26

Khadgars Kopf dröhnte, doch er spürte, wie seinen Körper warme, heilende Energie durchströmte. Er stand auf und fluchte. Der Spalt verschwand gerade und hinterließ ein schwaches Nachbild wie eine Rauchspur. Ner’zhul und seine Orcs waren fort.

„... wir kamen zu spät. Er ist weg.“

„Weg? Beim Licht, nein!“ Turalyon befand sich direkt hinter Khadgar, hatte den Spalt aber wohl nicht bemerkt. Khadgar hatte ihn mit seinen erweiterten Sinnen bereits gespürt, bevor er ihn tatsächlich gesehen hatte. Auch wenn Turalyon über große Kraft verfügen mochte, so zog er aus seinem Bündnis mit dem Heiligen Licht noch lange kein Verständnis für arkane Magie.

„Er muss den Spalt hinter sich geschlossen haben“, überlegte Khadgar, als er und Turalyon auf das Dach traten. Alleria kam zu ihnen.

„Aber du hast das Auge von Dalaran zurückbekommen“, bemerkte Alleria. „Das ist doch wichtig, oder nicht?“ Khadgar nickte. „Nur, was machen wir jetzt?“ Sie schaute vom Schwarzen Tempel hinab. „Zumindest sieht es so aus, als gewännen wir dort unten.“

„Gib es eine Möglichkeit, ihm zu folgen?“, fragte Turalyon.

Khadgar schüttelte den Kopf. „Ich kenne den Spruch nicht, den Ner’zhul benutzt hat, und ich weiß auch nicht, wie man die Welt finden soll, auf die ihn der Spalt geführt hat. Selbst wenn ich einen neuen Zugang öffnen würde, gäbe es keine Garantie, dass er uns auf dieselbe Welt bringt.“ Seine Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem beansprucht. Er furchte die Stirn und ging zu den drei Kreisen, die sich auf dem Boden befanden.

„Was ist?“

„Macht“, sagte Khadgar abwesend. „Mehr Macht, als ich je an einem Ort gespürt habe, außer in Medivhs Turm.“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Deshalb also“, murmelte er. „Ich hatte mich gefragt, warum Ner’zhul uns die Höllenfeuerzitadelle überlassen hat, statt sie richtig zu verteidigen und den Spruch dort zu wirken. Aber das konnte er nicht. Er musste hier sein. Er brauchte die Magie dieses Ortes, um das Ritual zu vollziehen.“

„Bringt uns das irgendwie weiter?“, fragte Alleria.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete er. „Vielleicht.“ Er trat in den mittleren Kreis, und sein Kopf fiel zurück, der Mund war zu einem stummen Schrei aufgerissen.

Solch eine Macht! Sie durchströmte ihn wie wildes Feuer, entzündete seine Adern, überlud alle Sinne.

Ner’zhul war ein Schamane, kein Magier. Seine Magie stammte aus der Erde, dem Himmel und dem Wasser – aus der Welt selbst. Und dieser Ort war ein Fokus für die Macht dieser Welt. Hier hatte Ner’zhul die volle Stärke dessen abbekommen, was er zuvor bereits mehrfach gestreift hatte, aber auf schwächerem Niveau. Er wusste, wie man damit umging.

Für Khadgar war es eine völlig neue Erfahrung. Und eine gefährliche.

Aber Khadgar war nicht umsonst Erzmagier. Er war ein zu großen Hoffnungen Anlass gebender Schüler in Dalaran gewesen und hatte viel in seiner kurzen Lehrzeit bei Medivh gelernt... und noch mehr danach. Er war ein Meister der Magie, und wenn diese Form auch neu für ihn war, so war es dennoch Magie. Und das bedeutete, dass es eine Frage der Willenskraft war.

Und die besaß Khadgar.

Langsam zügelte er seine Sinne, bezähmte die neue Energie, bis sie nur noch ein Brummen im Hintergrund war. Dann öffnete er die Augen... und schnappte nach Luft.

An diesem Ort, voll der Kraft einer ganzen Welt, konnte er sehen, was ihm zuvor verwehrt gewesen war.

„O nein“, stöhnte er.

„Was ist?“, fragte Turalyon.

