23 Immer am ersten Frühlingstag

Vertumnus setzte seine Flöte ab und seufzte. Unten saßen die vom Lied gebannten Dorfbewohner mit erhobenen Gesichtern. Sie hatten nicht gesehen, was ihm der Teich auf der Lichtung gezeigt hatte – das Spiegelbild von Sturms Überquerung des Vingaard und den Kampf, der am Westufer stattgefunden hatte. Jack räusperte sich.

»Der Junge hat nicht allzuviel von deinem hohen Freund geerbt«, stellte er mit einem Blick auf den Herrn der Wildnis spöttisch fest.

»Du hättest viel von ihm lernen können, Jack«, mahnte Vertumnus. »Der größte Teil der Welt da draußen ist wie er.«

»Wir wünschten, die Echse hätte ihn gefressen!« zischte Diona.

»Tun wir nicht!« schimpfte Evanthe, die ihre Schwester an den Haaren zog, bis die kleinere Dryade vor Wut und Schmerz quiekte. Wie Eichhörnchen rangen sie auf einem hohen Ast miteinander, hörten jedoch plötzlich auf, als Evanthe gefährlich von einem Zweig baumelte.

»Aber warum, Fürst Vertumnus?« fragten sie wie eine. »Warum hat das Echsengift versagt?«

»Vom Schnee unserer Musik abgewaschen«, erklärte Vertumnus. »Und ihr beiden hört auf zu balgen!« Er zeigte mit der Flöte auf die Dryaden. Augenblicklich schossen rundherum Zweige aus dem Vallenholzbaum, die sie in einen Holzkäfig einsperrten.

Der grüne Mann blickte in den Teich, in dem ziellos Blätter trieben. Das Wasser kräuselte sich und war leicht aufgewühlt. Am Waldrand zeigten ferne Vogelstimmen die Rückkehr des Frühlings an, und durch die Zweige ging ein warmer Westwind.

»Er ist schon irgendwie edel«, stellte Jack nach einer langen Pause fest, während der die Dorfbewohner sich wieder ihren verschiedenen Tätigkeiten auf der Lichtung zuwendeten, weil sie meinten, daß Musik und Drama vorüber waren und das Folgende nur noch Vater und Sohn anging. »Ehrenhaft und mutig und nicht allzu langweilig. Sein Schwert und seine Ehre zeichnen ihn aus.«

»Mehr will er nicht wissen«, meinte Vertumnus. »Und der Mangel an Wissen kann ihn leicht das Leben kosten.« Als er die Flöte zur Seite legte, füllte sich die Lichtung wieder mit Musik.

Rasch wandten sich die Leute zwischen den Bäumen der Quelle der Musik zu. Auf der anderen Seite des Teichs stand das Elfenmädchen Mara in einem weißen Kleid aus Gaze und Blättern. Ein Stechpalmenkranz saß in den Flechten ihrer dunklen Haare, und ihre Augen waren mit sanften Beerenfarben geschminkt.

Hollis stand hinter ihr und freute sich über ihr Werk und darüber, wie Jack Derry Mund und Augen aufsperrte, als er das Mädchen sah.

Mara hielt die Flöte an den Lippen und spielte weiter die getragene Hymne an Branchala, für die nur die Elfen Worte haben. Die Menschen aus dem Dorf hörten auf zu arbeiten, denn sie merkten, daß etwas Wunderbares geschah, etwas, das sie nicht verstanden. Umringt von Kindern drehte sich Wieland, der Schmied, zu dem Elfenmädchen um und zog ehrfürchtig seinen Hut.

»Gans!« zischte Diona wütend, aber ein vernichtender Blick von Vertumnus brachte sie zum Schweigen. Jack stand auf und kletterte hingerissen den Baum hinunter, ohne das hinreißende Schauspiel von Mädchen und Musik aus den Augen zu lassen.

Vertumnus drehte sich um, um seinen Sohn und das Mädchen mit diesem Augenblick allein zu lassen.

»Das Erste im Frühling ist immer die Begegnung«, flüsterte er wissend.


