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„Fertig!“ Ner’zhul sank auf seinen Thron zurück und schloss einen Moment lang die Augen, bevor er sich der Schriftrolle widmete, die ausgerollt auf seinem Schoß lag. Es hatte ihn Monate der Forschung gekostet, der Planung, des Lernens und der Konzentration, aber schließlich war der Zauberspruch fertig!

Mit Einsetzen der Konjunktion konnte er Portale in andere Welten öffnen, und sein Volk hatte wieder eine Welt für sich, nein, sogar viele, und sie alle waren so vital wie die Orcs.

Und das alles verdankten sie ihm.

„Gut“, polterte Kilrogg, der in der Nähe stand. „Ein paar Tage noch bis zur Konjunktion. Dann können wir diesen öden Ort den Menschen überlassen und beginnen, unser Volk neu aufzubauen,“

Ner’zhul betrachtete den einäugigen alten Krieger gedankenverloren. Kilrogg hatte ihn immer beeindruckt. Sowohl mit seinem wachen Geist und seinem exzellenten taktischen Verständnis als auch durch seine Fähigkeiten im Kampf.

Als der narbenübersäte Häuptling vom Klan des blutenden Auges durch das Portal zurückgekommen war, hatte Ner’zhul erkannt, dass es eine Verschwendung gewesen wäre, ihn wieder in den Kampf zu schicken. Außerdem gab es nur noch wenige Krieger vom Klan des blutenden Auges. Zwei Jahre hatten sie sich vor den Menschen und deren Verbündeten verstecken müssen. Das hatte einen hohen Blutzoll von dem einst großen Klan gefordert. Deshalb hatte Ner’zhul entschieden, Kilrogg an seiner Seite zu behalten und dessen Krieger zu seinen Leibwächtern zu machen. Seinem eigenen Schattenmondklan hatte das nicht gefallen, aber der war immer noch groß genug, um gegen die Allianz antreten zu können. Außerdem fand Ner’zhul, dass er nun, da er Kriegshäuptling war, niemanden bevorzugen durfte.

„Vor uns liegt eine Reise“, sagte er, an Killrogg gewandt. Er wies auf die Zitadelle. „Ich darf nicht riskieren, dass der Spruch fehlschlägt. Der Himmel arbeitet für uns, wir brauchen aber auch die Unterstützung des ganzen Landes. Ich muss die Kraftlinien anzapfen, und zwar so viele wie möglich. Damit uns Draenor selbst dabei unterstützt, uns aus seinem Griff zu befreien.“ Er seufzte. „Es gibt nur einen Ort, der sich dafür eignet. Der Tempel von Karabor.“

Kilroggs einziges Auge weitete sich. Aber ansonsten änderte sich sein Gesichtsausdruck nicht. „Der Schwarze Tempel...“, murmelte er.

Ner’zhul nickte. Er gab sein Bestes, um seine Abneigung dagegen zu unterdrücken. Er erinnerte sich noch voller Abscheu und Schuld an den Krieg gegen die Draenei. Der Plan, deren ehemaligen Tempel zu betreten, sandte ihm Schauder über den Rücken. Aber er wusste, dass Kilrogg und der Rest der Horde seine Ansicht nicht teilten. Für sie war der Tod der Draenei immer noch ein glorreicher Sieg und der Schwarze Tempel eine ehrenhafte Beute. Es war an der Zeit, dass Ner’zhul anfing, das ebenso zu sehen. „Wenn ich das Ritual dort vollziehe, können wir nicht versagen.“

„Dann treffe ich die Vorbereitungen, damit wir uns sofort auf den Weg machen können“, sagte Kilrogg

„Aufbrechen? Wo gehen wir denn hin?“, fragte Kargath, der gerade in den Thronsaal trat. Dem Häuptling des Klans der zerschmetterten Hand ragte der abgebrochene Schaft eines Pfeils aus der linken Schulter. Er packte ihn und zog ihn mit einem Grunzen aus dem Fleisch heraus.

Ner’zhul hatte Kargath die Leitung der Angriffe auf die Festung der Allianz übertragen. Und der Dummkopf bestand darauf, die meisten Attacken selbst anzuführen. Die meiste Zeit traten sie den Menschen nicht einmal direkt gegenüber. Die Bogenschützen der Allianz schickten ihnen ihre Pfeile entgegen und verbreiteten so den Tod. Bis Kargath genug hatte und zum Rückzug blies. Aber es hielt die Allianz immerhin beschäftigt... und Kargath ebenso.

