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Antonidas, Erzmagier und Anführer der Kirin Tor, saß in seinem Studierzimmer und las eine neu eingetroffene Schriftrolle. Die Nachricht war besorgniserregend: Admiral Prachtmeer berichtete, dass eine Gruppe Orcs mehrere Boote aus dem Hafen von Menethil gestohlen hatte. Schlimmer noch: Als er sie verfolgte, waren Prachtmeers Schiffe von Drachen zurückgetrieben worden.

Schwarzen Drachen.

Antonidas spürte ein Pochen an der Schläfe und rieb sich darüber. Während des Zweiten Krieges hatte die Horde irgendwie die Unterstützung durch die roten Drachen erhalten. Und jetzt, nachdem das Portal erneuert worden war, schienen sie sich auch noch mit den schwarzen Drachen verbündet zu haben.

Das war fast unglaublich. Zwei Drachenarten? Wie konnte die Allianz dagegen bestehen?

Es klopfte leise an der Tür. „Komm rein, Krasus!“, rief Antonidas. Seine magischen Fähigkeiten hatten ihm bereits verraten, wer da zu so später Stunde vorbeischaute.

„Du hast nach mir geschickt?“, fragte der andere Magier wie beiläufig beim Eintreten und schloss die Tür hinter sich.

Antonidas vermutete, dass Krasus durch seine scheinbare Teilnahmslosigkeit versuchte, seiner Wut zu entgehen. Doch damit würde er keinen Erfolg haben.

„Ja, das habe ich“, antwortete Antonidas und spie die Worte förmlich durch seinen grau durchwirkten Bart. „Es sind seitdem Monate vergangen! Wo bist du gewesen?“

„Ich musste mich um etwas anderes kümmern“, antwortete Krasus ausweichend und setzte sich auf die Kante von Antonidas’ Schreibtisch. Das Licht der Lampe beleuchtete die roten und schwarzen Strähnen in seinem silbernen Haar, wodurch es wie schimmerndes Metall wirkte.

„Um etwas anderes kümmern? Du dienst den Kirin Tor, Krasus, eine Tatsache, an die ich dich eigentlich nicht erst erinnern muss“, wies ihn Antonidas zurecht und schaute finster. „Wenn du für solche Aufgaben keine Zeit hast, dann sollte besser jemand anders deinen Posten übernehmen.“

Zu seiner Überraschung neigte der dünne Magier den Kopf. „Wenn das wirklich dein Wunsch ist, dann trete ich zurück“, sagte Krasus leise. „Ich würde lieber bleiben, und ich garantiere dir, dass Dalaran und die Kirin Tor derzeit meine volle Aufmerksamkeit genießen.“

Antonidas sah ihn einen Moment lang an, schließlich nickte er, Er wollte Krasus eigentlich nicht verlieren. Der rätselhafte Magier hatte erstaunliche Ressourcen an Kraft und Wissen. Und trotz seiner üblichen ausweichenden Art spürte Antonidas, dass sein Kollege nur das Beste wollte.

„Schau dir das hier an“, sagte er und warf ihm die Schriftrolle zu. Er sah zu, wie Krasus las und sich der aufsteigende Schrecken auf seinem Gesicht abzeichnete.

„Die schwarzen Drachen!“, flüsterte Krasus, als er schließlich fertig war, das Dokument zusammenrollte und es sorgfältig auf den Tisch legte, als könnten schon die Worte allein ihn angreifen. „Durch meine Forschungen weiß ich, dass die roten Drachen dem Kampf und Blutvergießen nichts abgewinnen können und der Horde nur unter Zwang dienen. Aber die Schwarzen! Dieses Bündnis erscheint mir logischer und sehr viel gefährlicher.“

„Das sehe ich auch so“, sagte Antonidas. „Krasus, du kennst dich am besten mit Drachen aus. Glaubst du, dass man sie irgendwie aufhalten oder zumindest bremsen kann?“

„Ich...“ Ein scharfes Schrillen dröhnte durch die Nacht. Die beiden Zauberer sahen sich einen Moment lang an. Sie wussten, was das Geräusch bedeutete – es war ein Alarm. Krasus blieb still, während Antonidas es zu identifizieren versuchte. Welcher der alten Sprüche war es? War es der, der...

