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„Ner’zhul!“

Blutschatten und Gaz Soulripper betraten das Dorf, als gehörte es ihnen. Eilig stapften sie über den festgetretenen Staub. Neugierige Bewohner streckten die Köpfe aus den Türen oder Fenstern ihrer Hütten, aber nur um sich sofort wieder zurückzuziehen, als die Eindringlinge sie mit einem unheilvollen Blick aus ihren widernatürlich leuchtenden Augen bedachten.

„Ner’zhul!“, rief Blutschatten erneut in schneidendem Befehlston. „Ich will mit dir reden!“

„Ich kenne dich nicht“, knurrte ein Stimme hinter ihm. „Und ich will dich auch nicht kennenlernen. Du befindest dich auf dem Land des Schattenmondklans. Geh – oder stirb.“

„Ich muss mit Ner’zhul reden“, antwortete der Todesritter und wandte sich dem kräftigen Krieger zu, der sich bedrohlich hinter ihm aufgebaut hatte. „Sag ihm, dass Teron Blutschatten da ist.“

Der Orc reagierte bestürzt auf den Namen. „Blutschatten? Du bist ein Todesritter?“ Er verzog das Gesicht und präsentierte, während er Blutschatten und seinen Begleiter musterte, drohend seine Hauer. Dann raffte er offensichtlich allen Mut zusammen. „Ihr seht nicht so gefährlich aus.“

„Wir sind gefährlich genug“, antwortete Soulripper. Er wandte sich ab und nickte jemandem zu, den der Orc nicht sehen konnte. Mehrere Gestalten, deren Gesichter unter den Kapuzen verhüllt waren, traten mit glühenden Augen aus den Schatten der Dorfhütten und bauten sich neben ihrem Anführer auf. Blutschatten lachte, und der Orc schluckte. „Nun hol deinen Meister, damit dir deine Überheblichkeit nicht zum Verhängnis wird.“

„Ner’zhul empfängt niemanden“, erwiderte der Orc. Er begann zu schwitzen, hatte aber offensichtlich seine Befehle, an die er sich halten wollte.

Blutschatten seufzte, ein merkwürdig pfeifendes Geräusch entströmte seinen toten Lungen.

„Dann eben das Verhängnis“, sagte er. Bevor der Orc auch nur eine Antwort geben konnte, schnellte Blutschattens gepanzerte Hand vor, dazu murmelte er etwas.

Der Krieger schnappte nach Luft und fiel auf die Knie. Blutschatten machte eine Faust, und plötzlich lief Blut aus Nase, Augen und Mund des unglücklichen Orcs. Blutschatten hatte sich bereits abgewandt und sein Interesse an der Folterung des unbedeutenden Individuums verloren.

„Schwarze Magie!“, rief einer der Schattenmondkrieger und griff zu seiner Axt. „Tötet die Zauberer, bevor sie uns alle umbringen!“

Seine Mitstreiter machten sich bereit.

Blutschatten wirbelte herum, und seine leuchtenden Augen zogen sich zusammen. „Wenn ihr alle sterben wollt, dann sei es so. Aber ich werde mit Ner’zhul sprechen!“ Dieses Mal streckte er beide Hände aus, und Finsternis umwirbelte seine Fingerspitzen. Sie dehnte sich wie eine schwarze Flamme aus. Der Orc, der die Axt gezogen hatte, und seine Kameraden wurden umgeworfen. Sie wanden sich auf dem Boden und brüllten vor Schmerz.

„Aufhören! Es hat bereits genug Tote gegeben!“

Die Stimme des alten Orcs war voller Autorität. Blutschatten senkte die Arme. Seine Begleiter taten es ihm gleich und beobachteten ihren Anführer.

„Da bist du ja, Ner’zhul“, sagte Blutschatten betont. „Ich hatte mir schon gedacht, dass ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise erringen kann.“ Er wandte sich Ner’zhul zu und war ein wenig überrascht, als er bemerkte, dass das Gesicht des alten Orcs weiß bemalt war. Es wirkte fast wie ein Totenschädel. Als sich ihre Blicke kreuzten, weiteten sich Ner’zhuls Augen.

„Ich... habe von dir geträumt“, murmelte er. „Ich hatte Visionen vom Tod, und jetzt bist du hier.“ Seine langen, grünen Finger berührten den Totenschädel, zu dem sein Gesicht geschminkt war. „Zwei Jahre lang habe ich davon geträumt. Und jetzt bist du zu mir gekommen. Zu uns allen. Du bist hier, um meine Seele zu holen!“

„Absolut nicht. Ich bin hier, um dich zu retten. Aber... du hast teilweise recht. Ich bin deinetwegen hier, allerdings aus anderen Gründen, als du glaubst. Ich will dich zum Anführer machen.“

Ner’zhul war verwirrt. „Anführer? Warum? Damit ich der Horde noch mehr Schaden zufügen kann? Habe ich nicht schon genug angerichtet?“ Der Blick des alten Schamanen wirkte gehetzt. „Nein, so etwas mache ich nicht mehr. Ich habe unser Volk einst direkt in Gul’dans Arme getrieben – und unsere Welt in den Untergang. Die Horde führte ich in eine Schlacht, die uns beinahe vernichtet hätte. Such dir deinen Anführer woanders.“

Blutschatten furchte die Stirn. Es lief nicht wie erwartet, und er konnte Ner’zhul nicht – so wie dessen Klansbrüder – einfach umbringen. Er versuchte es erneut. „Die Horde braucht dich.“

„Die Horde ist tot!“, zischte Ner’zhul. „Die Hälfte unseres Volkes ist fort, gefangen auf dieser schrecklichen Welt und für immer verloren! Wen also sollte ich anführen?“