„Wenn die Sterne in der richtigen Konstellation stehen, muss ich zum Schwarzen Tempel reisen, um den Spruch zu wirken, der die neuen Portale öffnet“, erklärte Ner’zhul. Er rollte eine Schriftrolle zusammen und verstaute sie sorgfältig in einem Beutel. Dann erhob er sich vom Thron und streichelte ihn geistesabwesend. Das war sicherlich nicht der komfortabelste Stuhl, den er je besessen hatte, aber garantiert der beeindruckendste. Er würde sich einen neuen machen lassen, wenn sie sich erst auf irgendeiner neuen Welt befanden.

„Ich sammle die Truppen“, entgegnete Kargath und wandte sich zum Gehen, aber Ner’zhul hielt ihn auf.

„Nein“, sagte er. „Noch nicht. Ruf stattdessen Dentarg und Blutschatten. Ich will mit euch allen hier sprechen.“ Kargath zögerte, und Ner’zhul brüllte: „Sofort!“

Kargath hob seine klingenbewehrte Hand zum Gruß und eilte aus dem Raum.

„Ich werde Höllschrei benachrichtigen“, sagte Kilrogg.

„Nein.“

Kilrogg drehte sich langsam um und sah Ner’zhul an. „Er und seine Leute sind immer noch auf Azeroth. Wir müssen auch Grom und seinen Kriegern Bescheid geben.“

„Nein, müssen wir nicht. Grom Höllschrei hat bereits seine Befehle. Er ist auch Teil des Plans.“ Als Kilrogg mit Unbehagen reagierte, richtete sich Ner’zhul zur vollen Größe auf. „Zweifelst du meine Weisheit an, Kilrogg?“

Der Moment schien sich unendlich lang zu dehnen. Spannung erfüllte den Raum. Doch schließlich neigte Kilrogg den Kopf. „Natürlich nicht, Schamane.“

„Geh und sammle die Krieger“, sagte Ner’zhul zu Kilrogg. „Sag ihnen, sie sollen sich bereit machen. Wir reisen in Kürze ab.“

Kilrogg nickte und ging ebenfalls. Ner’zhul schritt ungeduldig im Raum auf und ab. Er fragte sich, ob die Bombe so funktioniert hatte, wie Blutschatten es ihm zugesichert hatte. Offensichtlich schon. Grom war nicht durchgebrochen und hatte mit rot glühenden Augen Blut sehen wollen. Das war gut. Höllschrei war schon immer schwer zu kontrollieren gewesen, aber er hatte seinen Zweck erfüllt. Er wurde nicht mehr benötigt.

Kilrogg kam schon bald zurück, ein einfaches Nicken bestätigte, dass seine Krieger bereit sein würden. Blutschatten erschien ein paar Minuten später, gemeinsam mit Kargath und Dentarg.

„Gut“, meinte Ner’zhul, als all seine Befehlshaber anwesend waren. „Ich habe den Zauberspruch fertiggestellt“, sagte er an Blutschatten und Dentarg gewandt, die beide lächelten.

„Ich wusste, dass du das kannst, Meister!“, sagte Dentarg.

„Du gehst dann zum Schwarzen Tempel, richtig?“, fragte Blutschatten, und sein Lächeln wurde zu Ner’zhuls und Dentargs Erstaunen noch stärker. Ner’zhul erkannte, dass er damit hätte rechnen müssen. Blutschatten war einer der talentiertesten jungen Schamanen gewesen, und er war zu einem mächtigen, selbstsicheren, schlauen Hexenmeister aufgestiegen. Das war vor seinem Tod gewesen. Und seit er als Todesritter zurückgekehrt war, war er noch stärker geworden. Er würde bald schon gefährlich werden.

„Ja. Das ist der ideale Ort, um den Zauber zu wirken.“

„Die Krieger der Horde sind bei Anbruch der Nacht bereit“, berichtete Kargath. „Wir lassen eine kleine Truppe zurück, um die Mauern zu besetzen. Der Rest wird dich auf deiner Reise beschützen.“

Aber Blutschatten schüttelte den Kopf. „Die Allianz fällt auf unsere List nicht mehr herein. Und wenn sie erst erkennt, dass wir sie nur in ihrer Festung halten wollten, werden sie mit voller Stärke angreifen.“

Ner’zhul nickte. Das hatte er sich auch schon gedacht. „Du und dein Klan, ihr bleibt hier“, wies er Kargath an. „Beschäftigt die Allianz, wenn sie angreift, während wir zum Schwarzen Tempel reisen.“ Er furchte die Stirn. „Ich brauche Zeit. Ihr müsst sie so lange wie möglich aufhalten. Wenn ihr überlebt, treffen wir uns dort.“

Kargath erbleichte, dann straffte er sich und nickte. „Die Ebenen vor diesen Mauern werden mit ihren Toten übersät sein!“, versprach er und hob seine klingenbewehrte Hand. Er nickte den drei anderen zu, wandte sich auf dem Absatz um und ging. Sie hörten, wie er bereits Befehle bellte, als er den Raum verließ.

