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„Dorf voraus!“, rief Ba’rak. Er beugte sich vor und legte die Hände auf die Oberschenkel, um wieder zu Atem zu kommen. Das getrocknete Blut klebte noch an den behelfsmäßigen Verbänden, die ihm angelegt worden waren, nachdem Kargath Messerfaust dem Klan der zerschmetterten Hand befohlen hatte, die Höllenfeuerzitadelle zu verlassen.

Aber immerhin gehörte Ba’rak noch zu denen, die mit den leichtesten Wunden davongekommen waren.

Und wegen der zahlreichen Verletzten waren sie ja hier.

„Ich werde allein weitergehen“, sagte Kargath zu Ba’rak und den anderen. „Ich bin schneller.“ Er sah die Orcs an. „Erholt euch. Wenn ich zurückkomme, machen wir uns zum Schwarzen Tempel auf.“

Unterwegs fragte sich Kargath, wie es eigentlich so weit gekommen war. Natürlich hatte ihm Ner’zhul den Befehl gegeben, zurückzubleiben und die Allianz an der Höllenfeuerzitadelle aufzuhalten. Aber es war offensichtlich, dass der Schamane nicht mit ihrem Überleben rechnete. Der Tod auf dem Schlachtfeld war weder für Kargath noch sonst jemanden vom Klan der zerschmetterten Hand ein Problem. Doch ehrenvoll zu sterben, war eine Sache, es grundlos zu tun, eine ganz andere. Und Ner’zhul und die anderen wehrlos der Allianz zu überlassen, entehrte ihn und seinen ganzen Klan. Selbst wenn sie dabei ihr Leben verloren.

Deshalb hatte Kargath, als er merkte, dass die Allianz die Zitadelle eroberte, die restlichen Krieger versammelt und war zum Schwarzen Tempel aufgebrochen. Er konnte allerdings weniger Krieger um sich scharen als erhofft, und viele waren noch dazu so schwer verwundet, dass sie nicht einmal die erste Nacht überstanden.

Jetzt waren nur noch eine Handvoll Orcs übrig geblieben, und kein Einziger von ihnen war unverletzt.

Er marschierte weiter, nur unterbewusst nahm er die Landschaft um sich herum wahr. Der größte Teil Draenors glich der Höllenfeuerhalbinsel, überall nur aufgeplatzter roter Boden und öde Flächen.

Warum war dann hier aber noch alles grün? Üppiges Gras federte seine Schritte ab, Büsche und hohe Bäume prägten das Bild der Umgebung. Nagrand war ganz eindeutig nicht von derselben Trostlosigkeit überschattet wie der Rest der Welt. Nur – warum?

Es war nicht ohne Ironie: Der grünste und gesündeste Bereich Draenors war ausgerechnet die Heimat der kranken und schwachen Orcs.

Als er den kleinen Hügel bestieg, sah Kargath das Dorf vor sich liegen. Die soliden Mauern, die überdachten Hütten und die Vorbauten aus Brettern wirkten wie in den meisten Orc-Dörfern, einschließlich seinem eigenen. Eine Sekunde lang gab sich Kargath der Vorstellung hin, dass er seine Krieger hierher führte, die bisherigen Bewohner vertrieb und das Dorf in Besitz nahm. Sie hätten den Krieg vorbeiziehen lassen können.

Ner’zhul erwartete ohnehin nicht, irgendeinen von ihnen jemals wiederzusehen. Deshalb wäre er wohl auch nicht überrascht, wenn sie niemals auftauchten. Sie konnten die Horde in andere Welten vordringen lassen und sich selbst hier niederlassen, Vieh hüten, Felder bestellen und, wenn der alte Blutrausch sie erneut überkam, Tiere des Waldes jagen.

Aber nein!, schalt sich Kargath. Er hatte den Eid geschworen, für die Horde zu kämpfen. Wie konnte er weiterleben oder einem seiner Krieger noch in die Augen schauen, wenn er dafür nicht alles gab? Außerdem dachte er schaudernd, das Dorf zu erobern, hieße gegen die jetzigen Bewohner zu kämpfen. Und er glaubte nicht, dass einer seiner Krieger dazu derzeit in der Lage war.

Vorsichtig näherte sich Kargath dem Dorf. Er bemerkte ein paar Orcs, die sich träge bewegten, braune Flecken in ihrer grünen Umgebung. Aber sie hatten ihn noch nicht entdeckt. Als er noch gut dreißig Meter entfernt war, blieb er stehen.

„Geyah!“, rief er und musste husten, weil das Luftholen ihm wegen seiner Verletzung schwerfiel. „Großmutter Geyah!“

Die Orcs, die ihm schon vorher aufgefallen waren, sahen auf. Zuerst waren sie erschreckt, dann verschwanden sie in der nächstgelegenen Hütte. Hoffentlich holten sie Geyah, überlegte Kargath bitter. Er bezweifelte, dass er noch Kraft für einen zweiten Ruf hatte.