„Der Spalt...“, hauchte Khadgar. Er fand kaum die passenden Worte, um zu beschreiben, was er sah. „Ner’zhul hat nicht nur einen geöffnet, sondern viele, die über die ganze Welt verstreut sind.“ Sie flackerten und glitzerten, wirkten wie Glühwürmchen an einem Sommerabend. „Es ist... Ich glaube nicht, dass Draenor das aushalten kann. Es kann dem nicht standhalten. Die Spalte sind Risse... und diese Risse sprengen den ganzen verdammten Planeten.“ Und uns mit ihm, dachte er, sagte es aber nicht.

Turalyon und Alleria sahen einander an. Gleichzeitig wandten sie sich Khadgar zu.

„Was können wir tun? Und wie viel Zeit haben wir?“

Noch während er die Worte sprach, durchlief ein Beben den Tempel und dessen Umgebung. Der Vulkan bebte und spie noch mehr giftige Lava aus, die eine grüne Wolke bildete.

Dann hörte Khadgar hinter sich ein schreckliches Krachen und ein ohrenbetäubendes Rumpeln. Er blickte über die Schulter und sah, wie Felsmassen herabstürzten. Der Schwarze Tempel war mit Blick auf die Berge errichtet worden, die die See überragten. Und diese Gipfel brachen weg. Das meiste Geröll stürzte ins Meer, aber etwas rollte auch auf sie zu.

Schnell murmelte Khadgar einen Spruch, der sie vor der Steinlawine abschirmte. Die drei blieben gut geschützt, als Felsen, Geröll und Staub an ihnen vorbeidonnerten.

Ein zweiter Zauber sicherte den Bereich direkt unter ihnen, wo die Streitkräfte der Allianz sich bereits um die Reste der Horde kümmerten. Viele der Orcs waren weggelaufen, als sich das Schlachtenglück gegen sie gewandt hatte, und die herabstürzenden Felsen beschleunigten nur ihre kopflose Flucht.

Draenor war jetzt die Bestie, die sich vor Schmerz selbst in Stücke riss. Und plötzlich dämmerte es Khadgar, dass Draenor vielleicht nicht alleine sterben würde.

„Azeroth ist in Gefahr!“, rief er über den Lärm hinweg.

„Diese Spalten sind Verbindungen zwischen den Welten. Und das Dunkle Portal ist die größte und stabilste.“ Eine merkwürdige Stille entstand, als das Beben plötzlich verebbte.

Khadgar sprach schnell weiter. „Unsere Welten sind miteinander verbunden. Die Schäden hier könnten durch das Portal greifen und Azeroth ebenfalls betreffen!“ Er verzog das Gesicht, trat aus dem Kreis und versuchte, nicht vor Bestürzung zu stöhnen, als das Energieniveau wieder auf ein normales Maß sank. Es war, als würde man ein Freudenfeuer gegen eine simple Fackel austauschen. Aber er wusste, dass ihm Gefahr drohte, wenn er länger blieb. „Ich muss zurück zum Dunklen Portal!“

„Hast du alles, was du brauchst, um es zu schließen?“

„Ich habe den Schädel. Und das Buch ist hier irgendwo. Ich werde es finden“, sagte er selbstsicherer, als er sich fühlte.

Turalyon nickte. „Ich sammle meine Truppen“, versprach er.

Doch Khadgar schüttelte den Kopf. „Dafür ist keine Zeit!“, widersprach er und packte seinen Freund an der Schulter. „Verstehst du denn nicht? Es tut mir leid, Turalyon, so leid. Aber ich kann das Portal jetzt noch nicht schließen. Wenn Draenor zerstört wird, könnte es Azeroth mit ins Verderben reißen!“

Er sah, dass in Turalyon das Begreifen einsetzte, und er hasste die Resignation, die damit einherging. Doch sein Freund nickte. „Wir nehmen die Greife“, verkündete er. „Das ist der schnellste Weg zurück.“ Dann straffte er die Schultern. „Ich rede mit den Soldaten, bevor wir gehen. Wie wenig Zeit auch sein mag, das haben sie verdient.“ Er reichte Alleria eine Hand, und gemeinsam liefen sie die Stufen hinab.

