18

Alleria hatte die Nacht mit Turalyon verbracht. Sie hatten lange miteinander geredet und die Kluft überbrückt, die sie beide getrennt hatte. Als sie nicht mehr weiterreden konnten, ließen sie ihre Herzen und Körper die Heilung abschließen.

Am Morgen waren sie gemeinsam aufgestanden. Ihre Freunde hatten wissend gelächelt. Aber die beiden wussten, dass sie sich nur aufrichtig mit ihnen freuten. Und wenn sie beide heute dem Tod gegenübertraten, würden sie es in der Gewissheit tun, dass im Falle eines Überlebens wahres Glück auf sie wartete.

Und sie würden es überleben. Turalyon würde nicht zulassen, dass Alleria starb. Nicht jetzt, wo sie sich gerade erst wiedergefunden hatten.

Er hatte ihre Stirn geküsst, und sie war mit ihren Waldläufern vor dem Morgengrauen losgezogen. Sie hatten Signale vereinbart und sich auf eine Angriffszeit geeinigt.

„Sobald wir den Wachtturm eingenommen haben, löschen wir zehn Herzschläge lang das Licht, dann entzünden wir es wieder“, hatte sie gesagt. „Wenn wir die Zitadelle bis Sonnenaufgang nicht erobert haben sollten, dann greift trotzdem an. Denn eine Stunde später können euch die Orcs sowieso sehen, und der Plan wäre zum Scheitern verurteilt.“

Er nickte. Turalyon hatte sich damit abgefunden, dass sie ohne ihn kämpfen würde. Er wusste, dass sie keine unnötigen Risiken einging. Sie war wieder ganz sie selbst.

Danath würde den Ablenkungsangriff ausführen, und Turalyon würde mit dem Hauptangriff beginnen, sobald die Horde den Kampf aufgenommen hatte. Danath und seine Männer waren in der Unterzahl, doch nicht für sehr lange.

„Es wird für ein Weilchen ziemlich unangenehm werden“, hatte Turalyon ihn ermahnt. „Du musst dich einfach darauf verlassen, dass alles nach Plan läuft.“ Er hatte gezögert. „Es könnte sein, dass dieses Gefecht dich an die Schlacht am Portal erinnert, Danath.“

Danath hatte seinen Kommandanten mit festem Blick angesehen. „Nein, das wird nicht geschehen. Dieses Mal überraschen wir die grünen Bastarde. Ich verlasse mich auf dich, Turalyon. Die Geister der toten Streiter kämpfen mit uns. Sie werden in Frieden ruhen können, wenn wir es schaffen, die Orcs zwischen zwei Fronten einzukesseln.“

Turalyon hatte ein wenig gezittert. „Danath...“

Doch Danath hatte abgewunken. „Ich bin nicht lebensmüde“, versicherte er. „Mach dir darum keine Sorgen. Ich will eines Tages nach Hause kommen und diese Kämpfer hier mitbringen. Ich will keinen dieser verdammten Briefe mehr schreiben, die mit einem ,Mit tiefem Bedauern’ beginnen.“

Turalyon hatte seinen Stellvertreter an der Schulter gefasst und genickt. Danath würde die Orcs lange genug beschäftigen, damit die zweite Gruppe sie wie eine Flut hinwegspülen konnte.

Kurdran, seine Greifenreiter, Khadgar und ein paar weitere Zauberer würden zu dieser zweiten Gruppe gehören. Turalyon würde den Magier vermissen. Sie waren zusammen durch den Zweiten Krieg gegangen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ohne Khadgar an seiner Seite in die Schlacht zu ziehen. Aber wenn alles gut ging, waren sie bald wieder vereint und feierten den Sieg gemeinsam.

Jetzt wartete er in der Kühle vor dem Sonnenaufgang auf das vereinbarte Signal. Danaths Gruppe würde von der anderen Seite auf Pferden angreifen und laut rufen, während Turalyons Gruppe sich vorsichtig schleichend zu Fuß bewegte. Sie mussten nah genug dran sein, um das Signal zu hören. Zugleich würden sie weit genug von der Zitadelle entfernt sein, sodass die Dunkelheit sie schützend verbarg.