Rund um Sturm war die Nacht hereingebrochen, und die Sterne nahmen ihre Winterplätze ein. Zum ersten Mal fiel ihm auf, daß vielleicht wirklich die Tage zurückgestellt waren, daß das Jahr wieder in Eis versunken war, um die Ankunft des Frühlings zu erwarten.

Einen Augenblick lang kehrten seine Gedanken in den Südlichen Finsterwald zurück. Wenn der Frühling verschoben war, war vielleicht noch Zeit, sein Pferd zu wenden, den Weg zurückzureiten…

Aber mittlerweile war er mitten in Solamnia, nur noch knappe drei Stunden vom Turm des Oberklerikers entfernt. Es war seine Wahl gewesen zurückzukehren, und genau das würde er jetzt tun, unabhängig von jedem Urteil und von der Bedrohung durch Fürst Bonifaz. Es war ehrenhaft, diese Sache durchzustehen und um der Gerechtigkeit willen das Mißfallen der Fürsten Gunthar, Alfred und Stephan in Kauf zu nehmen. Auch um der Rache willen.

Sicher würden die Ritter ein offenes Ohr dafür haben, Fürst Bonifaz’ Untaten neu aufzurollen. Denn Gerechtigkeit war das Herz des Maßstabs und die Seele der Rose.

Er ritt weiter in die nächtlichen Berge, bis hoch im Westen wie ein letztes Sternbild die schwachen Lichter der Posten auf den Zinnen des Rittersporn zu erkennen waren.


Sie zogen ihn um, gaben ihm zu essen und steckten ihn ins Bett. Am frühen Morgen hatte der alte Reza in den Quartieren der Ritter Dienst, und er war es, der sich um Sturm kümmerte, ihm Brot und Käse auf den Tisch stellte und immer wieder Wasser in seinen Kelch nachschenkte, während er den wenig interessierten Sturm unablässig mit dem neuesten Klatsch überschüttete.

»Und die Jeoffreys haben sich wieder mit den Merkenins überworfen, junger Herr, wenn auch nicht so schlimm wie damals im Sommer siebenundzwanzig. Es ging damit los, daß der kleine Hieronymus Jeoffrey nach irgendeiner Jagd im Hartwald auf Alastor Merkenin losging. Hieronymus kam mit einem blauen Auge und etwas lädiert davon, woraufhin Darien Jeoffrey beschloß, daß Sir Alastor einen… hm, anderen Schmuck verdient hat. Also gehen Darien und drei jüngere Jeoffreys in einem dunklen Gang über dem Rittersporn auf Alastor los, und der hat anschließend nicht nur ein blaues Auge, sondern obendrein noch die linke Hand gebrochen. Worauf Fürst Alfred Darien am nächsten Morgen an eine Schießscharte drängt und die freie Hand des Jungen etwas zu fest drückt, wenn Ihr versteht…«

Sturm nickte, Reza fuhr fröhlich fort, und weil die Geschichte so aufregend war, vergaß er seine Stellung und setzte sich zu dem jungen Mann.

»Aber bei dieser Sache, Meister Sturm, trug Sir Darien zusätzlich noch eine Rippenquetschung davon, so daß Fürst Adamant losrennt und herumposaunt, daß Fürst Alfred noch keine hat, aber dringend eine braucht. Und so standen Fürst Alfred und Fürst Adamant kurz vor einem Duell und hätten bestimmt noch zu Schwert und Lanze gegriffen, wenn Fürst Stephan nicht dazwischengegangen wäre und die Streithähne besänftigt hätte…«

Sturm nickte und kaute weiter, denn er hatte den Mund voll Brot. Im Turm war alles beim alten.

