»Ich könnte mir vorstellen«, hakte Vertumnus nach, »daß du deine Ehre nicht verloren hast, falls du nicht vorhast, sie wegen eines Datums aufzugeben… Oh«, rief er aus, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. »Ich habe doch ein Geschenk für dich.«
Vertumnus stand auf und sprang an das Regal in der Schmiede, wo er auf einen Stuhl stieg und etwas Langes, in festes Tuch Eingewickeltes herunterholte. Langsam und stolz wickelte er es aus und hielt es Sturm hin.
Es war eine Schwertscheide, deren Oberfläche wundervoll und makellos gearbeitet war. Ein Dutzend Gesichter starrten Sturm an. Sie waren in glänzendes Silber getrieben wie Spiegelbilder aus einem Dutzend Spiegeln oder die Statuen in Kastell di Caela, das jetzt Meilen und Jahre entfernt schien. Jedes Gesicht hatte seine Augen, seine Züge, und jedes war rot und grün von kupfernen Blättern und Rosen umrankt, so daß es zu lodern schien – ein Dutzend Sonnen oder Sonnenblumen oder knospende Pflanzen.
»Das ist… wirklich herrlich, Sir«, sagte Sturm still, als seine Manieren die Verblüffung überwunden hatten. Er bewunderte die Scheide aus einem gewissen Abstand und scheute sich davor, sie zu berühren. Gedankenverloren setzte er sich auf den Amboß und kniff die Augen zusammen, um das Geschick dieses Handwerkers zu bewundern. »Ich glaube, das kann nur von Wieland stammen.«
»Von seinem Meister«, sagte Vertumnus ruhig. »Niemand auf dieser Welt könnte etwas Vergleichbares fertigbringen, wenn ich das sagen darf.« Stumm hockte er sich in die offene Esse.
»Eure Zuvorkommenheit, Fürst Vertumnus, ist dem Reisenden höchst angenehm«, erklärte Sturm so förmlich wie möglich, während er die Scheide in der Hand drehte. »Und zweifellos zeugt sie ebensosehr von Eurer Ehre und Eurer Erziehung wie dieses wunderbare Geschenk.«
Aus der Ecke der Schmiede, wo Vertumnus im rötlichen Schatten an den Flammen hockte und die glühenden Kohlen mit Torf abdeckte, kam gedämpftes Gelächter.
Sturm räusperte sich und kam zur Sache. »Aber ich erinnere mich an eine Vereinbarung zwischen uns, die beim Julbankett getroffen wurde. ›Komm am ersten Frühlingstag‹, sagtet Ihr, ›in meine Burg im Südlichen Finsterwald. Komm allein, damit wir es beilegen – Schwert gegen Schwert, Ritter gegen Ritter, Mann gegen Mann.‹ Ihr sagtet, ich müßte meines Vaters Ehre verteidigen, und Ihr habt meine in Frage gestellt.«
Vertumnus nickte, doch sein geheimnisvolles Lächeln wich einem klaren, starren Ernst.
»Also zum Geschäftlichen«, flüsterte er. Nachdem er das letzte Stück Torf aufs Feuer gelegt hatte, richtete er sich zu seiner vollen, beeindruckenden Größe auf – er war einen Kopf größer als der Junge vor ihm.
Sturm schluckte. Er hatte den grünen Mann nicht so groß, so beeindruckend in Erinnerung gehabt.
»Das war nicht alles, was zwischen uns gesagt wurde«, bestätigte er. »Ihr Solamnier mit eurer Begeisterung für Regeln und Verträge solltet euch an alles erinnern, was gesagt wurde, und zwar wortwörtlich.«
»Aber ich erinnere mich ja«, gab Sturm zurück. »›Denn jetzt bin ich dir einen Schlag schuldige‹, sagtet Ihr, ›so wie du mir ein Leben schuldest.‹«
»Dann stimmt unsere Erinnerung überein«, murmelte Vertumnus. »Folg mir in den Hof der Schmiede. Dort werden wir den Bedingungen dieser Vereinbarung Genüge tun.«
Sturm legte die Scheide hin und trat aus der Schmiede in das Nachmittagslicht. Vertumnus wartete am Brunnen zwischen Laub, beschädigten Geräten und halbfertigen Ornamenten. Augenblicklich erhob sich aus der Erde um sie herum eine leise Musik, und Sturm hielt mit nervöser, gespannter Bereitschaft sein gezogenes Schwert vor sich.