„Die arkane Schatzkammer!“, sagte er schließlich, und seine Augen weiteten sich. „Es wurde eingebrochen!“

Krasus wirkte so entsetzt, wie Antonidas sich fühlte. Die arkane Schatzkammer befand sich im Herzen der violetten Zitadelle und wurde von der stärksten Magie bewacht, zu der die Magier fähig waren. Sie beherbergte viele der mächtigsten Artefakte und einige Gegenstände, die die Magier nicht selbst benutzen konnten, die aber auch nicht in fremden Besitz gelangen durften.

Krasus streckte die Hände aus. Antonidas nahm sie, und ohne ein weiteres Wort teleportierten sie sich in die arkane Schatzkammer.

Die Welt um sie herum löste sich auf, die Wände voller Bücher in Antonidas’ gemütlichem Studierzimmer verschwanden und wurden von einer großen Steinkammer ersetzt. Der Boden und die Wände waren einfach aus dem Stein gehauen, und die Decke war gewölbt. Der Raum hatte keine Fenster und nur eine Tür. Abgesehen von dem Platz vor dem Eingang war der Rest des Raumes mit Regalen, Kisten und Schachteln übersät, alle voll.

Inmitten des Staubs und der Artefakte standen mehrere Männer. Zumindest glaubte Antonidas, dass es Männer wären. Dann nahmen seine Sinne eine schwarze Aura wahr, die jeden umgab. Und noch bevor sie sich umsahen und ihre glühenden Augen unter ihren Kapuzen zeigten, wusste er, welche Kreaturen die Verteidigung durchdrungen hatten. Er wusste es und verzagte.

Todesritter.

Menschliche Leichen, die von toten Orc-Zauberern durch schwarze Magie wiederbelebt wurden. Das reichte, um Antonidas mit Schrecken zu erfüllen. Diese Kreaturen waren stark genug, die machtvollen Zauber zu durchdringen, die hier wirkten.

Und so waren sie an diesen gut gesicherten Ort gelangt.

Aber warum? Hier lagerten unzählige Artefakte. Sicherlich alle geeignet, um den Todesrittern als Waffen zu dienen, um den Krieg endgültig zu gewinnen. Aber die Feinde bewegten sich nicht oder nahmen eins der unbezahlbaren Artefakte an sich. Sie standen im Kreis um eine Gestalt, die etwas in der Hand hielt.

Antonidas konzentrierte sich auf den Gegenstand. Er war extrem mächtig, und die Magie fühlte sich vertraut an. Aber erst als der anführende Todesritter das Objekt anhob, sich das Licht darin spiegelte und violette Strahlen in den Raum drangen, erkannte Antonidas, welcher einzelne Schatz den Todesrittern so wichtig war, um alles andere dafür liegen zu lassen.

„Er hat das Auge Dalarans!“, rief Antonidas. Er hob eine Hand und beschwor einen mystischen Blitz, während er mit der anderen die restlichen Mitglieder der Kirin Tor herbeiholte. Nur eine Handvoll passten in die arkane Schatzkammer. Aber zumindest hatten er und Krasus Verstärkung, wenn sie irgendwann der Müdigkeit anheimfielen, die in einem Kampf der Magier immer auftrat.

Das ist kein offizieller Kampf zwischen Magiern, überlegte Antonidas, als sein Blitz einen der Todesritter traf und die Kreatur gegen die hintere Wand schleuderte. Rauch stieg aus dem Loch in seiner Brust auf. Einer der anderen Todesritter erhob seinen Stab. Die Juwelen darauf glitzerten im Kerzenschein, und Antonidas hatte ein Gefühl, als würde jemand mit eiskalten Händen nach seinem Herzen greifen und zudrücken. Er fasste sich mit beiden Händen an die Brust und kämpfte darum, den Schmerz zu verdrängen, der ihn wie ein Messer durchfuhr.

Er schaffte es, einen Spruch zu wirken, und um ihn herum entstand ein violettes Glühen, das die Kälte auflöste. Er konnte den Angriffsspruch mit seinen mystischen Sinnen förmlich sehen. Er sah aus wie eine große Hand, die aus Rauch zu bestehen schien. Antonidas schlug sie zur Seite und sandte sie zu ihrem Herrn zurück. Der Todesritter fiel der Länge nach hin.