»Und Fürst Bonifaz sagt natürlich wie immer«, schwatzte Reza unbeschwert weiter, »daß sie es trotzdem mit dem Schwert beilegen sollen, obwohl sie – ganz unter uns, junger Herr – es doch leicht beilegen könnten, wenn nur einer von ihnen wüßte, wie man die Vergangenheit ruhen läßt, und sich dem zuwendet, was die eigentliche Aufgabe der Ritter ist. Jedenfalls sagt Fürst Bonifaz, sie könnten zwar Turnierwaffen nehmen, stumpfe Schwerter oder Weidenlanzen, aber der Maßstab würde sagen, und so und so…«

Bei der Erwähnung des alten Freundes seines Vaters war Sturm sofort hellwach. Langsam setzte er den Kelch ab und starrte den alten Diener an. Er gab sich größte Mühe, ruhig und nur mäßig interessiert zu erscheinen.

»Fürst Bonifaz, sagst du? Dann ist er… hier im Turm?«

Reza nickte. »Nehmt noch etwas Käse, Meister Sturm«, bot er an, wobei er dem Jungen den Teller hinschob. »Ja, allerdings, Fürst Bonifaz ist hier.«

»Dann muß ich ihn begrüßen – aus alter Freundschaft«, erwiderte Sturm (etwas zu schnell, wie er fürchtete). »Ja. Ich werde ihn aufsuchen und ihn begrüßen.«

Er lächelte dem alten Diener zu und nahm noch eine Ecke Käse. In Gedanken ging er rasch verschiedene Strategien durch.

»Er erwartet sicher, daß Ihr gleich zu ihm geht«, drängte Reza. »Ihr wißt doch, wie er mit dem Maßstab ist.«

»Allerdings«, sagte Sturm, der dankbar war, daß alte Bedienstete sich so gern einmischten. »Allerdings, Reza, und angesichts der späten Stunde und meiner Müdigkeit wäre ich dir sehr verbunden, wenn du nichts von meiner Ankunft erwähnst, bis ich ihm… angemessen begegnen kann.«

Reza nickte, verbeugte sich und zog sich rückwärts zurück. Sturm aß das Brot auf. Der alte Mann war vertrauenswürdig. Dann stand er leise auf, gähnte, nahm die Kerze vom Tisch und schlich über eine Hintertreppe zu seiner Kammer hinunter. Er war todmüde und schon halb im Traum, als er sein Zimmer erreichte, so daß er weder die späte Stunde noch das Vogelgezwitscher draußen noch das leise Scharren auf der Treppe hinter sich wahrnahm.

Als Sturm hinter sich die Tür schloß, tauchte auf dem Treppenabsatz ein schwaches Licht auf. Verstohlen blickte Derek Kronenhüter um die Ecke, lächelte und stieg dann zu den Gemächern seines Onkels hoch.

Sturm gab seine Ankunft am nächsten Morgen bekannt.

Im Gang hielt er einen Pagen am Kragen fest und ließ den Jungen zu Fürst Alfred Merkenin rennen, um ihm zu sagen, daß Meister Sturm Blitzklinge aus dem Südosten zurück sei und sich geehrt fühlen würde, wenn er vor dem Hoherat von seiner Reise berichten dürfte.

Als der Page mittags zurückkam, um ihn in den Ratssaal des Rittersporn zu begleiten, folgte Sturm dem Kind mit makelloser, polierter Rüstung und blitzendem, bloßem Schwert in der Hand. Einen verrückten Moment lang hatte er überlegt, ob er die Waffe in die Scheide stecken sollte, die er von Fürst Vertumnus bekommen hatte.

Er hatte sich dagegen entschieden. Sie war eine strahlende Erinnerung an seine Niederlage.

Sturm wußte, daß sich der Hoherat aus den Fürsten Gunthar, Alfred und Stephan zusammensetzte. Da der Rat jeden zurückkehrenden Ritter allein begrüßte, würde Bonifaz nicht dabeisein. Für das, was Sturm zu sagen hatte, würde seine Abwesenheit höchst willkommen sein.


Der Ratssaal war nichts anderes als der große Saal, in dem das Julbankett stattgefunden hatte. Ohne den Schmuck wirkte er dunkel und zweckmäßig, eher ein Arbeitszimmer als ein Ort von Zeremonien. Hier war nicht Eleganz, sondern Tüchtigkeit zu Hause.

