Die Wolken hingen tief über Sturmwind, berührten fast die Spitzen der vielen Türme. Ein frischer Wind bauschte die Umhänge der Wachen auf, die sich in ihren Unterständen außerhalb der Burg bibbernd zusammenkauerten.
Drinnen waren ihr Kommandant Turalyon und seine Berater noch wach. Sie studierten Karten in einer der Waffenkammern der Burg, die jetzt der Allianz als Kommandoposten diente. Die Wachen hatten der schönen Elfe zugenickt, die ihren Kommandanten begleitete und sich momentan im selben Raum wie die Strategen aufhielt. Die Spannung zwischen den beiden hatten alle bemerkt.
Sie fröstelten, schenkten einer besonders eisigen Brise aber keine Aufmerksamkeit. Sie strich durch die Stadt, kroch durch die Burgtore und glitt dann den breiten Hauptkorridor entlang, bevor sie sich nach links wandte. Sie wirbelte durch einen weiteren Gang nach oben und über einen kleinen Innenhof, über dem der bewölkte Nachthimmel zu sehen war.
Zwei Wachen standen am Eingang zur königlichen Bibliothek. Sie fröstelten, als die Brise sie erreichte und blinzelten, weil sich die Schatten um sie herum stärker zu verdunkeln schienen.
Plötzlich kam starker Wind auf, der die Schatten hinwegfegte und mehrere Gestallten enthüllte. Vier davon schienen Menschen zu sein, zumindest der Körpergröße nach. Alle trugen Kapuzenumhänge und merkwürdige Bandagen um Gliedmaßen und Torso, aber ihre Augen leuchteten in wildem Rot. Die fünfte Gestalt überragte sie, und selbst im Dunkeln leuchtete ihre Haut grün.
Eine der Wachen wollte gerade einen Alarmruf ausstoßen und ihr Schwert ziehen. Aber das sollte ihr niemals gelingen. Der Orc trat vor und schwang bereits seine schwere Axt. Die Wache starb. Ihr Kamerad konnte den Schild heben, einen Schlag von den merkwürdig gekleideten Gestalten abwehren und mit dem Speer zustechen. Doch das war nutzlos, denn ein anderer Eindringling packte den Speerschaft und zerbrach ihn. Dann wirbelte er herum und erwischte die Wache am Hals, genau über dem Schildrand. Der Mann fiel lautlos, sein Kopf wurde beinahe abgetrennt. Die Gestalten stiegen über die zuckenden Leichen, öffneten die Türen und betraten die königliche Bibliothek.
„Beeilt euch“, wies Blutschatten sie an. „Wir dürfen nicht entdeckt werden.“
Seine Todesritter nickten, ebenso wie Pargath Throatsplitter, der Orc, der die erste Wache so schnell erledigt hatte. Blutschatten hatte extra einen Krieger vom Klan des blutenden Auges mitgenommen, weil sie diese Welt besser als jedes andere Mitglied der Horde kannten. Pargath war ihm als einer der schlaueren und ruhigeren Kämpfer aufgefallen.
Die fünf teilten sich auf und durchsuchten die Bibliothek. Nach mehreren Minuten fluchte Pargath. „Es ist nicht hier!“, flüsterte er.
„Was?“ Blutschatten trat zu dem Krieger, der neben einem leeren Glaskasten stand. „Bist du dir sicher?“
Als Antwort wies Pargath auf die Vitrine und eine kleine, braune Karte, die in einer Ecke steckte. Blutschatten hatte Zugriff auf die Erinnerungen seines Gastkörpers. Und nach einigen Sekunden konnte er die Schrift entziffern: Das Buch Medivhs. Nicht öffnen ohne Sondergenehmigung des Königs oder des Kommandanten der Allianz.
„Es war hier“, vermutete Blutschatten. Er untersuchte das tiefviolette Innere der Vitrine, wo sich eindeutig der Abdruck von etwas Großem, Schwerem und Rechteckigem abzeichnete. „Aber wo ist es jetzt?“
„Hierher“, rief einer der Todesritter leise.
Blutschatten trat zu ihm. Pargath und die anderen beiden Todesritter waren direkt hinter ihm.