Einen Moment später raschelten die Vorhänge vor einer der Hütten und wurden zur Seite gezogen. Großmutter Geyah trat heraus und stapfte ihm entgegen. Sie kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen.

„Wer ist da?“, rief sie, ihre Stimme klang so energisch wie immer.

„Kargath Messerfaust, Häuptling vom Klan der zerschmetterten Hand“, antwortete er und zwang sich, aufrecht zu stehen, während sie näherkam.

„Kargath, also? Ich habe dich seit Jahren nicht mehr gesehen“, meinte Geyah. Sie blieb auf halbem Weg zwischen ihm und den Hütten stehen und sah ihn an. Ihre Augen waren immer noch violett, bemerkte Kargath, und ihr langes Haar immer noch dicht, wenn auch grau durchwirkt. Sie sah nicht krank aus, aber ungeduldig. Und ihre Lippen umspielte etwas wie... Abscheu. „Was willst du hier?“, wollte sie wissen und bestätigte seinen Eindruck.

„Die Armee der Allianz ist nach Draenor einmarschiert“, berichtete Kargath. Sein Sinn für Dringlichkeit kämpfte mit dem Respekt vor dem Alter, der ihm von frühester Jugend an eingebläut worden war. „Sie haben die Höllenfeuerzitadelle eingenommen und marschieren schon bald zum Schwarzen Tempel.“

„Und was geht mich das an?“, fragte Geyah. „Beide Orte sind Monumente des Krieges. Wir sind besser dran ohne sie.“

„Ich brauche Krieger“, erklärte Kargath und hoffte, dass er zuversichtlich und fordernd klang, nicht verzweifelt. „Jeder Orc, der irgendwie kämpfen kann, muss sofort mit mir kommen!“

Geyah starrte ihn mit großen Augen an. „Bist du verrückt?“, platzte es aus ihr heraus. „Das hier ist das Dorf der Kranken, oder hast du das vergessen?“ Sie beobachtete ihn, und ein listiges Grinsen lag auf ihren Lippen. „Nein, ich sehe, das hast du nicht. Oder würdest du diese Unterhaltung lieber in einer der Hütten fortsetzen?“

Als er unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat, leicht wankend, wurde ihr Grinsen breiter. „Wie ich es mir dachte. Du weißt, wer hier lebt.“ Ihr Grinsen wurde düster. „Und jetzt willst du ihren Leiden ein weiteres hinzufügen und sie in deinen dummen Krieg hineinziehen? Warum sollten sie kämpfen? Warum sollte das irgendeiner von uns tun?“ Sie sah ihn herausfordernd an. „Ihr habt die Welt der Menschen angegriffen – und das ist die Folge davon.“

Kargath spürte, wie sich seine Zähne fletschten, als die Wut die Angst zu übersteigen begann. „Wir gehören alle zur Horde“, erinnerte er sie. „Wir sind ein Volk, und wir überleben alle oder sterben gemeinsam.“ Er musterte sie schärfer, dann änderte er die Taktik. „Ner’zhul sagt, dass er uns aus diesem Höllenloch herausbringen kann. Wenn er es zum Schwarzen Tempel schafft und die Allianz lange genug aufhält, kann er Portale in andere Welten öffnen. Du könntest eine eigene Welt für dich und deine Patienten haben.“

„Was stimmt denn mit dieser hier nicht?“, antwortete Geyah. Sie wies auf das Grün um sie herum. „Mir gefällt es hier.“

„Diese Welt stirbt.“

„Nur ein Teil davon“, erwiderte sie. „Der Teil, den ihr, du und deine dummen Hexenmeister, befleckt habt. Nagrant ist fruchtbar wie immer.“ Sie wirkte selbstgefällig. „Es ist mag’har... unverdorben. Und so sind seine Bewohner. Sie haben vielleicht die roten Pocken, sterben vielleicht sogar daran. Aber wenigstens ist ihre pockenvernarbte Haut braun, und sie wurden nicht von der schwarzen Magie der Horde verdorben.“

„Es ist deine Pflicht!“, beharrte Kargath. „All deine Krieger müssen sofort mit mir kommen!“

Geyah lachte ihn aus. „Du willst sie?“, fragte sie. „Dann hol sie dir selbst. Zerre sie aus ihren Krankenbetten, und du kannst sie mit in deinen Krieg nehmen.“

Kargath schaute sie an, doch seine Wut war erwacht und überstrahlte alles, einschließlich der Angst. „Sie wirken aber nicht krank“, sagte er und schaute an ihr vorbei, wo viele der Orcs aus ihren Hütten getreten waren, um zuzusehen. Selbst aus der Entfernung konnte er erkennen, dass einige humpelten, andere sich krümmten oder gebeugt gingen. Aber alle schienen noch die richtige Zahl an Gliedmaßen zu haben. Und solange sie eine Keule tragen konnten, würde er sie nehmen.