Ein anderer Zauberer der Kirin Tor teleportierte sich neben ihn, eine Elfenfrau mit langem schwarzem Haar. Eine dünne, bleiche Hand griff nach Antonidas’ Brust, während sie mit der anderen einen Zauber gegen die Eindringlinge wirkte. Antonidas nahm am Rande wahr, dass weitere Gestalten im Raum materialisierten. Er schnappte nach Luft, und sein Herz schlug wieder, Wärme durchströmte ihn, als er zwei Todesritter sah, die sich vor Schmerz krümmten. Flammen schlugen plötzlich aus ihren Gliedmaßen, dem Körper und dem Kopf hervor.

Zwei weitere Todesritter traten plötzlich zurück. Antonidas Augen weiteten sich vor Schrecken, als er erkannte, dass sie zu fliehen versuchten. Die verzerrten Schatten, hevorgerufen von den Flammen ihrer sterbenden Brüder, nahmen auf einmal eigenes Leben an. Sie legten sich um die Todesritter und absorbierten ihr Fleisch, bis sie nurmehr Erinnerung waren.

Obwohl sie nicht überleben konnten, wenn man diesen Begriff hier überhaupt verwenden konnte, würden die umzingelten Todesritter nicht allein in den Tod gehen. Immer noch von dem Angriff und seinem Versuch, sich dagegen zu wehren, geschwächt, konnte Antonidas nichts anderes tun, als hilflos zuzusehen, wie zwei Todesritter sich umwandten und die Frau angriffen, die Antonidas gerettet hatte.

Satheras bleiches Gesicht verzerrte sich, ihr Kopf fiel zurück, und ihr langes, schwarzes Haar hing herab, als ihr die Luft aus der Lunge gepresst wurde. Antonidas hörte ein Knacken, ihr Brustkorb wurde eingedrückt und die Knochen in ihrem Leib zermalmt.

„Sathera! Nein!“

Antonidas bemerkte Prinz Kael’thas, dessen schöne Gesichtszüge sich vor Wut über diesen Tod verzerrten. Der Elf erhob beide Hände und breitete sie aus. Einer der Todesritter wurde von seinem Zauber erfasst und schrie auf, als sein Körper buchstäblich Glied für Glied zerrissen wurde. Der Anblick erschütterte Antonidas aufs Äußerste.

„Kael’thas!“, rief er über den Tumult, als er auf die Beine kam. „Kael’thas!“

Beim zweiten Versuch wandte sich der Elf ihm zu und sah Antonidas mit einem Blick voller Kraft an.

„Lass sie nicht wegteleportieren!“, rief Antonidas und wehrte einen Angriff ab, indem er mit einer Hand einen Schild erschuf, an dem der Todesblitz zerplatzte. Der Elfenprinz nickte. Er wandte sich mit ganzer Wut gegen die Eindringlinge und bewegte die Hände, um einen Spruch zu weben.

Der Anführer zischte Kael’thas zu. „Todesritter, zu mir“, rief er und hielt das Auge weit über sich. Die wenigen, die noch übrig waren, gehorchten. Sie bildeten einen engen Kreis und schauten vom Zentrum weg, um den Anführer und sein Artefakt zu schützen.

Noch während Kael’thas die Beschwörung murmelte und der Spruch fast fertig war, wanden sich die Schatten erneut. Dieses Mal nahmen sie, als das Auge zu leuchten begann, einen violetten Glanz an. Die Gestalten der Todesritter wurden undeutlich. Sie waren um einen Herzschlag entkommen.

Kael’thas fluchte in seiner Heimatsprache.

Die Beute war weg, aber man konnte ihr folgen und sie am nächsten Ort einfangen. Antonidas murmelte einen Teleportzauber und veränderte ihn leicht, damit er am selben Ort herauskam wie die Todesritter. Eine Sekunde später stand Antonidas auf einem breiten Balkon. Es war eine der oberen Etagen der Violetten Zitadelle. Die Todesritter hatten sich an einer Seite zusammengeschart. Ihr Anführer stand stolz und aufrecht in ihrer Mitte. Das Auge hielt er in seiner gepanzerten Hand.