Er spähte zu der Festung und studierte die solide Mauer, die sie umgab. In regelmäßigen Abständen brannten Feuer, die gerade genug Licht spendeten, dass man die eisernen Zinnen erahnen konnte. Gezackt, mächtig, dunkel – das Gebäude hatte eine beeindruckende Präsenz.

Turalyon wurde plötzlich bewusst, dass sie nicht nur die Orcs innerhalb der Mauern besiegen mussten, sondern auch... die Festung selbst. Sie war hässlich, gleichermaßen eckig und organisch geformt, als wäre sie eine gewaltige Bestie, deren Fleisch an einigen Stellen fehlte, um die Knochen zu enthüllen, die ihr den Halt schenkten.

Er schaute auf die Feuer in den Wachttürmen, bis ihm die Augen schmerzten. Da... eines war erloschen. Und wurde dann neu entzündet.

Nachdem das letzte Licht gelöscht und neu entfacht worden war, hörte Turalyon menschliche Stimmen, die Kriegsrufe ausstießen, und das Getrappel von Hufen. Er wollte unbedingt mit dem Angriff beginnen, aber er zwang sich zur Geduld. Die Waldläufer würden Zeit brauchen, um das Tor zu öffnen. Der Plan funktionierte nur, wenn die Orcs, die den Eingang bewachten, in den Kampf mit Danaths Männern verwickelt wurden.

Jede Sekunde wurde zur Qual. Schließlich aber, als er Waffengeklirr und orcische Kriegsschreie hörte, die sich mit denen seiner Männer mischten, wusste er, dass der rechte Augenblick gekommen war. Turalyon führte seinen Hammer auf Augenhöhe, wo der stumpfe Metallkopf der Waffe das frühe Morgenlicht einfing.

„Möge das Heilige Licht uns Stärke geben“, sagte er leise, und alle um ihn herum nickten. Ein Murmeln breitete sich aus, als sein Hammer zu leuchten begann und schließlich von innen heraus glühte. „Möge es uns in diesem Kampf führen – zum Sieg, zu Ehre und Ruhm.“ Einen Augenblick lang schien der Hammer nur aus weißem Licht zu bestehen. Dann breitete sich das Licht darüber hinaus aus, strahlte über sie hinweg, und Turalyon wusste, dass die anderen dieselbe Stärke, denselben Frieden verspürten wie er. Eine schwache Aura blieb bei dem Hammer und bei jedem Einzelnen von ihnen. Er lächelte angesichts des offensichtlichen Zeichens der Segnung durch das Licht.

Turalyon führte seine Männer im Eilschritt auf die Mauern zu. Die Zitadelle ragte vor ihnen auf, und je näher sie kamen, desto bedrückender und gigantischer erschien sie ihnen. Er konnte jetzt die Tore sehen, die wie ein Maul in einem hässlichen Gesicht wirkten.

Und gerade als er sich fragte, ob er den Angriff zum falschen Zeitpunkt begonnen hatte, öffneten sich die Tore.

„Sie hat es geschafft“, flüsterte einer der Männer.

„Natürlich hat sie es geschafft“, sagte Turalyon leise. „Sie ist schließlich Alleria Windläufer.“ Beim Licht, wie sehr er sie liebte!

Sie waren nicht die Einzigen, die gemerkt hatten, dass sich die Tore öffneten. Gerade, als Alleria und ihre Waldläufer vorpreschten, um sich mit Turalyons Gruppe zu vereinen, rannte eine Handvoll Orcs hinter ihnen her. Turalyon erspähte Allerias goldenes Haar und lief ihr entgegen. Sein Hammer erhob sich fast wie von selbst und begann erneut aufzuglimmen. Ein strahlendes Weiß leuchtete über seinem Kopf. Das erregte die Aufmerksamkeit eines Orcs. Der Krieger ließ von den Waldläufern ab und wandte sich Turalyon zu. Der Orc griff an, und einen Moment lang glaubte Turalyon, er sei waffenlos und irre. Bis er die Klinge der Grünhaut sah, die eine ihrer Hände ersetzte.