Seine erste Überraschung war eine böse. Alfred war da und Fürst Gunthar, doch anstelle von Fürst Stephan Peres saß Bonifaz Kronenhüter von Nebelhafen auf dem dritten Ratssitz. Als Sturm den Raum betrat, lehnte sich Bonifaz nach vorn. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Augen waren so kalt und konzentriert wie die eines Bogenschützen vor dem Ziel.

Sturm war bei den drei vorgeschriebenen Verbeugungen abgelenkt, und bei der dritten der sechs förmlichen Anreden stolperte er über das Wort »untadelig« und wurde knallrot.

So ein Ausrutscher entsprach nicht dem Maßstab. Er hatte zu lange kein Ritual mehr befolgt, und außerdem war Bonifaz dabei…

»Du nimmst dir einiges heraus, Sturm Feuerklinge«, stellte Alfred fest, »daß du um eine Audienz vor diesem Rat bittest. Schließlich gehörst du noch nicht dem Orden an.«

»Wohl wahr, Fürst Alfred«, gab Sturm zu. Es fiel ihm schwer, Bonifaz nicht anzusehen. »Doch als mich der Herr der Wildnis in der Julnacht forderte und ich beschloß, die Forderung anzunehmen, geschah das auf das Drängen des Ordens und mit seinem Segen. Ich hielt es für… angebracht…, daß ich dann auch seinem Urteil unterliege.«

»Was du für ›angebracht‹ hältst, Sturm Feuerklinge, entspricht nicht unbedingt dem Maßstab«, bemerkte Bonifaz mit trockener, kalter Stimme. Er lehnte sich zurück und faltete die Hände elegant vor der Brust. »Aber wir vom Rat würden gern hören, was auf deiner Reise in den Südlichen Finsterwald geschehen ist. Und angesichts der ungewöhnlichen Umstände in diesem Fall wird der Rat deine Aussage… dulden.«

»Wofür ich überaus dankbar bin«, entgegnete Sturm, der sich bei dem feinen Reigen von Ehrerbietung und Höflichkeit wieder gefangen hatte. »Und ich möchte Fürst Bonifaz zu seinem Platz im Hoherat beglückwünschen und dabei die Hoffnung ausdrücken, daß seine Ernennung unter… glücklichen Umständen stattgefunden hat.«

Es entstand eine lange Pause, in der die drei Ratsmitglieder einander verunsichert ansahen.

»Fürst Stephan ist anderswo«, antwortete Alfred. »Setz dich.«

Sturm blickte verwirrt von einem zum anderen, denn er erwartete weitere Erklärungen von seinem alten Freund. Doch Fürst Alfred vermied es, ihn anzusehen, indem er sich zu Bonifaz hinüberbeugte, um diesem etwas zuzuflüstern. Bonifaz nickte nachdrücklich. Gunthar war der einzige aus dem Rat, der den Jungen offen ansah. Sein kurzes, fast unmerkliches Zwinkern war beruhigend, auch wenn es nichts verriet.

Sturm räusperte sich. »Ich nehme an«, begann er, »daß ich zunächst von Vertumnus berichten soll.«

Und er erzählte alles oder fast alles, wobei er der Wahrhaftigkeit und dem Urteilsvermögen von wenigstens zweien der Ratsmitglieder vertraute. Er erzählte, wie er durch das Spukschloß geirrt war, wie er durch Banditen und feindliche Dorfbewohner in einen Wald voller Illusionen vorgedrungen war und wie er dabei von Märchenwesen und geheimnisvollen, trügerischen Wegen geführt worden war.

Er erzählte seine Geschichte, ohne die verschiedenen Fallen und Hinterhalte auf seiner Reise zum und vom Finsterwald besonders zu erwähnen, und ließ auch Jack Derry und Mara aus, obwohl er nicht genau wußte, warum. Drei Augenpaare hingen an ihm, und als er fertig war, senkte sich ein unangenehmes Schweigen über den Ratssaal.