„Es sieht so aus, als wäre jemand auf dieselbe Idee wie wir gekommen.“ Der Todesritter wies auf eine kleine Lesenische... und den Leichnam darin. Die Leiche trug die Rüstung der Allianzwachen, ein Dolch ragte aus dem Spalt zwischen Helm und Brustplatte.
„Alterac“, flüsterte Pargath und blickte auf den toten Mann. „Die Abzeichen dort.“ Pargath wies auf die Markierungen am Dolchgriff. „Das ist die Krone von Alterac.“
Blutschattens eigene Erinnerungen bestätigten dies. „Alterac hat also das Buch“, überlegte er. Trotz seines Verrats während des letzten Krieges herrschte Lord Perenolde immer noch über Alterac. Zumindest bislang. Und das Buch war der Allianz wertvoll... Alterac konnte es als Faustpfand benutzen.
Ja, das klang logisch.
„Aber warum hat er ein so offensichtliches Zeichen hinterlassen?“, überlegte Pargath. „Um der Allianz zu zeigen, dass Alterac und sein König immer noch im Spiel sind? Oder...“ Er lächelte und zeigte seine Hauer. „... vielleicht war es nur ein allzu sorgloser Mörder?“
„Nun, wir werden jedenfalls nicht so sorglos agieren“, sagte Blutschatten. „Wir brauchen dieses Buch, deshalb müssen wir nach Alterac. Nimm den Dolch und stell sicher, dass die Allianz nicht den gleichen Hinweis wie wir erhält. Der Leichnam ist noch warm. Lassen wir die Wachen glauben, dass alle von derselben Hand getötet wurden, wenn man die Leichen am Morgen findet.“
Pargath kniete sich gehorsam hin und zog die Waffe aus dem Toten. „Dann nach Alterac?“
„Ja... aber nicht sofort. Wir müssen unserem ursprünglichen Plan so genau wie möglich folgen. Wir gehen immer noch in die Schwarzfelsberge. Wir brauchen Rend, Maim und die roten Drachen, die sie kontrollieren.“
Pargath nickte. „Schwarzfels liegt auf dem Weg nach Alterac“, merkte er an.
„Genau.“ Blutschatten grinste. „Und mit der Hilfe eines roten Drachen könnten wir dort binnen Stunden hin und wieder zurück sein und so rechtzeitig das Portal erreichen.“ Er nickte. „Aber zuerst müssen wir hier so leise wieder raus, wie wir reingekommen sind.“
Er sammelte sie um sich. Die Schatten kamen näher, die Temperatur in der Bibliothek fiel. Einen Moment später wehte ein eisiger Wind durch die Türen, an den sich abkühlenden Leichen und den Blutlachen vorbei, zurück in den Gang und aus der Burg hinaus.
So entschwanden sie in die Nacht.
Einen Tag später erreichten Blutschatten und sein Gefolge die Schwarzfelsberge. Ihre kleine Gruppe war größer geworden. Er hatte Gaz Soulripper kontaktiert, und seine Todesritter hatte ihm Fenris Wolfsbruder vom Donnerfürstenklan, Tagar Rückenbrecher vom Knochenmalmerklan und mehrere ihrer besten Krieger geschickt. Die Orcs hatten sich wie befohlen mit Blutschatten und den anderen am Fuß der Berge getroffen. Ihre Gruppe war jetzt gerade so groß, dass sie sich, Blutschattens Meinung nach, immer noch ungesehen von der Allianz bewegen konnte. Er hoffte jedoch, dass sie zahlreich genug waren, um die Aufmerksamkeit von Schwarzfausts Söhnen zu erregen.
Sie bewegten sich völlig ungedeckt durch die Berge und achteten darauf, dass die in der Nähe postierten Orc-Wachen sie deutlich sehen konnten. Blutschatten wollte den Eindruck vermeiden, dass sie sich heimlich anschlichen oder gar einen Überfall planten.