»Bewaffnet Euch, Fürst Vertumnus!« drohte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Faul und katzenartig lehnte Vertumnus am steinernen Brunnen.
Und dann griff er mit schwindelerregender Schnelligkeit an. Seine grüne Hand schloß sich mit bezwingender Kraft um die Schwerthand des Jungen.
»Schwert gegen Schwert«, murmelte er und drückte fester zu.
Sturm zuckte zusammen. Ein überwältigendes, fast elektrisches Gefühl durchlief seinen Schwertarm. Sturm wollte aufschreien, die Klinge loslassen, doch die Kraft war fesselnd und gnadenlos. Fassungslos starrte er Vertumnus an, der ihm mit einem wilden, höhnischen und doch überraschend sanften Blick in die Augen sah. Aus dem Herzen des Jungen erhob sich ein unendlich süßes Gefühl, und um ihn herum war Musik – von Flöte und Tamburin und Elfencello und irgendwo mittendrin der schwache, herbe Ruf einer Trompete, den er wieder und wieder hören würde bis zu dem Tag auf den Zinnen des Turms, wenn in der Ferne die Drachenfürstin auftauchen und er hoch auf dem Rittersporn stehen und das Lied zum letzten Mal vernehmen würde, um endlich zu begreifen, was es bedeutete…
Er kniete auf dem Boden zwischen Pflugscharen, Hufeisen und verbogenen Schwertern. Vertumnus stand mit dem blitzenden Schwert in der Hand über ihm.
»Ritter gegen Ritter und Mann gegen Mann«, schloß der Herr der Wildnis ruhig.
Sturm konnte seinem siegreichen Gegner nicht in die Augen sehen.
»Die Bedingungen sind fast erfüllt«, sagte der geschlagene Junge voller Furcht. »Ihr könnt mir den Schlag geben, den ich verdient habe, und das Leben nehmen, das ich Euch schulde.«
Während er so vor Vertumnus kniete, bezwang Sturm seine Todesangst. Er murmelte eine solamnische Totenklage, um auf das heruntersausende Schwert vorbereitet zu sein…
Das seine linke Schulter berührte, dann die rechte, und das mit einem leichten, freundlichen, spielerischen Schlag.
»Erhebt Euch, Sir Sturm Feuerklinge, Ritter des Waldes«, lachte der Herr der Wildnis.
Mit befremdetem Ärger sah Sturm zu seinem Gegner hoch…
Der ihn verspottet hatte, seine Ehre besudelt, seine Waffe gestohlen…
Der den Maßstab selbst um den ritterlichen Tod betrogen hatte…
»Das Leben, das du mir schuldest, Junge«, sagte Vertumnus, »ist das, das du mit Schaukämpfen und Rache vertändeln würdest.«
Sturm starrte ihn fragend an. Er war wie vom Donner gerührt.