„Für die Söhne Lothars!“, rief der Paladin. Er musste sich nicht mehr darum sorgen, ob ihn jemand bemerkte. Turalyon ließ den Hammer herunterkrachen und zertrümmerte den Schädel des Orcs. Als er fiel, wirbelte Turalyon mit seiner Waffe herum und streifte einen Gegner vor sich, bevor er einen anderen Orc zermalmte.

Ein weiterer Kämpfer lief auf ihn zu, aber plötzlich ragte ein Pfeil aus dessen linkem Auge, und er fiel geräuschlos um. Ein fünfter knurrte wütend und wirbelte mit seinem schweren Knüppel herum, aber Alleria sprang vor, duckte sich unter dem Schlag hindurch und stieß ihr Schwert in die Kehle der grünhäutigen Kreatur. Die Klinge kam aus dem Hinterkopf wieder heraus.

Turalyon fuhr herum und tötete einen weiteren Orc. Dann lief er die Treppen hinauf. Alleria, ihre Waldläufer und seine Männer folgten ihm.

Turalyon traf auf einen Trupp Orcs, als er auf halber Höhe um die Ecke bog. Die Krieger waren sowohl in Zahl, Stärke als auch Position überlegen. Aber der Paladin hatte die Wucht und die Entschlossenheit auf seiner Seite. Er hielt seinen Hammer vor sich. Seine Hände lagen fast am Hammerkopf, und er benutzte die Waffe wie eine Ramme. So stürmte er damit in einen Orc nach dem anderen.

Die Wucht des Aufpralls erschütterte ihn, und er musste darum kämpfen, nicht zurückzutaumeln. Doch die Orcs wurden beiseitegefegt, entweder an die Wand gepresst, oder sie stürzten von der Treppe. Die Krieger, die geistesgegenwärtig genug waren, sich zu wehren, wurden von Allerias Pfeilen oder denen ihrer Waldläufer durchbohrt. Und jeder Orc, den Turalyon nicht tötete, wurde von den Männern hinter ihm erledigt.

Was als nur wenige Minuten erschien, hatte vermutlich viel länger gedauert, und schließlich erreichte er die Spitze. Die Wälle der Zitadelle lagen vor ihm.

Sie waren viel größer als die der Ehrenwache, aber weniger glatt und merkwürdig geformt. Einige Orcs befanden sich dort. Sie trugen Speere in der Hand und waren bereit, sie in die angreifende Armee zu schleudern. Doch der größte Teil der Horde kämpfte unten beim Tor. Turalyon bemerkte lange, dunkle Schemen, die über ihm kreisten. Das mussten die schwarzen Drachen sein, die nur darauf warteten, in die Schlacht einzugreifen.

„Allianz zu mir!“, brüllte Turalyon, hielt seinen Hammer hoch und rannte zum Rand der Mauer. „Allianz zu mir!“ Von hier aus sah er Danath, der vor seiner Gruppe herritt. Der Krieger erhob sein Schwert zum Gruß. Er war mit Blut beschmiert, aber es war kein rotes Menschenblut. Er hatte nicht einen Mann verloren. Das Licht war auf ihrer Seite!

Dann wurde Turalyon bewusst, dass sich hier oben noch Orcs befanden, und bald war er damit beschäftigt, sich selbst zu verteidigen und die Wälle von den Gegnern zu befreien.

Kriegsgeräusche erklangen von überall her: Metall schlug gegen Metall, Stein gegen Plattenpanzer, Fleisch gegen Fleisch; dazu ertönten Knurren, Gebrüll und Schreie. Alles schien im Chaos zu versinken. Hier blitzte das Grün der Orcs und das Rosa der Menschen, dort das Braun, Gelb und Schwarz der Pferde. Dazwischen schimmerten Rüstungen, und immer wieder war der stumpfe Glanz von Äxten und Hämmern zu sehen.

Als er einmal einen Blick um sich werfen konnte, entdeckte Turalyon Danath, wie der Krieger einen Orc auf dem Schwert aufspießte, die Klinge freizog, herumwirbelte und einem anderen die Kehle durchtrennte.