„Sie sind nicht für immer verloren“, antwortete Blutschatten, und die kühle Sicherheit in seiner Stimme ließ Ner’zhul aufhorchen. „Das Portal ist zerstört, aber es kann repariert werden.“

Das sicherte ihm Ner’zhuls Aufmerksamkeit. „Was? Wie?“

„Ein kleiner Spalt ist auf Azeroth geblieben“, erklärte Blutschatten. „Und diese Seite ist immer noch intakt. Ich habe beim Bau des Dunklen Portals geholfen, ich kann es noch spüren. Ich vermag dir dabei zu helfen, den Spalt so zu erweitern, dass die Horde in der Lage ist, ihn zu passieren.“

Der Schamane schien das einen Moment lang in Betracht zu ziehen, dann aber schüttelte er den Kopf und fiel sichtbar in sich zusammen. „Was hätten wir davon? Die Allianz ist ein zu mächtiger Gegner. Die Horde wird nie gegen sie gewinnen. Unser Volk ist schon so gut wie tot. Alles, was uns bleibt, ist die Wahl der Todesart.“ Wieder berührten seine Finger unbewusst das aufgemalte Gesicht.

Seine Schwäche ekelte Blutschatten an. Man konnte sich kaum vorstellen, dass dieses Wrack, besessen vom eigenen Tod und dem der anderen, einst so geachtet gewesen war.

Doch bedauerlicherweise brauchte er ihn.

„Der Tod ist nicht die einzige Wahl. Nicht, wenn wir das Portal neu errichten und benutzen“, konterte Blutschatten und zwang sich zur Ruhe. „Wir müssen gar nicht gewinnen, wir müssen nicht einmal gegen die Allianz kämpfen. Ich habe einen anderen Plan für die Horde. Wenn ich bestimmte Artefakte in die Hände bekäme... nun, ich habe ein paar Dinge bei Gul’dan gelernt, die...“

„Gul’dan und seine verqueren Pläne. Die reichen sogar über den Tod hinaus und vernichten weiter Leben!“ Ner’zhul starrte Blutschatten finster an. „Du und deine Pläne! Und wie viel Macht erhältst du, wenn du Erfolg hast? Denn Macht ist doch das Einzige, wonach ihr Bastarde vom Schattenrat strebt!“

Blutschattens Geduld, ohnehin noch nie sehr groß, war am Ende. Er packte den alten Schamanen an den Armen und schüttelte ihn wild. „Zwei Jahre sind seit der Zerstörung des Portals vergangen, und du hast dich in deinem Dorf versteckt, während sich die Klans gegenseitig abgeschlachtet haben. Sie bedürfen nur der Führung, dann sind sie wieder mächtig! Mit deinen Anhängern und meinen Todesrittern können wir die Klans dazu zwingen, dass sie dir gehorchen. Nachdem Schicksalshammer tot oder gefangen ist, bist du der Einzige, der sie führen kann. Ich habe das Portal untersucht, den Schaden abgeschätzt, und wie ich bereits sagte, habe ich eine Lösung. Ich habe einige Todesritter dorthin geschickt. Während wir uns hier unterhalten, arbeiten sie an Zaubern, um das Tor wieder zu öffnen. Ich bin mir sicher, dass es gelingt.“

„Und wie sieht die Lösung aus?“, spie Ner’zhul bitter hervor. „Ist dir ein Weg eingefallen, wie wir nach Azeroth zurückkehren und den Krieg gewinnen können, den wir vor zwei Jahren verloren haben? Ich glaube nicht. Wir werden niemals gewinnen.“ Er wandte sich ab und machte einen Schritt auf seine Hütte zu.

„Vergiss den Krieg! Hör mir zu, alter Mann!“, rief ihm der Todesritter nach. „Wir müssen die Allianz nicht besiegen, weil wir Azeroth nicht erobern müssen.“

Ner’zhul blieb stehen und sah ihn an. „Aber du hast gesagt, du könntest das Portal wieder öffnen. Wenn wir nicht nach Azeroth wollen, ist das doch völlig überflüssig.“

„Wir werden dorthin zurückkehren. Allerdings nicht, um zu kämpfen.“ Blutschatten trat neben ihn. „Wir müssen nur ein paar Artefakte suchen und herbringen. Wenn wir sie erst haben, verlassen wir Azeroth und kehren niemals zurück.“

„Und bleiben hier?“ Ner’zhul wies mit seiner Hand auf das ausgedörrte Land, das sie umgab. „Du weißt so gut wie ich, dass Draenor stirbt. Bald schon wird es uns Zurückgebliebene nicht mehr ernähren können.“

Blutschatten konnte sich nicht daran erinnern, dass der Schamane früher derart langsam von Begriff gewesen war. „Das muss es auch nicht“, versicherte er ihm. Dabei sprach er langsam, wie zu einem Kind. „Wenn wir diese Artefakte haben, können wir sowohl Azeroth als auch Draenor verlassen und anderswohin gehen. Wo es besser ist.“

Jetzt hatte er Ner’zhuls volle Aufmerksamkeit. Ein Hauch von Hoffnung breitete sich über dessen weiß bemaltes Gesicht. Einen langen Moment lang überlegte Ner’zhul, ob er sich lieber in die Abgeschiedenheit des Selbstmitleids zurückziehen... oder die neuen Möglichkeiten akzeptieren sollte.

„Hast du einen Plan?“, fragte ihn der alte Schamane schließlich.

„Allerdings.“

Es folgte eine lange Pause. Blutschatten wartete.

„Ich werde dir zuhören.“ Ner’zhul wandte sich ab und ging zurück in seine Hütte.

Aber diesmal folgten ihm Teron Blutschatten, die Hexenmeister und die Todesritter.

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