»Mein Sohn hat dir von… Fürst Bonifaz Kronenhüter erzählt?« fing der Herr der Wildnis an. »Und du hast seine Machenschaften auf dem Weg in den Finsterwald selbst erlebt?«
»Ich – ich könnte nicht behaupten, daß es ein einfacher Weg war, Fürst Vertumnus«, erwiderte Sturm stockend. »Aber ich kann nicht glauben, daß das Fürst Bonifaz’ Werk war.«
»Denk nach!« drängte Vertumnus aufgebracht. »Räuber und Assassinen mit solamnischem Geld von hier bis zum Turm des Oberklerikers, unzählige Mißgeschicke und Zufälle, das einzige Geschenk, das du von Bonifaz erhalten hast, absichtlich verdorben… Wenn du nur eins und eins zusammenzählst, und wenn Eid und Maßstab dich nicht für die Wahrheit blind machten, kämst du leicht auf die Antwort!«
»Aber warum?« fragte Sturm. »Wenn Fürst Bonifaz Kronenhüter zu solchem Verrat fähig ist, warum gegen mich?«
»Warum?« fragte Vertumnus, und plötzlich erfüllte Musik den von Abfall übersäten Hof, als wäre ein Wind über die Flöte an seinem Gürtel gestrichen und hätte ihr ein Lied entlockt. »Hör zu und sieh in die neue Klinge deines Schwerts…«
Er mußte einfach hineinsehen, und im Herzen der Klinge sah Sturm ein verschneites Land, während sich das Metall von Silber zu Weiß verfärbte. Sturm blinzelte und sah genauer hin…
Böse, schattenhafte Gestalten, die sich mit Mantel und Kapuze vor dem Schneetreiben schützten, versammelten sich an einem fernen Paß. Ihr Anführer war ein Mann zu Pferd, dessen Kapuze trotz des Wetters zurückgeschlagen war. Mit seinem Bart und seinen Narben sah er aus, als wäre er aus Geröll und trockenen Zweigen geschnitzt.
Der Mann war in ein Gespräch mit einem anderen vertieft, der die elegante, solamnische Rüstung trug. Der Ritter war anscheinend von nur einem anderen Ritter und drei Fußsoldaten begleitet. Von seiner Rüstung perlte geschmolzener Schnee, als der wortführende Ritter dem zerlumpten Kerl eine Schriftrolle in seine knorrige Hand legte und durch die eisige Luft zu einem dunklen Durchgang durch die Felsen zeigte.
»Durch diesen Paß werden sie kommen«, sagte er.
Sturm kannte die Stimme. Er wollte etwas rufen, aber die Musik umgab ihn und brachte ihn zum Schweigen.
»Es wird die Standarte von Agion Pfadwächter sein«, sagte der Mann. »Roter Zentaur vor schwarzem Berg.«
Der rauhe Mann zog den Mantel enger um sich. »Und dafür eine so großzügige Bezahlung, Fürst…«
»Tückjäger«, entgegnete der Mann. »Du kennst mich nur als Fürst Tückjäger.«
»Ein Trugbild!« rief Sturm, der seine Augen von der Vision losriß. Vertumnus, der auf dem Amboß saß, betrachtete ihn neugierig und etwas traurig. »Das… das muß ein Trugbild sein! Es muß…«
»Aber wenn nicht…«
»Ich werde mich so blutig rächen, daß…«, fing Sturm an.
»Nein.« Mit zwei langen Schritten war Vertumnus neben Sturm und faßte ihn fest an die Schulter.
Sturm keuchte. Der Schmerz war vorbei… die Wunde…
»Nein«, wiederholte Vertumnus. »Es ist kein Trugbild. Denn ich war der andere Ritter, Sturm Feuerklinge. Ich bin durch den Schnee zu jenem entfernten Paß geritten, wo den Banditen Schriftrolle und Lohn ausgehändigt wurden. Zusammen mit den Fußsoldaten, die uns begleiteten. Und als Agion fiel und das Schloß verloren war, war ich es, den Bonifaz beschuldigte.«
Erschüttert ließ Sturm sein Schwert fallen. Blind vor Tränen und Wut tastete er auf dem Boden nach der Klinge, während der Herr der Wildnis ungerührt fortfuhr.
»Ich bin ihm in die Berge und das Schneetreiben gefolgt, weil mich meine Liebe zum Maßstab dazu trieb und weil ich entzückt war über die Ehre, Fürst Bonifaz auf seinen eigenen Wunsch begleiten zu dürfen. Liebe und Entzücken verwandelten sich in Haß und Wut, als ich seine Verschwörung und seinen Verrat sah.