Khadgar bekam kaum mit, wie sie gingen. Er hatte Ner’zhul das Auge einfach aus der Hand genommen, aber er hatte keine Zeit gehabt, Medivhs Buch zu finden, bevor Ner’zhul sich gerächt hatte. Es war hier irgendwo, sagte er sich selbst. Er musste es einfach finden, damit der Zauber in Eintracht mit der Sternenkonstellation funktionierte.

Ner’zhul hatte ein silberbeschlagenes Zepter in der Hand gehalten, als er verschwand. Wahrscheinlich war es das Zepter des Sargeras. Es war ohnehin besser, wenn so ein verfluchtes Artefakt weit weg von Azeroth war. Nur, wo war das verdammte Buch? Er musste die Aufgabe erfüllen, und zwar jetzt, bevor es für sie alle zu spät war.

Er streckte seine Sinne aus, es war jedoch zu viel Magie in der Luft, um irgendetwas klar lokalisieren zu können.

Das Buch könnte direkt vor meiner Nase liegen oder meilenweit entfernt. Verdammt!, dachte er frustriert.

Khadgar erspähte aus dem Augenwinkel eine schwache Bewegung. Er wirbelte herum, bereit, sich zu verteidigen.

Eine der Leichen hatte sich bewegt, wenn auch nur schwach. Der Körper war schlimm verkohlt, und Khadgar erkannte, dass es der Orc war, den Ner’zhul angegriffen hatte, bevor er durch das Portal ging. Derjenige, der Ner’zhul einen Feigling genannt hatte, weil er die anderen zurückließ.

Wieder war Khadgar froh, dass er den Ring dabeihatte, der ihn andere Sprachen verstehen ließ. Er senkte seine Hände.

Der Orc schnaufte und grunzte, offensichtlich hatte er große Schmerzen. Er griff nach etwas und hielt es Khadgar mit enormer Anstrengung entgegen. Es war ein großer, rechteckiger Gegenstand mit verzierten Metallecken.

Khadgar hielt den Atem an, als er erkannte, was es war.

Medivhs Buch.

„Ich bin... kein Schamane. Aber Obris ist schlau genug, um zu wissen... dass es dir nützlich sein wird.“

Khadgar zögerte. Der Orc war dem Tode geweiht, doch es konnte immer noch ein Trick sein. „Ja“, sagte er schließlich. „Und warum gibst du es mir dann? Ich bin dein Feind.“

„Du bist wenigstens ein ehrenhafter Feind“, knurrte Obris. „Ner’zhul hat uns verraten. Er hat die Horde neu wieder erstehen lassen und meinen Klan des lachenden Schädels hineingezwungen. Er versprach uns einen Neubeginn. Aber sobald...“, er hustete, „... sobald er Sicherheit fand, floh er. Er und seine Lieblinge... Der Rest von uns... bedeutete ihm nichts.“

Die Augen leuchteten ein letztes Mal. „Ich wäre sehr froh, wenn ich wüsste, dass meine letzte Tat die wäre, sich ihm zu widersetzen. Nimm es. Nimm es, verflucht seist du! Nimm es und lass ihn für seinen Verrat bezahlen!“

Khadgar ging auf den sterbenden Orc zu und löste sanft das Buch aus dessen geschwärzten, blutigen Händen. „Ich verspreche dir, Obris: Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ner’zhul aufzuhalten.“

Der Orc nickte, schloss die Augen und wurde ganz still – für immer.

Die Launen des Schicksals, überlegte Khadgar, löste schnell den Verschluss und öffnete das Buch. Er erinnerte sich daran, den schweren Folianten vor ein paar Jahren in Medivhs Bibliothek gesehen zu haben.

So viel war seitdem geschehen. Fast, als wäre ein ganzes Leben vergangen. Damals hatte er Angst vor dem Buch verspürt, die aber von seiner Neugierde übertrumpft worden war. Glücklicherweise hatten ihn die Schutzzauber davon abgehalten, das Werk zu öffnen. Sonst hätte ihn die darin wohnende Magie vernichtet.

Jetzt mied Khadgar sie mit Leichtigkeit und durchstöberte den Inhalt des Buches in wachsender Erregung. Wie er erwartet hatte, enthielten die Seiten Details darüber, wie Medivh und Gul’dan zusammen am Spalt gearbeitet hatten. Mit diesen Details und der immer noch vorhandenen Kraft in Gul’dans Schädel war Khadgar zuversichtlich, das Dunkle Portal endgültig schließen zu können.