Turalyon hatte gerade den letzten Orc erschlagen, als er lautes Kreischen von oben hörte. Er sah auf und bemerkte eine Wolke, die sich über der Zitadelle bildete. Sie brachte heiße Luft mit sich. Er grinste angesichts der feuchten Hitze. Die Wolke zerfaserte und bildete Nebel. Er bedeckte die Zitadelle, die Konturen verschwammen.

Der Nebel beeinflusste auch die Geräusche. Deshalb konnte Turalyon auch nicht sagen, woher der plötzliche Schrei kam. Vielleicht stammte er von den Drachen, vielleicht aber auch nicht. Die Echsen flogen in Kreisen, schauten sich um und suchten nach der Quelle des Geräuschs.

Sie mussten nicht lange forschen. Eine kleine Gestalt schoss aus dem Nebel hervor und fiel wie ein Stein auf den erschreckten Drachen. Als sie beinahe zusammenstießen, streckte sich die Gestalt. Lange Flügel breiteten sich aus, und der schnelle Sturz ging in kontrollierten Flug über.

Der Greif umkreiste den überraschten Drachen. Das Reptil schnappte wie ein Hund nach einem Insekt, aber die Kreatur, halb Adler und halb Löwe, war zu schnell. Sie glitt unter den Drachen, als dessen Riesenzähne sich da schlossen, wo sie gerade noch gewesen war. Der Drache folgte ihr. Er bäumte sich auf und stieß glühendes Magma aus.

Wieder waren der Greif und sein Reiter zu schnell. Über ein Dutzend Orcs schrien vor Schmerz auf, als der Drache versehentlich seine Verbündeten einäscherte. Er war zu sehr auf den schnellen Greif konzentriert, um mitzubekommen, was sein Angriff anrichtete.

Der Drache schrie vor Wut, krachte in die Zitadelle und zerbrach mit großem Getöse die soliden Mauern. Bevor er sich wieder sammeln konnte, stand der Wildhammerzwerg in seinen Bügeln auf und warf seinen Sturmhammer gegen die Bestie. Als er den Drachen am Auge traf, trieb ein lautes Donnern den Nebel auseinander, und das helle Sonnenlicht strömte herein.

Der Wildhammerzwerg brüllte, als der Hammer in seine Hand zurückflog. Gleichzeitig schnellte der Greif hoch. Das Sonnenlicht glitzerte auf seinen Federn.

Schockiert und benommen versuchte der Drache zu fliehen, aber der gnadenlose Wildhammerzwerg jagte ihn, erwischte ihn wiederholt am verwundeten Auge. Halb blind und benommen stürzte die Echse erneut in eine Mauer, die unter dem Aufprall nachgab. Der Drache fiel zur Erde und ließ sie durch sein hohes Gewicht erbeben.

Die übrigen Drachen schrien ihre Wut hinaus und schossen auf den einsamen Greifenreiter zu, der sich umwandte und auf sie wartete. Aber gerade, als sie sich ihm näherten, erschienen weitere Greife aus den Wolken und stürzten sich auf die Drachen. Jeder Drache war gut viermal so groß wie ein Greif, doch die Greife waren schnell und wendig. Sie umkreisten die großen Bestien und lockten sie zur Festung. Dort provozierten sie die Echsen zu wilden Angriffen, wodurch die Drachen ineinanderflogen, während sie vergeblich versuchten, die eleganten Lufttänzer zu schnappen.

Es schien, dass Kurdrans vorherige Behauptung tatsächlich wahr werden könnte. Seine Wildhammerzwerge hatten soviel Erfolg im Kampf gegen die Drachen, dass sie vielleicht wirklich zeitig genug fertig waren, um die Hauptstreitmacht noch unterstützen zu können.

Einer der Greife löste sich vom Rest und flog zu Turalyon. Er trug zwei Reiter, einer war klein, der andere viel größer. Der Größere sprang ab, als sie sich der breiten Steinbrüstung näherten. Sein violettes Gewand flatterte. Turalyon grinste. Es war Khadgar!