Krasus, Kael’thas und andere folgten. Doch dieses Mal waren Kael’thas und Antonidas vorbereitet, hatten den Spruch bereits im Kopf und auf der Zunge und waren erfolgreich. Der Anführer der Todesritter warf Antonidas einen Blick voller Verderbtheit zu, und der Erzmagier erlaubte sich ein leichtes Lächeln.

„In der Schatzkammer wart ihr flinker, aber hier sind wir es. Der Balkon ist magisch gegen Teleportation gesichert. Ihr könnt nirgendwohin!“, rief Antonidas und schaute den Anführer an. Sie konnten die Todesritter jetzt gefangen nehmen oder töten. Einen würden sie am Leben lassen, um Informationen zu erhalten. So würden sie eine Menge mehr über die Horde und deren Pläne erfahren.

„Vielleicht nicht“, sagte der Anführer der Todesritter leise, seine Worte waren dennoch gut zu hören. „Aber warum sollten wir laufen, wenn wir fliegen können?“

Plötzlich kam ein starker Wind auf. Antonidas taumelte. Ein pfeifendes Geräusch begleitete die Böe, wurde lauter, und dann schien ein Stück der Nacht selbst über den Balkon hereinzubrechen. Die Dunkelheit teilte sich langsam, und mehrere längliche Gestalten wurden sichtbar, die in der Luft hinter der Brüstung schwebten. Grausame Augen starrten aus ihren glänzenden schwarzen Gesichtern. Antonidas konnte die Hitze spüren, die in ihnen pulsierte, und seine Kleidung war schnell nass geschwitzt.

„Dummer Mensch, hast du geglaubt, wir wären alleine gekommen?“, sagte der Anführer der Todesritter und lachte. Der größte Drache, den Antonidas je gesehen hatte, flog näher an den Balkon heran, bis sein langes, stacheliges Kinn auf der Brüstung lag.

Antonidas sah, wie Krasus erbleichte, und hörte ein einziges Wort: „Todesschwinge.“

Beim Klang des Namens bewegte der mächtige Drache den Kopf und sah Krasus intensiv an. Der Magier wich dem prüfenden Blick nicht aus. Aber Antonidas erschauderte.

Todesschwinge? Hier?

Der Todesritter kletterte auf die Brüstung und von dort auf den Rücken von Todesschwinge. „Ich habe, was ich wollte. Lasst uns abfliegen!“

Antonidas hatte sich so weit erholt, dass er einen Blitz auf die fliehenden Gestalten abfeuern konnte, der jedoch von ihren Schilden abprallte. Teleportieren kam auch nicht infrage, sie bewegten sich zu schnell und flogen zu dicht beieinander. Kael’thas und die anderen Magier schüttelten den Kopf. Sie waren einfach nicht schnell genug, um die Todesritter zu treffen, ohne versehentlich einen Drachen zu erwischen und zu verärgern – was sicherlich zur Vernichtung der gesamten Zitadelle geführt hätte.

Als wollten sie diese Bedrohung unterstreichen, flogen plötzlich zwei der Drachen, die Todesschwinge flankierten, näher und öffneten ihre Mäuler weit. Die Magier konnten gerade noch rechtzeitig die Schilde aktivieren. Ströme von Magma entsprangen den breiten Kiefern der Echsen. Sie trafen den Balkon, entzündeten Vorhänge und Schriftrollen in dem Raum dahinter.

Antonidas fluchte, als er die anderen Todesritter auf die Rücken der Drachen klettern sah. Dann hoben sie ab, und er verlor sie aus seiner Sicht. Er wusste, dass die mächtigen Kreaturen einfach durch die Schutzzauber brechen würden, die er installiert hatte. Sie waren nie dazu gedacht gewesen, Giganten wie ihnen zu widerstehen.

Antonidas spürte Verzweiflung. Er und der Rest der Kirin Tor sollten die Stadt und ihre Bürger schützen, und heute Abend hatten sie dabei versagt. Er war immer der Überzeugung gewesen, dass jeder Magier seine Grenzen kennen sollte, und heute war er an seine gestoßen. Er schaute in den Himmel, suchte nach einer Spur der Eindringlinge, aber sie waren fort.

Und sie hatten das Auge Dalarans, eines der mächtigsten Artefakte der Stadt.

Ich habe, was ich wollte, hatte der Todesritter gesagt.

Antonidas wusste, was er gemeint hatte. Aber die eigentliche Frage war: Wozu brauchte er es?

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