»Nun«, fing Fürst Bonifaz nach einem langen Seitenblick auf Fürst Alfred und Fürst Gunthar an, »ich nehme an, in jedem Bericht über ein Versagen liegt eine gewisse Ehrlichkeit.«

»Aus diesem Bericht geht mehr als das hervor«, schimpfte Fürst Gunthar, der sich ärgerlich zu Bonifaz umdrehte. »Und wenn Fürst Bonifaz… erfahrener in Ratssachen wäre, würde er den Erfolg und den hohen Wert der Reise dieses Jungen erkennen.«

»Vielleicht könnte Fürst Gunthar mich aufklären«, erwiderte Bonifaz ironisch, sagte es jedoch in Sturms Richtung. »Der Junge wurde in den Südlichen Finsterwald geschickt, um am ersten Frühlingstag dem Herrn der Wildnis zu begegnen und eine rätselhafte Forderung zu erfüllen. Sturm hat selbst gestanden, daß er nur die erste seiner Aufgaben vollbracht hat – den Südlichen Finsterwald zu erreichen. Ganz davon abgesehen, daß er genausogut Pilze gesammelt oder… sich mit Feen vergnügt haben könnte.«

Er lächelte grausam und zog sein Messer, um seine Fingernägel zu säubern.

Sturm verschlug es die Sprache. Mit der gleichen Tollkühnheit, die am Ufer des Vingaard sein Schwert gegen den Drakonier geführt hatte, ließ er den Maßstab Maßstab sein und ging auf seinen Gegenspieler los.

»Pilze und Feen sind weniger… an den Haaren herbeigezogen als das, was ich wirklich gesehen habe, meine Herren. Denn ich sah einen vom Orden… einen bekannten Ritter des Schwerts… in dunkler Verschwörung gegen mich – aus welchem Grund auch immer!«

Die Halle war bedrückend still. Vor der Tür hörte man einen Diener fegen, und irgendwo unterm Dach des Turms heulte überrascht und unangebracht eine Eule. Die solamnischen Fürsten zeigten keine Regung, und Sturm dachte an Kastell di Caela, an die marmornen Zeugnisse seiner Familie und deren Spleens, als er die Geschichte noch einmal erzählte.

Diesmal ließ er nichts aus. Jack Derry mit all seinem instinktiven Wissen tauchte ebenso auf wie das Elfenmädchen Mara mit seiner Reizbarkeit, seiner Musik und der verrückten Liebe zu einer feigen Spinne. Zum ersten Mal erwähnte Sturm die Druidin Ragnell, an deren Namen sich die Ratsmitglieder sichtlich erinnerten.

Doch die ganze Zeit tauchte ein Name immer wieder auf, von dem Moment, wo sich die Tür von Kastell di Caela hinter ihm geschlossen hatte, bis hin zu den letzten Worten von Tivok, dem Drakonier-Assassinen.

Bonifaz. »Tückjäger«. Fürst Bonifaz von Nebelhafen, solamnischer Ritter des Schwerts.

Verschwörer, Verräter am Maßstab.

Es war, als stünde die Welt still. Nach einer Minute des Schweigens, in der kein Wort, kein Ton, nicht das geringste Geräusch zu hören war, räusperte sich Fürst Alfred.

»Das«, fing er an, »sind überaus bedenkliche Anklagen, Meister Sturm Feuerklinge.«

»Anklagen«, fuhr Fürst Bonifaz heftig dazwischen, »für die ich Genugtuung verlangen werde!«

Zornig stieß sich der Schwertkämpfer vom Tisch ab, wobei er seinen Stuhl umwarf und Papiere und ledergebundene Bände des Maßstabs durcheinanderbrachte. Er zog sein Schwert und stellte sich mitten in den Raum, wo er sich umdrehte und alle ansah – seinen Beschuldiger und die Ratsmitglieder, die die Geschichte gehört hatten.