Der Magier winkte dem Wildhammerzwerg seinen Dank zu, der bereits zurück in die Luftschlacht flog. Dann wandte er sein von weißem Haar umrahmtes Gesicht dem Hauptturm zu, und seine Augen verengten sich dabei.

„Ich helfe dir, wenn ich hier fertig bin“, sagte der Magier zu Turalyon, nahm seinen Stab in die eine Hand und zog das Schwert mit der anderen. „Da ist jemand drin. Ein Oger-Magier. Um den muss ich mich zuerst kümmern.“

Turalyon nickte. Er hatte in den letzten Jahren genug Magie kennengelernt, um Khadgars Meinung in diesen Dingen zu respektieren. Von der Treppe kamen zwei Männer herübergelaufen, mit breitem Grinsen auf ihren Gesichtern. Bevor Turalyon fragen konnte, warum, hörte er Schritte aus ihrer Richtung. Und plötzlich erschienen weitere Gestalten. Alle trugen Rüstungen der Allianz.

„Herr Kommandant!“, rief einer im Näherkommen. „Wir haben den Nordflügel gesäubert!“

Turalyon nickte und erwiderte den Gruß der Soldaten. „Gut, ich lasse ein paar Mann hier zurück.“ Er schaute zu Alleria, die ihren Bogen bereit machte. „Der Rest von euch kommt mit mir. Wir durchstreifen die Zitadelle und stellen sicher, dass kein Orc übrig bleibt. Und dann öffnen wir die Tore für die anderen Männer.“

Sie jubelten, und er führte sie von der Brüstung herunter. Es war derselbe Weg, den Khadgar gerade genommen hatte. Nach einem kurzen Wegstück zweigte der Gang ab, und sie stiegen eine schmale Treppe hinab.

Wie Turalyon gehofft hatte, ging es geradewegs ins Herz der Orc-Festung, Und schon wenig später war der Paladin zu beschäftigt damit, Orcs zu bekämpfen, um sich noch Gedanken um Khadgar zu machen.


Khadgar bewegte sich langsam den Gang hinunter. Seine Sinne versuchten, den Bereich vor ihm zu erfassen. Der Oger war noch hier, das wusste er. Aber er schien nichts zu tun. Wirkte keine Sprüche, hielt keine Rituale ab. Er wartete nur.

Wartete auf ihn.

Der Gang endete am Türm, und Khadgar trat ein. Der Raum war groß und merkwürdig geformt. Nicht ganz rund und mit ungleichen Winkeln, als wäre er nicht gebaut, sondern aus dem Stein herausgehauen worden. Am Ende stand ein riesiger Thron, der aus gigantischen Knochen gefertigt schien.

Khadgar schauderte bei dem Gedanken daran, was für ein Tier dafür wohl hatte sterben müssen. Die hohe Rückenlehne erreichte fast die Decke, zu beiden Seiten standen Fackeln.

Aber der Thron war verwaist.

„Mein Meister ist fort“, erklang eine tiefe Stimme, als eine große Gestalt aus den Schatten trat und auf ihn zukam. Khadgar hatte schon früher Oger gesehen, aber das war auf dem Schlachtfeld gewesen, und er hatte sich mit den anderen Magiern in der Nachhut befunden, die aus der sicheren Distanz zuschlug. Das hier war seine erste Begegnung aus der Nähe, und er schluckte, als er aufsah... immer höher aufsah. Der Kopf der Kreatur erreichte beinahe die Decke. Und während seine Gesichtszüge plump wirkten, waren seine tief liegenden Augen voller Intelligenz.

Erst jetzt begriff er, was die Kreatur gesagt hatte und war dankbar für den Ring, der es ihm ermöglichte, sie zu verstehen. „Fort?“

Der Oger grinste, entblößte ein überraschend kleines Gebiss und große Reißzähne. „So ist es“, antwortete er. „Er ist schon vor einiger Zeit gegangen. Im Moment ist er unterwegs, um ein Ritual zu vollziehen, während die Allianz gegen uns kämpft.“ Die Kreatur schaute finster und bleckte die Zähne. „Wir sterben vielleicht, doch unser Tod sichert das Überleben der Horde. Sie wird Welten ohne Ende erobern!“

„Verdammt!“, fluchte Khadgar, als er begriff, was passiert war. Die Orcs hatten sie ausgetrickst! Sie hatten diesen Angriff nur zugelassen, damit Ner’zhul entkommen konnte. „Aber wenn wir schnell genug sind, können wir ihn immer noch einholen“, sagte er.