Schließlich erreichten sie die Spitze. Die Steine waren von der Hitze aufgeplatzt, und Lava strömte wie ein glühender Fluss durch die natürlichen Kanäle. Die trutzige Burg war aus jenem glasartigen Stein errichtet worden, der dem Ort seinen Namen gab. Blutschatten erinnerte sich an die tragischen Ereignisse. Hier hatte Schicksalshammer seine Basis errichtet, und hier hatten die Häuptlinge Blutschatten und die anderen Todesritter den versammelten Klans vorgestellt. Und es war hier unten gewesen, im Tal am Fuß der Berge, wo Schicksalshammer gegen Lothar, den Anführer der Allianz, gekämpft und gewonnen hatte – aber nur, um dann von Turalyon, Lothars Stellvertreter, besiegt zu werden. Sieg und Niederlage lagen an diesem Ort eng beieinander.
Er verdrängte die Erinnerung. Dafür war jetzt keine Zeit. Viel wichtiger war die Gegenwart und das eigene Vorankommen.
Mit einer Geste signalisierte er der Gruppe, am Eingang stehen zu bleiben. Augenblicklich erschienen vier bewaffnete Wachen, groß und kräftig, die aussahen, als warteten sie nur darauf anzugreifen.
„Wir wollen mit Schwarzfausts Söhnen sprechen. Sagt ihnen, Teron Blutschatten hat Neuigkeiten und will ihnen ein Angebot machen.“ Er trat vor und schob die Kapuze von seinem Kopf.
Die Wachen erbleichten. Eine flüsterte der anderen etwas zu. Der zweite Orc lauschte, verneigte sich und verschwand in der Dunkelheit. Kurz darauf war er schon wieder zurück. Der Kommandant hörte ihm zu, dann wandte er sich Blutschatten und seiner Gruppe zu.
„Bleibt zusammen“, ermahnte er sie und führte sie in die Burg.
Blutschatten folgte ihm tief in das Herz der Berge. Seine leuchtend roten Augen nahmen alles auf. Die Burg wurde stark genutzt. Er bemerkte andere Orcs, die offensichtlich beschäftigt waren. Alle blieben stehen und starrten sie an, überrascht, Todesritter auf der Schwarzfelsspitze anzutreffen. Doch keiner wagte, etwas zu sagen.
Schließlich erreichten sie den großen Raum, den Blutschatten noch als Schicksalshammers Thronsaal gekannt hatte. Die Gestalt, die jetzt auf dem massigen, aus Fels gehauenen schwarzen Sitz saß, war kleiner als der berühmte Kriegshäuptling und wirkte durch die groben Gesichtszüge und die ungekämmte braune Mähne plumper. Medaillen und Knochen hingen an Nase, Ohren, der Stirn und im Haar. Ihre Rüstung war kunstvoll verziert, genauso wie das riesige, rasiermesserscharfe Schwert.
„Rend“, sagte Blutschatten und blieb exakt außerhalb der Reichweite des Schwertes stehen.
„Blutschatten“, antwortete Rend Schwarzfaust, Mithäuptling des Schwarzfelsklans. Sein hässliches Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, das es noch hässlicher machte. Er rutschte herum und schob ein Bein über die Armlehne des Throns. „Gut, gut, gut. Was willst du hier, toter Mann?“
„Genau“, sagte eine schrillere Stimme. Blutschatten sah zu Rends Bruder Maim, der ein wenig hinter dem Thron hockte. Er war halb in den Schatten verborgen. „Du wagst dich den langen Weg hierher, nur um uns zu besuchen?“
„Das Dunkle Portal wurde wieder geöffnet“, begann Blutschatten, doch Rend schnaubte nur. „Das habe ich in meinen Träumen gesehen“, sagte der Orc-Häuptling. „Ich wusste, dass ein Hexenmeister dahintersteckt.“ Er runzelte die breite Stirn. „Was ist damit?“
Blutschatten schaute finster. Das Gespräch lief nicht wie erhofft. „Ner’zhul führt die Horde jetzt an“, sagte er. „Ich soll dich und den Schwarzfelsklan zurückholen. Wir brauchen auch den Drachenmalklan und die roten Echsen.“
Rend sah Maim an, und beide Brüder lachten. „Nach zwei Jahren, in denen nichts geschehen ist, wagst du dich hierher, in meine Burg, mit einer Handvoll frischer Orc-Krieger und erwartest, dass ich begeistert vor einem alten Schamanen auf die Knie falle? Und dann wollt ihr nicht nur meine Krieger, sondern auch meine Drachen?“ Er lachte erneut, obwohl seine Augen wütend blitzten. „Auf keinen Fall!“
„Du kannst nicht ablehnen“, sagte Blutschatten. „Wir brauchen deine Leute und die Drachen, um unseren Plan auszuführen!“
„Mir ist egal, was du brauchst“, erwiderte Rend kühl. Er stand auf, und Blutschatten erkannte, dass Rend Schwarzfaust trotz seines kindischen Benehmens höchst gefährlich war. „Das ist dein Problem, nicht meins. Mich interessiert nicht, was der alte Ner’zhul plant. Wo war er, als wir gegen die Allianz gekämpft haben? Ich war hier. Wo war er, als Schicksalshammer seinen Kampf verlor? Ich war hier!“
„Ich auch“, sagte Maim.