Aber würde er es noch rechtzeitig schaffen?

Flügelschlag ließ ihn aufblicken. Mehrere Greife kreisten über dem Dach, ihre Schwingen waren ausgebreitet, als sie landeten. Khadgar sah Kurdran und einen anderen Wildhammerzwerg, die dem Magier Zeichen gaben. Er nickte, stopfte das Buch in einen Beutel, ergriff die ausgestreckte Hand des Zwergs und schwang sich auf den Greif.

„Wo sind Alleria und Turalyon?“, rief Khadgar Kurdran zu.

„Sie reden mit den Soldaten“, antwortete der Zwerg.

„Sie müssen sich aber beeilen“, sagte Khadgar und schüttelte den Kopf. „Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Auf zum Dunklen Portal!“

Der Greif kreischte, als sein Reiter die Zügel anzog. Dann erhob er sich, schlug mit den Flügeln gegen den Wind und meisterte das Gewicht zweier Passagiere.

Khadgar sah, wie der Schwarze Tempel unter ihm verschwand und schloss die Augen. Sein Haupt- und Barthaar wehten hinter ihm her. Er hielt den Beutel fest umschlungen.

Mithilfe der Greife würden sie das Portal binnen Minuten und nicht erst in Stunden oder Tagen erreichen.

Er hoffte nur, dass nicht schon alles zu spät war.


Alleria legte den Kopf an die Schulter ihres Geliebten, als sie auf dem Greif über dem Schwarzen Tempel schwebten. Sanft umschlang sie Turalyons Hüfte, um ihm moralischen Halt zu geben. Sie wusste, wie düster es in seinem Herzen aussah, angesichts dessen, was er tun musste. Aber sie wusste auch, dass er nicht kneifen würde.

„Söhne Lothars!“, rief Turalyon und hob seinen Hammer.

Alleria schaute weg, denn das Licht durchdrang die darüber liegenden Wolken und strahlte hell über das ganze Tal, vom Schwarzen Tempel bis zum Eingang, wo das Fort der Allianz lag. „Vor vielen Monaten kamen wir durch das Dunkle Portal, ohne zu wissen, was uns erwartete. Aber wir wussten, was unsere Aufgabe war: Wir mussten die Horde daran hindern, andere Welten zu erobern, so wie sie es bei unserem geliebten Azeroth tat... Doch wir versagten! Jetzt aber ist genau der Moment gekommen, für den wir gekämpft haben: Khadgar hat, was er braucht, um das Portal zu schließen. Aber dieser Welt droht das Chaos. Azeroth, unsere Heimat, ist erneut in großer Gefahr. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um Azeroth und unsere Familien, die wir zurückließen, zu retten.“

Er ließ seinen Blick über die Männer schweifen, und Alleria wusste, dass sich jedes Gesicht in sein Gedächtnis einbrannte.

„Ich werde Khadgar helfen, ihn beschützen, weil es sicherlich Widerstand geben wird“, fuhr Turalyon fort. „Ihr... müsst hier die Stellung halten. Ihr habt mich niemals enttäuscht. Ich weiß, meine Brüder, ihr werdet mich auch jetzt nicht enttäuschen.“ Seine Stimme brach.

Durch die Tränen in ihren eigenen Augen sah sie ihn weinen.

„Keiner von uns weiß, was passieren wird. Vielleicht überleben wir, finden heim, leben ein erfülltes Leben und erzählen unseren Enkeln Geschichten. Oder wir sterben hier auf dieser Welt. Wie das Schicksal entscheidet. Ein Schicksal, das, wie ich weiß, jeder von euch gern annehmen wird. Weil wir für unsere Welt, unsere Familien und unsere Ehre kämpfen. Wir kämpfen, damit andere in Freiheit leben können. Und wenn es irgendetwas auf dieser Welt oder einer anderen gibt, für das es sich zu sterben lohnt, dann ist es... die Freiheit der anderen!“

Alleria starrte ihn an. Seine Augen, die immer noch mit Tränen gefüllt waren, leuchteten jetzt in strahlend weißem Licht. Ehrfurcht durchfuhr sie.