„Sie können nicht gewinnen“, bemerkte Dentarg einen Moment später.

„Das müssen sie auch nicht“, antwortete Ner’zhul. „Er muss die Allianz nur so lange aufhalten, bis ich den Spruch gewirkt habe.“ Er zuckte die Achseln. „Diese Festung ist sehr stark, und die Krieger der zerschmetterten Hand sind es auch. Sie werden der Allianz einen guten Kampf liefern, und der Rest unseres Volkes wird ihr Andenken auf allen Welten ehren, die wir in ihrem Namen erobern.“

„Natürlich.“ Dentarg nahm die unterschwellige Zurechtweisung mit einem Zucken entgegen. „Ich bezweifle Kargaths Loyalität nicht – oder die Tapferkeit seiner Krieger. Er wird bis zum Ende kämpfen.“

„Ja.“ Ner’zhul sah den Oger-Magier des Schattenmondklans an. „Und du wirst ihn dabei unterstützen.“

„Was?“, rief Dentarg überrascht. „Aber Meister, du wirst mich beim Schwarzen Tempel brauchen. Mein Platz ist an deiner Seite!“

Plötzlich kochte die Wut in Ner’zhul über. „Dein Platz ist dort, wo ich dich hinschicke!“, knurrte er, und seine dunkle Stimme bebte vor Wut.

Dentargs Augen weiteten sich. „Dein Gesicht...“, jammerte er kriecherisch und voller Angst. „Der Kopf...!“

Der Moment ging vorbei, und Ner’zhul spürte, wie sein Zorn verflog. Er fasste sich an das weiß bemalte Gesicht. Es fühlte sich wie immer an.

„Auch die Menschen haben Magier“, sagte er, und seine Stimme klang jetzt wieder freundlicher. „Jemand muss hier sein, um sie aufzuhalten. Jemand, der stark genug ist, jemand, dem ich vertraue.“ Er trat vor, und legte eine Hand auf die Schulter des Ogers. Dentarg wich nach hinten weg, und Ner’zhul zog die Hand zurück. „Dieser Jemand bist du.“

Dentarg sah auf Blutschatten hinab. „Warum bleibt er nicht?“

„Ich kenne mich weit besser mit Spalten und Portalen aus als du“, sagte der Todesritter. „Ner’zhul braucht meine Hilfe bei dem Ritual. Sonst würde ich natürlich hierbleiben und den Menschen das eine oder andere über Magie beibringen.“

Dentargs kleine Schweinsäuglein funkelten Ner’zhul an.

„Ich brauche ihn“, sagte Ner’zhul in einem gönnerhaften, fast schon entschuldigenden Tonfall. „Und obwohl ich auch dich gerne bei mir hätte, hilfst du mir weit mehr, wenn du hier bist und Kargath mit deinen Zauberfähigkeiten unterstützt.“

Der Oger nickte schließlich. „Ich tue, was du befiehlst, Meister. Ich werde die Menschenzauberer aufhalten. Und wenn ich überlebe, komme ich zum Schwarzen Tempel.“ Das Verlangen, diesen Ort zu erreichen, klang in seiner Stimme durch.

„Gut.“ Ner’zhul nickte und wandte sich ab. Sie wussten beide, dass Dentargs Überlebenschancen gering waren. „Ich lasse euch die Schwarzen Drachen hier, damit sie euch in der Schlacht unterstützen können. Geh jetzt und besprich dich mit Kargath.“ Aus den Augenwinkeln heraus sah er Dentarg nicken und beobachtete, wie der Oger den Raum verließ. Nachdem die donnernden Schritte verklungen waren, wandte sich Ner’zhul wieder Kilrogg und Blutschatten zu.

„Sammelt eure Krieger und Todesritter“, sagte er. „Wir brechen sofort auf.“

Weniger als eine Stunde später saß Ner’zhul auf seinem Wolf, umringt von Kilrogg und seinen Kriegern. Blutschatten und die anderen Todesritter erkundeten auf ihren untoten Pferden den Weg voraus. Hinter ihnen jubelten Kargath Messerfaust und seine Orcs von den Mauern herab und skandierten Ner’zhuls Namen.

Der Anführer der Horde legte eine Hand auf den Beutel und überprüfte, ob die Schriftrolle noch da war. Die andere Hand hielt sich am dicken Pelz des Wolfes fest.

Er blickte nicht zurück.

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