„Wo war er, als das Portal zerstört wurde und wir hier festsaßen?“, fuhr Rend fort. „Wo war er, als wir zwei Jahre lang gejagt wurden und nur langsam unsere Kräfte regenerieren konnten, indem wir die heimatlosen Orcs aufnahmen? Ich sage dir, wo. Er war sicher und geborgen auf Draenor und hat keinen Finger gerührt, um uns zu helfen!“
Rend zog sein Schwert und schlug es so fest auf die Thronlehne, dass der Stein splitterte. Maim sprang auf, dann lachte er mit einem Anflug von Irrsinn in der Stimme.
„Aber ich war hier! Ich habe diese Orcs wieder zusammengeführt! Ich habe die Horde neu gebildet, nicht auf Draenor, sondern hier auf Azeroth, direkt vor der Nase der Allianz! Ich bin jetzt der Kriegshäuptling, und kein abgetakelter Schamane nimmt mir das wieder weg!“
Blutschatten wollte dem Jungen am liebsten eine Ohrfeige verpassen, ließ es aber bleiben. „Bitte“, zischte er durch gefletschte Zähne. „Bitte, überdenk das noch einmal. Ohne deine Hilfe wird Ner’zhul...“
„... scheitern“, beendete Rend den Satz unhöflich. Maim blickte schadenfroh. „Er hat keine Erfahrung mit echtem Krieg. Er ist kein Taktiker, hat kein Verständnis für den Kampf und keine wirklichen Führungsqualitäten. Die Allianz wird diese nachgemachte Horde zerquetschen, und dann...“ Er grinste. „... werde ich die Scherben aufsammeln. Wir werden alle Überlebenden um uns scharen, Maim und ich, so wie wir es nach dem letzten Krieg auch taten.“
Maim kroch näher, und Rend legte die Hand auf den Kopf seines Bruders, wie bei einem Schoßhund. „Und mit der Horde, der echten Horde, nur größer und mit den Drachen auf unserer Seite und mir als Anführer, werden wir Azeroth erobern.“ Rend grinste Blutschatten an. „Und dann, toter Mann, wirst du mir dienen.“
Hinter Blutschatten versteifte sich Tagar. „Du Feigling!“, brüllte er Rend an. „Verräterischer Hund. Ich prügele dich wie einen Welpen und nehme mir deinen Thron! Dann folgen deine Leute meinen Befehlen und nehmen ihren Platz in der Horde wieder ein!“
„Ach ja?“, antwortete Rend unbeeindruckt. „Du willst mich hier und jetzt angreifen?“ Sein Lächeln wurde breiter, und Blutschatten legte Tagar eine Hand auf die Schulter.
„Seine Wachen sind in der Nähe, und zwar viele“, ermahnte er den Häuptling der Knochenmalmer schnell. „Wenn du ihn angreifst, werden sie dich töten, und dann fehlt uns ein Häuptling.“ Er schüttelte den Kopf. „Jetzt ist nicht die Zeit dafür.“
Tagar murrte, trat aber einen Schritt zurück. Rend wirkte enttäuscht.