So strahlend... Turalyon, mein Geliebter, du bist so strahlend.

„Söhne Lothars! Das Licht ist mit euch! Das war es immer und wird es immer sein. Für Azeroth!“

Sein Hammer leuchtete heller als der Tag, und viele der gefangen genommenen Orcs in der Nähe stürzten zu Boden und schrien, als seine Aura sich in ihre Augen fraß.

Turalyons Soldaten jedoch wurden durch das Leuchten gestärkt und jubelten, als der Greif aufstieg und Turalyon und Alleria hinter den Wildhammerzwergen zum Dunklen Portal brachte.

„Wenn ich könnte, würde ich bei ihnen bleiben“, murmelte er leise.

Sie küsste seinen Hals. „Das weiß ich, Geliebter. Ihre Herzen sind mit dem Licht erfüllt – so bist du stets bei ihnen.“


Rings um das Dunkle Portal herrschte das Chaos. Turalyon hatte seinen Truppen die ungeschminkte Wahrheit gesagt. Khadgar musste verteidigt werden. Er hatte nur noch nicht erkannt, wie sehr er und seine Freunde den Zauberer schützen mussten. Danath, Khadgar, Kurdran und mehrere andere waren vor ihnen angekommen und bahnten sich bereits kämpfend den Weg zum Portal. Es schien, als hätten die Orcs sich hier gesammelt. Ner’zhuls plötzliches Verschwinden hatte mehrere Klans auf Draenor zurückgelassen, und sie alle hatten begriffen: Das Dunkle Portal war der einzige stabile Spalt – und der einzige, der auf eine Welt führte, von der sie wussten, dass sie bewohnbar war.

Der Kampf fand aber nicht nur auf Draenor statt, sondern auch auf der anderen Seite des Portals. Offensichtlich hatten die Orcs dort erneut die Kontrolle errungen. Sie versuchten, sich durch das Portal zurück nach Draenor zu kämpfen und ahnten nichts von der Katastrophe auf ihrer Heimatwelt. Die Streitkräfte der Allianz hielten sie noch auf Abstand, Turalyon konnte jedoch nicht auf Hilfe hoffen. Er und seine wenigen Getreuen standen allein zwischen der Horde und Azeroth.

Aber sie mussten auch keine Schlacht gewinnen, erinnerte er sich. Ihr Ziel war lediglich, Khadgar und die anderen Magier zu beschützen, während sie das Portal ein für allemal versiegelten.

„Tu, was du tun musst“, sagte er, an Khadgar gewandt, der neben ihm stand. Die anderen Magier hatten sich um ihn herum versammelt.

Der alt wirkende junge Erzmagier nickte, hob seine Hände und schloss die Augen. Sein Stab lag in der einen Hand, der Schädel Gul’dans in der anderen, und er begann zu singen. Energien bündelten sich und umwirbelten ihn.

Die Orcs waren ihnen zahlenmäßig weit überlegen. Sie kämpften verzweifelt und wild, um ihrer kollabierenden Welt zu entkommen, koste es, was es wolle.

Der Boden bebte so stark, dass die Krieger kaum stehen konnten, und die Schlacht, als Orcs und Menschen aufeinandertrafen, verkam zu einer wüsten Prügelei. Alle Beteiligten waren unfähig, planvoll anzugreifen. Der Himmel zuckte unter Blitzen, Stürme zogen auf und in hohem Tempo wieder ab. Sterne wurden kurz sichtbar, dann wieder die Sonne.

Der Planet spielte verrückt.

Zwischen den Gefechten sah Turalyon kurz Khadgar. Die anderen Magier hatten sich ihm jetzt angeschlossen, alle waren von Strahlen umgeben, und wenn er blinzelte, konnte Turalyon die Spuren der Energie sehen, die in Khadgar hineinströmten. Er wusste, dass sein Freund die ganze Kraft aufsog. So konnte er sich auf das Portal konzentrieren, um es für immer zu zerstören.

Gerade als Khadgars Gesang den Höhepunkt erreichte, hörte Turalyon ein merkwürdiges Reißen, erst laut, dann aber auch wieder schwach, als fände es sowohl in der Nähe, als auch in der Ferne statt.