Aber was konnte ich sagen? Ich bin nach Schloß Feuerklinge zurückgekehrt, wo Bonifaz, der wie ein alter Fuchs im Schnee in unseren Spuren zurückritt, Kodex und Maßstab und die ganze verdammte solamnische Maschinerie benutzte, um mir seinen Verrat anzulasten. Als ich die Ritter verließ und in den tiefen Schnee hinauslief, wußte ich nichts von Hollis und der Veränderung, die mich erwartete. Ich dachte, ich würde in den Tod ziehen und langsam in Eis und Schlaf versinken, doch einen solchen Tod zog ich dem des Ordens vor – daß mein Blut und meine Freude von den Händen dieser blutarmen, freudlosen Gefährten vergossen würde.
Aber ich habe dich nicht den ganzen Weg hierhergeholt, damit du weiteres Blut vergießt. Solamnische Rache ist etwas scheußlich Verzwicktes, heiß und giftig wie die Paarung von Spinnen. Und ich sage auch nein zum Eid und zum Maßstab und zu dem Stolz, den dein Orden aus ihnen zieht. Denn der Maßstab übt vielleicht geregelt Rache, aber dennoch ist es Rache, dennoch ist sie verzwickt und böse.«
»Aber… was dann?« Sturm schrie beinahe.
Vertumnus hockte sich neben den Jungen.
»Bleib im Finsterwald«, sagte er. »Vergib Bonifaz… dem Orden… deinem Vater… ihnen allen. Vergib ihnen und laß sie hinter dir zurück. Vergib ihnen.«
»Aber der Eid und der Maßstab!« beharrte Sturm. »Tausend Jahre Gesetz – «
»Haben nichts Gutes gebracht!« unterbrach ihn Vertumnus heftig. »Aus den Kronenhütern und den Jeoffreys haben sie Unmenschen gemacht, sie haben Tausende von Namenlosen abgeschlachtet, haben dich den Vater gekostet und dich hoffnungslos zu Tode verwundet, wenn nicht…«
Voller Angst und Zorn kroch der Junge von dem Mann vor ihm davon, wobei er mit der Schulter gegen die Brunnensteine stieß. Schließlich erhob er sich auf die Beine. Seine Augen waren vor trostlosem, wütendem Schmerz zusammengekniffen, und die Knöchel seiner Finger waren weiß, so fest umklammerte die Hand den Schwertgriff.
Blasphemie. Das dulde ich nicht. Bei Huma und Vinas Solamnus und Paladin persönlich, das dulde ich nicht!
»Mein Vater ist jetzt der Orden!« rief Sturm mit dünner, bedrängter Stimme im stillen Hof aus. »Meine Familie ist der Orden! Geht zurück in Euren Wald und laßt mich allein!«
Als er erwachte, lag er mit der Schwertscheide in den Händen auf dem Amboß. Die Schmiede und mit ihr der Stall waren verschwunden. Luin graste einsam und friedlich in einem überwucherten Ziergarten, und von Fürst Vertumnus war keine Spur zu sehen.
Die Musik hatte aufgehört. Sturm lief erst nach rechts, dann nach links, dann um den Amboß herum und blickte in jede Richtung, weil er hoffte, das Lied würde wieder einsetzen und ihn zu Vertumnus führen. Doch das ganze Dorf schwieg.
Luin hob den Kopf und wieherte, doch Sturm hörte nichts.
Er blickte nach oben, wo der Wind leise durch die Bäume strich. Die Blätter raschelten unhörbar, und über seinem Kopf zog eine Schar Gänse rasch auf ihrer Wanderung in kühlere Regionen nach Süden, doch ihre Flügelschläge und Schreie waren nicht zu vernehmen.