„Zum letzten Mal... werdet ihr euch uns anschließen?“, fragte Blutschatten leise.
„Ach, warte, lass mich nachdenken... äh, nein“, antwortete Rend und grinste schmierig.
Maim lachte.
„Nun gut.“ Blutschatten verneigte sich. „Dann gibt es nichts mehr zu besprechen.“
Rend lachte. „Mach nur“, wies er ihn an. „Ich kann es kaum abwarten, von deiner blutigen Vernichtung zu hören.“ Er und sein Bruder verfielen in erneutes Gelächter, das durch den Saal in die Hallen und Gänge dahinter drang, während Blutschatten seine entmutigte Gruppe aus der Burg hinaus- und den Berg hinunterführte.
Die Sonne war bereits untergegangen und das letzte Licht der Dämmerung gewichen. Der Himmel war völlig schwarz. Blutschatten blickte in die tanzenden Flammen des Lagerfeuers.
Die Dinge waren nicht nach Plan verlaufen. Er war tief in Gedanken versunken und überdachte den nächsten Schritt. Die anderen waren in weiser Voraussicht still. Das einzige Geräusch kam vom knisternden Feuer, und ab und zu erklang das Gemurmel leise geführter Unterhaltungen.
Ein plötzlicher Laut ließ sie alle aufspringen.
„Menschen! Tötet sie!“, erklang der Ruf der Wachtposten. Die Todesritter blieben ruhig, aber die Orcs brüllten los. Sie waren froh, endlich ein Ziel für ihre Frustration zu haben.
Blutschatten konnte den Menschen erkennen, der tapfer in ihr Lager kam. Tagar griff ihn an und schlug mit dem Knüppel zu. Dieser Hieb würde den zerbrechlichen Schädel des Menschen zerschmettern...
Doch was stattdessen geschah, paralysierte alle. Blutschatten beobachtete, wie der Mensch mit einer beiläufigen Bewegung den Knüppel abfing und ihn dem Orc aus dem Griff wand.
Tagar starrte den Mann entgeistert an. Dann wollten er und die anderen sich erneut auf ihn stürzen.
Der Mensch rief: „Aufhören!“
Selbst Blutschatten bezweifelte, dass er etwas gegen ihn ausrichten konnte. Denn die Macht, die in diesem einen Wort lag, war immens.
Wer war der Mann? Blutschatten beobachtete neugierig, wie der Mensch in den Kreis des Feuerscheins trat. Unter seinesgleichen hätte der Mann als schön gegolten, überlegte Blutschatten. Er war groß, gut gebaut für einen Menschen, mit glänzendem Haar und starken, aber edlen Gesichtszügen. Dazu trug er prächtige Kleidung und ein juwelenverziertes Schwert. Er schmunzelte und zupfte etwas von seinem Ärmel.
„Ich weiß, dass ihr mich am liebsten sofort wieder angreifen würdet. Aber meine Kleidung wurde für heute schon genug beschmutzt. Ich mag es nicht, wenn euer Blut daran klebt.“ Er grinste gefährlich, und seine perfekten Zähne blitzten. „Ich bin nicht das, was ich zu sein scheine.“ Der Schatten hinter ihm flackerte, plötzlich schien er sich zu erheben, wuchs zu monströser Größe an und formte große Schattenflügel, die sich ausbreiteten.
„Wer bist du?“, fragte Blutschatten.
„Man kennt mich unter vielen Namen.“ Das Lächeln des Mannes wurde breiter. „Einer davon ist... Todesschwinge.“
Todesschwinge! Blutschatten war erschüttert. Er glaubte dem Mann, so bizarr es auch klingen mochte. Er hatte bereits ein wenig von seiner Stärke gespürt. Blutschatten wusste, wer der schwarze Drache war: das vielleicht mächtigste Wesen auf Azeroth.
Sie hatten während des Krieges ein paarmal schwarze Drachen gesehen, und Blutschatten hatte sich oft gefragt, wieso der Drachenmalklan nicht die schwarzen gefangen genommen hatte statt der widerspenstigen roten. Er hatte vermutet, dass das wohl zu schwierig war, oder dass niemand Todesschwinges Zorn auf sich ziehen wollte.