Er hatte etwas Ähnliches über dem Schwarzen Tempel vernommen, und nachdem er einen weiteren Orc ausgeschaltet hatte, sah er sich um und bemerkte einen merkwürdigen Schimmer in der Luft, nicht weit von ihnen entfernt.

Dicht hinter den Magiern entstand ein neuer Spalt!

Die Erde erzitterte unter seinen Füßen, und instinktiv wich Turalyon zurück.

Der Boden öffnete sich dort, wo er noch vor einer Sekunde gestanden hatte, und weitete sich aus wie ein hungriges Maul. Gezackte Risse bildeten sich, und plötzlich flog ein riesiger Erdklumpen hoch. Dieser nahm eine Gruppe Menschen und Orcs mit sich und warf sie, als er sich wild in der Luft drehte, wie ein bockendes Pferd den Reiter ab.

Khadgar hatte nicht übertrieben. Draenor ging tatsächlich in Stücke.

Turalyon starrte immer noch auf den fliegenden Klumpen Erde, als Khadgar seinen Stab anhob und ein Lichtstrahl daraus das Dunkle Portal traf.

Das Licht war zu hell, als dass man hätte hineinsehen können, aber anders als das Heilige Licht bestand es aus vielen wirbelnden und tanzenden Farben. Es war reine Magie, in einen einzigen Zauber gelegt, und als diese Magie auf die wirbelnde Oberfläche des Tores traf, klang es wie zerspringendes Glas.

Dann begann das Dunkle Portal zu zerbersten, der Vorhang aus Energie spaltete sich auf und zersplitterte, als der Spruch ihn auflöste.

„Es ist vollbracht“, sagte Khadgar müde. Er stellte seinen Stab auf den Boden und stützte sich darauf. Dann sah er auf und bemerkte einen von Kurdrans Zwergen. Es war ein junger Wildhammerzwerg, der gerade einen Orc mit seinem Sturmhammer attackierte.

„Du!“, rief Khadgar. „Nimm das!“ Er verstaute den Schädel in einem Beutel und warf dem überraschten Zwerg das Bündel zu. „Nimm es und fliege nach Azeroth! Das muss zu den Kirin Tor!“

„Aber“, erwiderte der junge Zwerg, „kommst du nicht selbst dorthin?“

Khadgar schüttelte seinen weißhaarigen Kopf. „Nein. Wir müssen das Portal hier ausschalten. Nur so können wir sichergehen, dass der verderbliche Einfluss nicht nach Azeroth hinüberreicht.“

Turalyon holte tief Luft. Das war es dann also. Khadgar hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen. Und er hatte offen ausgesprochen, was alle vermutet hatten: Nur dieser Zwerg würde zurückkehren. Der Rest von ihnen würde auf dieser Welt stranden, die sich mit jeder weiteren Sekunde dem Nichts näherte.

Nun, dann sollte es so sein.

Der Paladin sah, wie der junge Wildhammerzwerg zögerte. Er war unsicher, was er antworten sollte.

Plötzlich schnappte Turalyon nach Luft, als er den Orc sah, der den unachtsamen Zwerg mit seiner Axt attackierte. Aber bevor Turalyon eine Warnung rufen konnte, flog ein Sturmhammer an ihm vorbei, traf den Axtschwinger mit einem Donnern, das in seinen Ohren dröhnte, und Axt und Orc stürzten zu Boden.

„Los doch, Kumpel!“, befahl Kurdran. Sein Sturmhammer kehrte zu ihm zurück, als er Sky’ree neben den überraschten Zwerg lenkte.

Der jüngere Wildhammerkrieger nickte, beugte sich vor, um den Beutel von Khadgar aufzunehmen, und spornte dann seinen Greif mit Hacke, Knie und Ellbogen an.

Der reagierte sofort, schlug mit den Flügeln und schoss pfeilgleich in das kollabierende Portal.

Doch als er unter den zusammenbrechenden Säulen anhielt, leuchtete der Beutel auf, das Portal reagierte, und die Lichtflut blendete sie.

Turalyon hörte den Greif vor Schmerz brüllen, und der Zwerg schrie ebenso, aber Turalyon konnte nicht sehen, was mit ihnen passiert war. Die schrecklichen Geräusche wurden von dem wilden Rumpeln übertönt.