»Was?« fragte Sturm laut, weil er sich nach einem Geräusch sehnte, und wenn es nur seine eigene Stimme war. Er rief noch einmal und dann ein drittes Mal.
Es war das einzige, was zu hören war, und auch das verlor sich in der tiefen, ablehnenden Stille um ihn her. Dann kam aus der Stille der dumpfe regelmäßige Schlag einer fernen Trommel. Sturm gab sich Mühe, hinzuhorchen und dem Geräusch nachzugehen, aber wohin er sich auch wandte, es war immer gleich schwach, ob bei Luin, am Amboß oder drüben in der Mitte des Dorfs, es klang immer gleich gedämpft.
Erst auf dem Dorfplatz erkannte er, daß es das Pochen seines eigenen Herzens war. Er blieb stehen und zog sein Schwert. In der Stille um sich herum hörte er die Blätter rauschen und einen hohen Wind durch die Zweige seufzen…
Und mit einem Mal wußte er – unabhängig von allen Regeln und Vorschriften –, daß er den grünen Mann nie wiedersehen würde.
Vertumnus lehnte sich in der niedrigen Gabelung des Vallenholzbaums zurück und starrte gebannt in die umwölkte Oberfläche des Waldteichs unter sich. Am Fuß des Baums saß Lady Hollis, daneben ihr Sohn, Jack Derry.
Wieland, der Schmied, hockte mit einem Dutzend weiterer Dorfbewohner ein Stückchen weiter. Seine fleischigen Hände waren mit einem komplizierten Geflecht aus Kupfer- und Silberdraht beschäftigt. Was er da machte, war noch nicht ersichtlich, nicht einmal für die Klügsten im Kreis, aber alle sahen eifrig zu und warteten darauf, was seine Hände Erstaunliches aus dem Metall formen würden.
Sie waren alle von der Druidin hergerufen worden, und während der Morgen den hellen Mittagsstunden wich, warteten sie begierig auf Neuigkeiten vom Herrn der Wildnis. Unter den Dörflern gingen Gerüchte um: Ein Krieg mit Solamnia bahnte sich an, der Herr der Wildnis wäre von einer Bande Silvanesti-Elfen belagert worden, er allein sei in den Norden gezogen, um Rache für ein unbegreifliches Unrecht zu nehmen. Schließlich hatten sie die Musik gehört, die ein kräftiger Wind aus dem Dorf herantrug, und gewußt, daß er in der Nähe war und sich ihnen bald anschließen würde.
Am späten Vormittag hatte die Musik aufgehört. Hauptmann Duir, der am Waldrand Wache stand, hatte als erster gesehen, wie Vertumnus niedergeschlagen und langsam näher kam. Die Blätter in seinen Kleidern und Haaren waren gelb und welk.
Vertumnus hatte kein Wort gesagt, sondern nur abwesend genickt, als Jack Derry ihm das Elfenmädchen Mara vorstellte. Er hatte die tröstenden Worte von Lady Hollis und das Gestichel der Dryaden ignoriert und war auf den Ast geklettert, auf dem er jetzt noch immer in tiefe Meditation versunken saß.
Nach einer Weile hatten die Dorfbewohner den Herrn der Wildnis vergessen und sich wieder ihrer Arbeit zugewandt, dem Sammeln von Schwarzwurzeln und Fingerhut, der Jagd und dem Fischen in dem breiten Bach, der durch den Wald verlief. Mara beobachtete Vertumnus weiterhin und wunderte sich über seine Geistesabwesenheit und sein offensichtliches Unglück. Schließlich fragte sie Lady Hollis, ob er sich mit Sturm getroffen hatte.
Die Druidin nickte, konzentrierte sich aber auf die Zubereitung eines Schafgarbentees, der – wie Mara aus ihren Dienstjahren in Silvanost wußte – Trübsinn heilen konnte. »Doch, das hat er«, erklärte Lady Hollis.