»Ich glaube, Fürst Alfred«, meinte Bonifaz mit vor Zorn bebender Stimme, »es steht im sechzehnten Band des kodifizierten Maßstabs, Seite sechsundzwanzig, Artikel drei, daß der Orden des Schwerts, der seinen Maßstab aus mutigen und heldenhaften Taten ableitet, alle seine Mitglieder verpflichtet, keinen Kampf für die Ehre der Ritterschaft auszuschlagen. Ich glaube, Fürst Alfred, daß hier die Ehre der Ritterschaft angezweifelt wurde.«

Gunthar stand auf und ging ruhig zu Bonifaz’ leerem Stuhl. Er hob drei von den ledergebundenen Büchern auf, die vor dem Tisch auf dem Boden lagen, und fuhr jeweils mit dem Daumen an den Seiten lang. Er lächelte trocken.

»Sturm Feuerklinge zweifelt nicht den Orden an«, stellte Gunthar richtig, dessen Augen nicht vom Hofrichter wichen. »Sondern nur einen einzelnen Ritter – Fürst Bonifaz von Nebelhafen.«

»Dann ist ein Gottesurteil angemessen«, schimpfte Bonifaz, der sich abrupt an Fürst Alfred wandte. »Fürst Alfred sollte doch seit seiner jüngsten… Kontroverse mit Fürst Adamant Jeoffrey wissen, daß dies in Ehrensachen die vorgeschriebene Regel des Maßstabs ist.«

»Aber dennoch konnten wir das durch Vernunft und guten Willen beilegen«, beharrte Gunthar.

»Durch die Schmeicheleien eines alten Mannes, der in den Wald gelaufen ist und den Orden verlassen hat!« schnarrte Bonifaz. Alle sahen den großen Schwertkämpfer irritiert an, der seinerseits an die Dachsparren blickte, wo Tauben nisteten und gurrten. Er schloß die Augen, wie um sich zu sammeln.

»Wenn Ihr Seite fünfundvierzig des bereits erwähnten sechzehnten Band anseht«, sagte er mit gedämpfter, fast raubtierhafter Stimme, »dann steht da im ersten Artikel klar und deutlich, daß bei persönlichen Streitigkeiten zwischen Ritter und Ritter das Gottesurteil zu bevorzugen ist.«

»Dreht es so oder so, Bonifaz!« rief Gunthar verärgert aus. »Muß Sturm als Ritter oder als Junge ohne Orden gelten?«

Fürst Alfred blätterte in dem vor ihm liegenden Band, doch seine Augen musterten die Mahagoniwände, denn er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Als er schließlich sprach, wurden selbst die Tauben still und hörten zu.

»Bonifaz hat recht«, erklärte er mit trockener, zitternder Stimme. »Ein Gottesurteil ist die Lösung, selbst wenn nur einer der Gegner darauf besteht. Sturm bleibt nur die Wahl zwischen scharfen oder stumpfen Waffen.«

Sturm schluckte bitter. Ihm war unbehaglich zumute.

»Egal, wie es ausgeht«, gab Fürst Alfred bekannt, »weder Anklage noch Urteil werden je diesen Raum verlassen. Und bis diese Anklage entschieden ist, wird auch keiner von uns nach Eid und Maßstab und unseren heiligen Traditionen ein Urteil fällen.«

»Turnierwaffen«, sagte Sturm leise.

Fürst Bonifaz lächelte. »Eins zu null für mich«, erklärte er.

Fürst Gunthar ging zu einer Truhe in der hinteren Ecke des Raums, aus der er die gepolsterten Weidenschwerter entnahm, mit denen die Sache entschieden werden würde. »Du hast einen grünen Jungen im Ring besiegt«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen zu Bonifaz.

Der Schwertritter wurde steif.

»Ich lehre den Jungen, welche Ansprüche der Maßstab stellt, Gunthar Uth Wistan«, gab Bonifaz zurück. »Wie es sein Vater gewollt hätte, wenn er noch am Leben wäre.«

»Sein Vater hätte mehr gewollt«, murmelte Fürst Gunthar. »Und er hätte es aus dir herausgeprügelt.«

»Beim Maßstab, Fürst Gunthar«, sagte Bonifaz mit frohlockender, spöttischer Stimme. »Jetzt und immer beim Maßstab, und mögen die Schwerter fallen, wie Schwerter es tun.«

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