„Ihr könntet“, stimmte der Oger zu. „Nur musst du zuerst an mir vorbei.“ Er erhob seine Hände, jede davon größer als Khadgars Kopf, und sie begannen in einem Grün zu leuchten, das unter seiner Haut hervorzukommen schien. „Ich bin Dentarg vom Schattenmondklan.“

Dann also ein ehrenhaftes Duell.

„Khadgar von Dalaran“, antwortete Khadgar förmlich. Er erhob seinen Stab, und die Spitze leuchtete hellviolett.

Der Oger vollführte eine unbeholfene Verneigung. Dann griff er an. Die massigen Hände schossen vor, als wollten sie Khadgar zurückstoßen. Grünes Licht strahlte aus ihnen hervor. Es war eine Welle der Energie, die den Menschenmagier einzuhüllen und zu vernichten drohte. Khadgar erhob den Stab und das violette Licht wurde heller. Die grüne Woge teilte sich davor und verpuffte im Nichts.

Als Nächstes war Khadgar an der Reihe. Er wies mit dem Stab auf die Brust des Ogers. Das violette Licht schoss direkt auf das Herz des Ogers zu. Aber Dentarg schlug den Energiestrahl mit seinen Händen weg. Das grüne Licht, das ihn immer noch umgab, schützte den Oger vor jedem Schaden.

„Wir sind uns ebenbürtig“, bemerkte der Oger und schlug die Hände zusammen. Als er sie wieder ausbreitete, entstieg ihnen Finsternis, ein schwarzer Vorhang, der den Raum durchstreifte.

„Vielleicht“, antwortete Khadgar. Er hatte sich nicht bewegt, als die Dunkelheit sich ausbreitete, und binnen Sekunden war er aus der Sicht verschwunden, wie alles andere auch. Dank seiner anderen Sinne konnte Khadgar den Oger aber immer noch aufspüren, und er wusste, dass sein Gegner ihn suchte. Khadgar wartete noch einen Moment unbeweglich, dann schlug er mit dem Stab auf den Boden. Die Schockwelle teilte die Finsternis, brach sie auf, als wäre sie aus geschwärztem Glas, und hinterließ Scherben auf dem Boden.

Der Oger wurde gegen die Wand geworfen. Als Dentarg auf den Boden krachte, war die Erschütterung beinahe so stark wie die ursprüngliche Schockwelle. Der Oger brüllte vor Schmerz.

Khadgar rannte zu ihm hin. Das Licht um seinen Stab wurde heller, bis es ein Strahl hellen Lichts war, zu stark, um noch violett zu sein, obwohl ihm ein Hauch der Farbe weiter anhaftete. Er drückte dem Oger seinen Stab gegen die Kehle und hielt ihn dort fest. Dentarg schrie, sein Fleisch rauchte, wo der Stab es berührte.

Es war kein magischer Angriff, der den Oger rettete, sondern reiner Instinkt. Er hob Khadgar an und stand selber wieder auf. Auf seinem Hals konnte Khadgar eine verkohlte Linie erkennen. Dentarg knurrte, zeigte seine Reißzähne und griff Khadgar mit gesenktem Haupt an. Aber der Menschenmagier trat rasch beiseite und schlug mit dem Stab zu, als der Oger an ihm vorbeistürmte. Dabei schlitzte er ihm den Oberarm auf.

Dentargs Schrei wechselte von Wut zu Schmerz. Grünes Licht stieg wieder von seinen Händen auf, obwohl es hier und da aufflackerte und rote Blitze dazwischenzuckten. Er führte wieder die Hände zusammen und baute die Energie dazwischen auf, bis er eine Kugel reiner Magie erzeugt hatte, die vor Hass nur so zischte. Er warf sie Khadgar zu und legte all seine Kraft hinein.