Blutschatten versuchte zu sprechen, brachte vor Verblüffung aber keinen Ton heraus. Er versuchte es erneut. „W-was willst du von uns?“
Mit einer Geste seiner beringten Hand winkte Todesschwinge ab. „Beruhige dich“, antwortete er in verächtlichem Tonfall. „Ich will euch nichts tun, sonst wärt ihr bereits Asche.“ Seine Augen leuchteten für eine Sekunde auf und ließen das Feuer erahnen, das tief unter seiner menschlichen Fassade schwelte. „Ganz im Gegenteil. Ich habe euch beobachtet, und ich würde gern mit euch ins Geschäft kommen.“
Er legte ein Taschentuch auf einen nahe liegenden Felsen, setzte sich neben das Feuer und bedeutete ihnen, dasselbe zu tun. Sie gehorchten langsam. „Ihr seid von beeindruckender Stärke und Zielstrebigkeit.“ Er lächelte sie an. „Ich würde gern die Welt kennenlernen, die solche Wesen hervorbringt.“
Blutschatten beobachtete den uneingeladenen Gast. Wollte Todesschwinge Draenor besuchen? Und wenn ja, warum?
Als hätte er seine Gedanken gelesen, blickte Todesschwinge Blutschatten an und nickte. Seine dunklen Augen glänzten, und er wirkte dabei ganz wie ein selbstbewusster Mensch. „Ich weiß von eurem Treffen mit Rend Schwarzfaust“, sagte Todesschwinge leise. „Er und sein Bruder sind beides Idioten. Aber nicht ohne Macht. Und ich weiß, dass ihr die roten Drachen des Drachenmalklans braucht, die der Klan... versklavt hat.“ Seine Mundwinkel zogen sich beim letzten Wort nach oben, als würde ihn die Idee erheitern. „Die roten sind minderwertige Wesen, wenn ihr mich fragt. Mir schleierhaft, was ihr mit denen wollt.“
Blutschatten wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Drachen sind machtvolle Wesen“, begann er vorsichtig.
„Das sind wir tatsächlich. Du willst uns als Verbündete? Dann kann ich dir ein Angebot machen. Meine mächtigen Kinder werden dir helfen, und zwar freiwillig statt unter Zwang.“
Einer der Orcs, der offensichtlich bemüht war, den unerwarteten Gast zufriedenzustellen, bot Todesschwinge einen Krug Bier an. Die große Kreatur fixierte den Orc finster. „Nimm das faulige Zeug weg!“ Duckend entfernte sich der Orc. Todesschwinge beruhigte sich und wandte seinen feurigen Blick wieder Blutschatten zu. „Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich biete dir die Hilfe meiner Kinder an. Als Gegenleistung verlange ich sicheren Durchgang durch das Dunkle Portal und Hilfe beim Transport einer Fracht.“
„Du willst nach Draenor?“, platzte Tagar heraus. „Warum?“
Das Lächeln, das Todesschwinge dem Häuptling des Knochenmalmerklans zuwarf, ließ den Orc verstummen. „Meine Planung geht dich nichts an, Orc“, sagte der Drachenmann leise zischend. „Aber keine Sorge. Sie wird eure Pläne nicht stören.“
Blutschatten zog das Angebot in Erwägung. Er brauchte Drachen, ganz egal welcher Farbe, damit sein Plan funktionierte. Wenn er annahm, musste er sich nicht wieder mit Rend abgeben, obwohl er dem selbst ernannten Kriegshäuptling bei Gelegenheit gern etwas Bescheidenheit eingebläut hätte. Er wusste nicht, was Todesschwinge vorhatte, aber solange es nicht mit seinen Plänen kollidierte, hatte er kein Problem damit, auf die Forderung des Drachen einzugehen.
„Sehr gut, Todesschwinge“, sagte er schließlich.