Bevor er begriff, was geschehen war, gab es einen ohrenbetäubenden Knall, und Khadgar flog rückwärts. Er krachte zu Boden und war für eine Sekunde ohnmächtig. Als er kurz danach zu sich kam, keuchend, kaum in der Lage zu atmen, spähte er sofort zum Portal.

Es war verschwunden.

Die riesigen Statuen waren zu unkenntlichen Blöcken zerfallen. Die drei Säulen, die das Tor gebildet hatten, waren nichts anderes mehr als Schutt.

Man konnte Azeroth nicht mehr sehen.

Sie hatten es geschafft. Sie hatten den Spalt zerstört... und das Portal. Und jetzt waren sie für immer abgeschnitten von allem, was sie kannten.

Um ihn herum kamen die Angehörigen der Horde und der Allianz wieder auf die Beine. Und Draenor bockte erneut.

Die Orcs flogen hoch und erkannten im Gegensatz zu Khadgar nicht, dass sie nirgendwohin flüchten konnten.

Der Zusammenbruch des Portals hatte Draenor offensichtlich noch weitere Wunden zugefügt, und das Beben steigerte sich in seiner Stärke und Frequenz.

Sie wurden permanent geschaukelt und hin und her geworfen, als befänden sie sich in einer Nußschale auf rauer See. Der Boden wellte sich wie Wasser, und der Himmel war dichter als Nebel.

Was für ein schmachvoller Tod, dachte Khadgar mit ein wenig trockenem Humor. Wenn einem das Hirn von einem Klumpen Erde herausgeschlagen wird.

Er sah sich ein letztes Mal nach seinen Freunden um. Danath stand und bekämpfte Orcs, die noch nicht geflohen waren. Alleria war hingefallen. Turalyon half ihr auf die Beine und wickelte rasch einen provisorischen Verband um eine böse Wunde an ihrem Arm.

Vielleicht, weil er Khadgars Blick spürte, schaute Turalyon auf. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment, und Turalyon lächelte so ruhig und freundlich, wie Khadgar es von dem Paladin kannte. Alleria sah zu dem Erzmagier und nickte. Das helle Blond ihrer Haare war mit Staub überzogen, und hier und da war auch Blut. Kurdran ritt immer noch auf dem fliegenden Sky’ree und grüßte mit dem Hammer.

Und so würde es enden. Khadgar hatte immer vermutet, dass sie dies nicht überleben würden, aber er war dankbar, dass sie das Portal hatten schließen können und ihre Welt damit gerettet hatten. Und er war ebenso dankbar dafür, dass, wenn sie denn sterben mussten – was, wie er überlegte, alle Menschen einmal mussten –, dies hier und gemeinsam mit seinen Freunden geschah. Seite an Seite kämpfend, wie sie es immer getan hatten.

Ein schwaches Glimmen erreichte sein Auge.

Er blinzelte. Nein, es war tatsächlich da. Ein verwaschener Schemen prangte auf dem Stoff aus Zeit und Raum. Ein weiterer Spalt.

Eine weitere Welt. Eine, die vielleicht nicht gerade zugrunde ging.

„Da!“, brüllte er, so laut er konnte, und wies auf den Spalt. „Wir gehen da durch! Es ist unsere einzige Chance zu entkommen!“

Turalyon und Alleria blickten einander an. Khadgar konnte nicht verstehen, was sie in dem ohrenbetäubenden Lärm sagten. Aber er sah, wie sie sich einen Moment lang festhielten, die Hände miteinander verbunden, und sich dann dem Spalt zuwandten.

Sie waren alle durch das Dunkle Portal nach Draenor gereist.

Aber damals hatten sie wenigstens eine vage Vorstellung gehabt, was sie vorfinden würden. Doch hier...

Draenors Todeszuckungen hielten an, und Khadgar fiel schwer zu Boden. Er stand wieder auf. Mit aufgeschlagenen Knien und Handflächen sah er zum Spalt. War er die Erlösung, oder barg er ein schlimmeres Schicksal? Khadgar wusste es nicht. Niemand wusste es.

Sie mussten es herausfinden... auf die eine oder andere Weise.

Khadgar – Erzmagier, alter Mann, junger Mann – schluckte schwer und warf sich hindurch.

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