Khadgar beobachtete die sich schnell nähernde Kugel ruhig. Dann steckte er sein Schwert weg und streckte seine Hand mit der Handfläche nach oben aus. Die Kugel traf die Handfläche, verband sich mit seiner Haut... und verschwand.

Absorbiert, spurlos.

„Danke“, sagte er zu dem erstaunten Oger. „Jetzt geht es mir viel besser.“ Khadgar stampfte mit dem Fuß auf, und erneut erschütterte eine Schockwelle Dentarg. Der Oger fiel auf die Knie und verneigte seinen Kopf. Er wusste, dass ihm sein Gegner überlegen war.

Khadgar ersparte ihm jede weitere Demütigung, zog erneut sein Schwert und schlug mit aller Kraft auf den Hals seines Gegners. Fleisch und Knochen wurden sauber durchtrennt. Als der Kopf des Ogers über den Boden rollte und Blut verspritzte, trat Khadgar zurück.

Einen Moment lang schöpfte er Atem und sah sich im Thronsaal um, obwohl er wusste, dass Dentarg nicht gelogen hatte. Er schaute auf den Leichnam des Ogers und nickte zufrieden, dann lief er zurück, um Turalyon zu finden.

Sie mussten sich beeilen.


„Gute Neuigkeiten!“, rief Turalyon, als er Khadgar wieder erblickte. „Wir haben die Zitadelle erobert!“

„Wir wurden ausgetrickst“, sagte Khadgar ohne Vorrede. „Ner’zhul ist nicht hier. Er ist rechtzeitig vor dem Angriff geflohen. Die Artefakte muss er mitgenommen haben. Ich frage mich, ob er den Schädel auch dabeihat.“

Turalyon schaute ihn an. „Es war alles nur eine Ablenkung?“

„Und wir sind darauf hereingefallen“, bestätigte Khadgar.

Turalyon furchte die Stirn und versuchte, selbst darin noch etwas Gutes zu erkennen. „Trotzdem, das war sicherlich die Hauptstreitmacht ihrer Krieger. Und wir haben sie vernichtet! Wir haben auch die Zitadelle eingenommen. Selbst wenn Ner’zhul nicht hier ist, war das dennoch ihr Hauptquartier, und das gehört jetzt uns. Ihre militärische Macht ist gebrochen.“

„Ja, sie werden keiner anderen Armee mehr gegenübertreten“, sagte Danath, der gerade rechtzeitig kam, um das Ende von Turalyons Aussage zu hören. Seine Rüstung war an einigen Stellen verbeult, und er hatte mehrere Schnitte an Armen, Beinen und im Gesicht. Aber die Verletzungen schienen ihm nichts auszumachen, als er hereingeritten kam und abstieg. Turalyon schlug ihm auf die Schulter, froh, dass sein Stellvertreter überlebt hatte.

„Du hast gute Arbeit geleistet“, sagte er, an Danath gewandt. „Aber Khadgar hat schlechte Neuigkeiten. Ner’zhul ist nicht hier, er wusste offensichtlich, dass wir angreifen würden, und hat sich aus dem Staub gemacht. Und wir glauben, dass er die Artefakte mitgenommen hat.“

Alleria und Kurdran trafen ebenfalls ein, und Turalyon unterrichtete auch sie.

„Nun, dann sollten wir ihnen so schnell wie möglich folgen, oder?“, antwortete Kurdran.

„Weißt du, wo sie hinwollen?“, fragte Alleria.

„Keine Ahnung“, sagte Khadgar. „Aber das finde ich heraus.“ Er lächelte. „Ich kenne Gul’dans magische Aura noch aus dem Krieg. Und das Auge von Dalaran ist mir ebenso vertraut. Ich kann beide aufspüren.“

Die anderen traten zurück, als er die Augen schloss und etwas murmelte. Die Luft um ihn herum schien leicht zu schimmern, und aus dem Nichts kam Wind auf, der an ihren Haaren und der Kleidung zerrte. Dann plötzlich öffneten sich die Augen des Magiers. Eine Sekunde lang glühten sie hellweiß, und merkwürdige Bilder tanzten darin herum.