»Dann schließe ich aus dem Verhalten des Herrn der Wildnis«, sagte Mara, »daß der Junge ihm ein Schnippchen geschlagen hat.«
Hollis sah nach oben, wo der Herr der Wildnis mit Besorgnis in den Augen schweigend und reglos dasaß.
»Ich schließe aus seinem Verhalten«, erwiderte die Druidin, »daß der Junge sich selbst ein Schnippchen geschlagen hat.«
Erst Stunden später begann Vertumnus zu reden. Inzwischen war es bereits später Nachmittag, und die Lerchen waren schon zur Ruhe gekommen. Rund um die Menschen tollten zänkische Eichhörnchen umher, und man hörte die hohen, gleitenden Geräusche der braunen Tauben, die in den Süden zurückkehrten, um in den Zweigen von Ulme und Ahorn zu nisten.
»Er ist gegangen«, gab Vertumnus bekannt. Sofort blickten zweihundert Augenpaare zu dem Ast des Vallenholzbaums, auf dem er saß, wo die gelben Blätter traurig aus seinem Bart und seiner Tunika fielen. »Zurück zum Vingaard und zweifellos auch zum Turm und zum Rest seines großmäuligen Ordens.«
»Wo du vielleicht selbst hingezogen wärst«, stellte Hollis fest, »ohne das Glück jener Winternacht.«
Vertumnus lächelte sie an. »Und das Entgegenkommen der Truppen, die Fürst Angriffs Schloß belagerten.«
Lächelnd reichte Hollis ihrem blätterbedeckten Mann eine dampfende Tasse Schafgarbentee.
Voller Liebe sah Vertumnus auf Jack Derry hinunter. Er staunte immer noch, wie schnell der Sprößling von ihm und Lady Hollis größer wurde. Schließlich war er erst fünf und bereits ausgewachsen – mit dem Arm eines Kämpfers, dem Auge eines Waldläufers und…
Und Interesse an einer gewissen, seit kurzem vereinsamten Elfenjungfrau.
Vertumnus lächelte, runzelte dann jedoch die Stirn. Es gab noch andere Dinge, um die er sich zu kümmern hatte, und manche davon eilten.
»Soweit ich das sehe«, meinte der Herr der Wildnis, »ist Mara, die Elfe, eine geübte Flötenspielerin und kennt ein paar von den alten Weisen.«
Mara wurde rot, doch Hollis legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
»Ich – ich habe allerdings ein paar Melodien gelernt, Herr der Wildnis«, sagte sie, ohne ihre Augen vom laubbedeckten Waldboden zu lösen.
»Schön und gut«, sagte Vertumnus. »Und soweit ich das sehe, haben Liebe und Einfallsreichtum zu ihnen geführt.«
»Ich wurde schlimm getäuscht, als ich sie lernte«, sagte Mara bitter und hob ihr Gesicht zu dem grünen Mann.
»Getäuscht vielleicht«, stimmte er zu, »aber nicht arg. Liebe und Einfallsreichtum überdauern unsere schönsten Träume.«
Mara runzelte die Stirn. Anscheinend war sie aus der Welt der unverständlichen solamnischen Regeln in diese Welt aus Grün und Schatten und Gleichnis geraten. Sie hatte keine Ahnung, was als nächstes passieren würde.
»Was wollt Ihr von mir? Von meinem Spiel?« fragte sie.
»Begleitung«, erwiderte Vertumnus, und aus den Zweigen eines nahe stehenden Ahorns kam ein böses, anschwellendes Zischen. Die Dryaden steckten ihre Köpfe zwischen den Blättern hervor, und ihre kleinen Augen glitzerten vor Zorn.