„Lord Todesschwinge.“ Er lächelte humorlos, und seine Stimme klang hart. „Lasst uns die Form wahren.“
Blutschatten neigte den Kopf. „Natürlich, Lord Todesschwinge. Das sehe ich auch so. Wir geben Euren... Leuten und der Ladung sicheres Geleit. Aber zuerst muss ich einen Auftrag erfüllen, weil ich selber eine Ladung abholen muss.“
„Nun gut“, stimmte Todesschwinge zu. Er stand anmutig auf. „Ich rede mit meinen Kindern und informiere sie über die Abmachung. Wenn ich wiederkomme, werde ich euch helfen.“ Er klopfte sich den Staub von den Händen, obwohl er nichts berührt hatte, und ohne ein weiteres Wort verschwand er in den Schatten.
„Gut“, sagte Blutschatten einen Moment später, als er sicher sein konnte, dass der Drache fort war und sich nicht aus der Dunkelheit heraus auf sie stürzen würde. „Packt ein. Wir müssen los, und wir haben nicht viel Zeit.“
Die anderen gehorchten eilig, alle waren offensichtlich froh, sich auf den Abbau des Lagers konzentrieren zu können, statt an die merkwürdige Gestalt denken zu müssen, die sich gerade mit ihnen verbündet hatte.
Blutschatten hoffte, dass Todesschwinge auch wirklich ein Verbündeter war. Denn wenn er etwas anderes im Schilde führte, konnten sie ihn nicht daran hindern.
Zwei Gestalten, eine männlich und eine weiblich, erwarteten Todesschwinge unweit des Lagers der Orcs. Der Mann war kräftig gebaut und trug einen kurz geschnittenen, dunklen Bart. Die Frau war zierlich, hatte bleiche Haut und langes, glattes Haar. Beide waren schwarzhaarig, und ihre Gesichtszüge glichen denen von Todesschwinge in seiner menschlichen Gestalt.
„Gibt es Neuigkeiten, Vater?“, fragte die Frau, ihre Stimme klang sehr angenehm.
„Sie haben eingewilligt, wie ich es vorausgesagt habe, Onyxia“, antwortete Todesschwinge. Er strich seiner Tochter über die Wange, und sie legte ihr Gesicht in seine Hand und lächelte ihn an. „Bald schon stehen uns zwei Welten zur Verfügung, nicht mehr nur eine.“ Er küsste ihre bleiche Stirn, dann wandte er sich an ihren Bruder. „Aber ich habe eine Aufgabe für dich, während ich weg bin.“
„Welche, Vater“, antwortete der Mann. „Ich werde sie sofort ausführen.“
Todesschwinge lächelte. „Es sind immer noch Orcs an der Schwarzfelsspitze. Sie haben die Bindungen zu ihrem Volk aufgegeben und verweigern sich der Horde. Das macht sie reif für einen Angriff.“ Sein Lächeln wurde breiter, als er seinen Sohn an der Schulter fasste. „Wenn ich zurückkomme, Nefarian, will ich diesen Rend Schwarzfaust haben. Ihr beide werdet die Berge kontrollieren und die Orcs, die darin leben. Sie werden eure Sklaven sein.“
Nefarian grinste, sein Gesichtsausdruck spiegelte den seines Vaters wider. „Nichts leichter als das. Die Orcs und ihre Bergfestung erwarten dich bei deiner Rückkehr“, versprach er.
„Ausgezeichnet.“ Todesschwinge sah seine Kinder einen Moment lang an, dann nickte er. „Jetzt muss ich wieder zu unseren neuen Verbündeten und ihnen bei ihrer kleinen Mission helfen, damit sie sich bald meinem Auftrag widmen können.“
Als ihr Vater zu den Orcs zurückkehrte, fletschte Onyxia die Zähne und lachte wild. „Nun, Bruder, wollen wir zu unserem neuen Heim und unseren neuen Untergebenen aufbrechen?“
„Ja, Schwester“, antwortete Nefarian lachend. „Mit denen haben wir leichtes Spiel, denke ich.“ Er bot ihr seinen Arm an. Sie hakte sich ein, schlängelte die zarten, bleichen Finger um seinen mächtigen Bizeps, und gemeinsam verschwanden sie in den Schatten.
Einen Herzschlag später erklang in der abendlichen Brise das Geräusch mächtiger Schwingen.