Turalyon schauderte und sah weg. Als er sich schließlich umdrehte, waren die Augen seines Freundes wieder normal.

„Ich habe sie gefunden“, berichtete Khadgar und lehnte sich gegen seinen Stab. „Es war nicht leicht. Offensichtlich sind sie an zwei unterschiedlichen Orten.“

Alleria schüttelte den Kopf. „Der Schädel und das Auge sind nicht zusammen? Warum sollte Ner’zhul das zulassen?“

„Das weiß ich nicht, doch so ist es. Der Schädel ist in Richtung Norden unterwegs, aber das Auge geht nach Südwesten, in eine Gegend, die, wie ich glaube, die Wälder von Terokkar heißt. Dort habe ich das Buch von Medivh aufgespürt, weshalb ich glaube, dass sich auch Ner’zhul dort befindet. Ich hatte angenommen, dass er den Schädel für das Ritual braucht. So wie ich das Buch und den Schädel benötige, um das Portal zu schließen. Aber offensichtlich hat er den Schädel woanders hingeschickt, auch wenn ich mir nicht erklären kann, warum.“

„Und du brauchst beides? Den Schädel und das Buch?“, fragte Turalyon.

„Ja“, antwortete Khadgar. „Ich kann den Spalt ohne sie nicht vollständig schließen.“

Turalyon nickte. „Dann müssen wir eben beiden hinterher“, beschloss er. Er sah die anderen an und erwog die Optionen. „Danath, ich vermute mal, du würdest gern noch ein paar Orcs töten.“

„Allerdings, das würde ich.“

Turalyon seufzte. Es schmerzte, diejenigen, die er so mochte, derart rachedurstig zu erleben. Aber wer war er, darüber zu urteilen? Er hatte nicht miterleben müssen, wie sein ganzer Verband niedergemetzelt wurde, während er floh, um Hilfe zu holen. Danath musste auf seine Art und Weise seinen Frieden finden, so wie Alleria es schließlich auch geschafft hatte. Er würde lernen müssen, dass man auch ohne Hass im Herzen kämpfen konnte... für etwas kämpfen statt dagegen.

„Dann folge du Ner’zhul. Er ist uns ein gutes Stück voraus. Kurdran, du und deine Greifenreiter, ihr erkundet den Weg und findet Ner’zhul und seine Begleiter. Attackiert sie sofort. Tötet sie oder verlangsamt sie zumindest und meldet euch dann bei Danath. Er folgt euch mit Bodentruppen.“

„Nehmt einige meiner Waldläufer zum Erkunden mit“, bot Alleria an.

Turalyon lächelte ihr dankend zu und sagte, an Danath gewandt: „Deine Aufgabe ist es, Ner’zhul zu vernichten und diese drei Artefakte zurückzubringen.“

„Das ist schon so gut wie erledigt“, antwortete Kurdran und ging zu seinem Greif. Danath nickte, salutierte und entfernte sich ebenfalls, um seine Männer zu sammeln und sich für die Reise bereit zu machen.

Turalyon wandte sich an Alleria und Khadgar. „Ich muss mich darum kümmern, den Schädel zu bekommen und das Portal zu schließen. Khadgar, du bist der Einzige, der dieses verdammte Ding aufspüren kann. Und Alleria...“ Er lächelte sanft. „Ich habe dir versprochen, dich niemals zurückzulassen.“

„Das hast du tatsächlich, mein Schatz. Und glaube ja nicht, dass ich das vergessen habe.“

Er streckte eine Hand aus, und sie nahm sie und drückte sie kurz. Sie würden sich nie mehr trennen... nicht vor dem allerletzten Mal.

Und vielleicht nicht einmal dann.

Sie grinste. „Los geht’s.“

Zusammen wandten sich die drei Freunde von der eroberten Zitadelle und dem Portal in der Ferne ab. Sie würden das makabre Relikt finden, das den Spalt für immer schließen konnte – oder bei dem Versuch, es in ihre Hand zu bekommen, sterben.

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