»Nicht genug«, sagte Diona, »daß du dich mit dieser Druidenhexe einläßt!«
»Jetzt nimmst du auch noch Elfen auf!« beschwerte sich Evanthe. »Zu welchem dunklen Zweck, wissen nur die Götter!«
»Fort mit euch beiden!« lachte Vertumnus, der die Teetasse nach ihnen warf. Er sprang aus dem Vallenholzbaum und landete leichtfüßig auf dem Boden, wobei er einen Taubenschwarm aufschreckte. »Sonst schließe ich euch wieder in die Bäume ein, wo ich euch gefunden habe!«
»Wir sind nicht so leicht zu erschrecken!« spie Evanthe, von der die lauwarmen Reste des Schafgarbentees heruntertropften. »Du hast gezeigt, wie weich du bist, als du den Solamnier töten wolltest und ihn nicht einmal… nicht einmal… bezaubert hast!«
»Aber von mir kennt ihr keine Weichheit«, erklärte Hollis mit klaren Worten. Sie verschränkte die Arme und lachte die Dryaden gefährlich an. »Ich habe Dörfer geplündert und Schlösser zerstört. Und ich kann ganz ausgezeichnet bezaubern.«
Die Dryaden schrien auf, als aus dem Ahornzweig, auf dem sie saßen, ein dicker, süßer Saft herausbrach. Sirupverschmiert ergriffen sie die Flucht und sprangen von Ast zu Ast, wobei Blätter und Dreck an ihren klebrigen Kleidern hängenblieben, bis sie in den Tiefen des Waldes verschwunden waren. Ein Sturm von Gelächter begleitete ihre Flucht.
»Hätte ich nur die Magie, die der junge Sturm brauchte«, sagte Hollis etwas ernster.
»Er konnte wählen, ob du den Dorn in Musik verwandelst, so daß er hinterher selbst verwandelt würde, oder nicht«, sagte Vertumnus. »Statt dessen wollte er, daß du ihn entfernst, damit er bleibt, wie er ist. Er hat das Schwert und den Orden gewählt.«
»Aber die Wunde wird ihm immer bleiben«, beharrte Ragnell. »Auch wenn er sich irgendwann nicht mehr daran erinnern wird, die Wunde wird dennoch bleiben.«
»Schließlich und endlich«, sagte Vertumnus, der seine Flöte herauszog, »konnte und kann der Junge wählen. Aber da ist noch eine Sache übrig, und die fordert meine Hand, meine Zauberkraft…«
Vertumnus sah grimmig aus, und Jack Derry lachte über die dramatische Mimik seines Vaters.
»Meine Liebe und meinen Einfallsreichtum«, schloß der grüne Mann leise, dessen Augen auf Mara ruhten. »Denn an der Vingaardfurt ist ein Hinterhalt vorbereitet. Ich muß den Jungen in dieser alten Blutfehde beschützen, damit nicht die Taten seines Vaters auf den Schultern des Sohnes lasten. Und dafür brauche ich die Begleitung einer zweiten Flöte, einer zweiten Melodie.«
Mara verbeugte sich nervös. »Es wäre mir eine Ehre, Euch zu helfen, Sir. Und eine Ehre«, fügte sie rasch hinzu, »Sturm Feuerklinge zu helfen.«
Vertumnus lächelte glücklich. Das war die bestmögliche Antwort. Und er erklärte der Elfe kurz das seltsame Duett. Sie sollte ein altes Winterlied der Qualinesti spielen und die stille Musik der zehnten Weise einflechten, der von Mather – eine nachdenkliche Meditationsmusik, denn nur ein entschlossener, zielstrebiger Geist konnte hervorbringen, was der Herr der Wildnis sich ausgedacht hatte.
Er nämlich würde ein Lied von der Eismauer spielen, das die wilden Thanoi sangen, und dahinter würde er die berauschenden, schwierigen Griffe der vierzehnten und höchsten Weise setzen – der Weise des Paladins und der Veränderungen. Und wenn dann vier Melodien von den beiden Flöten und den beiden Spielern aufsteigen würden…
Dann würde sich etwas ändern, und der Winter würde in die Solamnische Ebene zurückkehren.
Vertumnus lächelte. Er konnte warten.