Er ging auf das Dorf zu, als eine Gestalt aus der Hütte trat und auf ihn zukam. Es war ein junger Krieger, und beim Näherkommen erkannte Kargath, dass er groß und muskelbepackt war. Auch er taumelte, schwankte auf den Beinen. Seine braune Haut war bleich, abgesehen von den Stellen, wo bösartige rote Pusteln prangten. Aus vielen lief eine dünne, rote Flüssigkeit, die eher wie Tränen wirkte, nicht wie Blut.

Erschreckt erkannte Kargath den jungen Orc. Es war Garrosh Höllschrei, Groms Sohn!

„Was ist hier los?“, fragte Garrosh und schlurfte neben Geyah. „Was willst du hier? Geht es um die Horde?“ Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Ist es mein...?“ Ein fürchterlicher Schrei stieg aus seiner Kehle auf. Dann fiel er auf die Knie, erbrach Blut und Galle. Beides lief sein Kinn hinab und tropfte in das Gras darunter.

„Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht überanstrengen“, knurrte Geyah und stützte ihn. Sie schien kein Problem damit zu haben, ihn zu berühren. „Du hast immer noch die Pocken, und dir geht es nicht annähernd so gut, dass du die Hütte verlassen kannst!“ Dann sah sie zu Kargath, ein böses Lächeln auf den Lippen. „Willst du, dass er mit dir in die Schlacht zieht? Sind das die Krieger, die du hier zu finden hoffst?“

Kargath war zurückgesprungen, als Garrosh Blut zu spucken begann, und er wich weiter zurück. „Nein. Das sind keine Krieger.“ Enttäuschung und Verzweiflung vergifteten seine Worte. „Sie sind nicht einmal mehr Orcs... sie sind völlig nutzlos.“ Er blickte zu Geyah, zu Garrosh und den anderen Dorfbewohnern. „Ihr armseligen Schwächlinge!“, knurrte er und erhob seine Stimme, so gut er konnte. „Tut der Horde einen Gefallen und sterbt in euren Behausungen! Wenn ihr nicht dabei helfen könnt, euer Volk zu verteidigen, habt ihr auch kein Recht zu leben!“

Damit wandte er sich ab und ging davon. Er konnte nichts anderes tun, als seine Krieger zu nehmen und in die Hügel zu verschwinden. Er hatte nicht genug Leute, um entscheidend in den Kampf um den Schwarzen Tempel eingreifen zu können.

Je länger er darüber nachdachte, desto weniger glaubte er, Ner’zhul etwas zu schulden. Er würde die paar Kämpfer mitnehmen, die er hatte, einen Ort finden, an dem sie sich verbergen konnten, und sich erholen. Eines Tages würden sie wieder stark sein, und sie würden die Höllenfeuerzitadelle zurückerobern und von dort aus auch den Rest des Landes. Und wenn er schließlich starb, würde das auf seinen Füßen sein.

Er schauderte angesichts dessen, was hinter ihm lag. Egal, was passierte, er würde nicht so enden wie sie.

„Wir müssen dich zurück ins Bett bekommen“, schimpfte Geyah mit Garrosh in deutlich freundlicherem Tonfall.

Garrosh schüttelte ihre Hände ab. „Was hat er gesagt?“, wollte er wissen. Seine Kehle war rau, nachdem er so viel Flüssigkeit verloren hatte. „War es... war es wegen meines Vaters? Lebt... er noch?“

Geyah schaute weg, unfähig, der Hoffnung in den Augen des Jungen zu begegnen. Ob Grom noch lebte? Sie wusste es nicht.

Nicht, dass es von Interesse gewesen wäre. Sie hatte viel vom alten Höllschrei während der letzten paar Jahre gehört. Von seiner Wildheit, seinem Blutrausch und seinem Hang zur Gewalt. Er war der Erste gewesen, der sich der Horde und Gul’dans verdorbener Magie hingegeben hatte. Und das hatte ihn zutiefst verdorben.

Selbst wenn er also noch lebte, war er sicherlich jenseits aller Erlösung.

„Er hat nichts über deinen Vater gesagt“, antwortete sie und packte Garrosh wieder beim Arm. Dabei ließ sie nicht zu, dass er sie erneut wegschob. „Ich bin mir sicher, er lebt noch, und es geht ihm gut. Kargath hätte sonst bestimmt etwas gesagt.“

Garrosh nickte und ließ sich wegführen. Seine Kraft war verbraucht.

Geyahs Herz war bei ihm und allen anderen, um die sie sich kümmerte. Würden sie die roten Pocken überleben? Einige vielleicht, aber nicht alle. Ein Teil von ihr spürte, dass zumindest der Tod ihrer Schützlinge reiner war als das Ende der anderen Orcs, deren Seele befleckt worden war.

Sie schüttelte den Kopf und ging mit Garrosh zu den Hütten zurück. Sie schaute kein einziges Mal hinter sich, um zu sehen, wie der grünhäutige Kargath sich entfernte.

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