16

Khadgar stellte fest, dass er den Nachthimmel dieser Welt gern beobachtete.

Denn er war nicht rot.

Er seufzte, richtete sein Teleskop aus und fokussierte es auf einen besonders hellen Stern. Er war ein kleines Stückchen näher an der Konstellation, die er Turalyons Hammer genannt hatte. Wenn sie jetzt nur noch...

„Wie lange noch?“

Khadgar erschrak, rutschte aus und hielt sich am Dachgeländer fest. „Verdammt, Alleria. Schleich dich nicht so an mich ran!“

Die schöne Waldläuferin, die ihn vom Fenster aus beobachtete, zuckte nur die Schultern. „Ich bin schuldlos. Und du bist so in dein Teleskop vertieft, du würdest nicht einmal merken, wenn ein Oger hier durchläuft. Also, wie lange noch?“

Der Magier seufzte und rieb sich die Augen. Der Turm, auf dem er sich derzeit befand, war Teil eines Vorpostens, den sie Ehrenfeste getauft hatten. Sie hatten Monate gebraucht, um die Grundmauern zu errichten, und weitere Monate, um die Mauern und eines von zwei geplanten Gebäuden fertigzustellen. Während dieser Zeit hatte es wiederholt Angriffe der Orcs gegeben; glücklicherweise meist nur kurze Gefechte, kleinere Scharmützel.

Dass die Horde da draußen war, war sicher. Dass sie sich aus unerfindlichem Anlass weitestgehend zurückhielt, auch.

Es galt herauszufinden, warum sie sich so verhielt, und das war einer der Gründe, warum Khadgar jede Nacht hier draußen stand und die Sterne beobachtete.

Die letzten Monate waren nicht leicht gewesen.

Seit sie auf Draenor eingetroffen waren und einen ersten Sieg über die Orcs auf deren Heimatwelt erringen konnten, hatte die Allianz das Portal gehalten. Zumindest auf dieser Seite. Kurz nachdem ihr Trupp das Dunkle Portal durchschritten hatte, waren weitere Soldaten und Nachschub eingetroffen. Für sie ein Grund zum Jubeln.

„Eine Gabe von den Königen der Allianz“, wurde ihnen gesagt. Besonders willkommen waren die Fässer mit Bier gewesen. Diesen kleinen Luxus hatten sie Magni Bronzebart zu verdanken.

Aber es war nicht so geblieben. Als die zweite Lieferung am vereinbarten Tag nicht eingetroffen war, wurden ein paar Kundschafter ausgeschickt. Die Späher berichteten, dass die Orcs derzeit die Azeroth-Seite des Portals beherrschten. Und so kam es, dass der Nachschub, der das Leben erträglich machte, nur sehr sporadisch durchkam.

Neue Soldaten erreichten ebenfalls eher selten ihr Ziel. Turalyon war optimistisch davon ausgegangen, binnen eines Monats einen Angriff starten zu können. Doch da der Besitz des Portals so oft wechselte, kamen die versprochenen Truppen einfach nicht rechtzeitig an.

Die Orcs saßen in einer düsteren Burg im Westen der Ehrenieste. Sie war groß, hässlich und gut befestigt. Jeder Angriff darauf wollte gut vorbereitet sein.

„Bald“, sagte Khadgar zu Alleria. „Es wird bald losgehen.“


Zuerst war alles ein großes Rätsel gewesen. Kurz nach ihrer Ankunft und dem Bau der Ehrenfeste hatten die Orcs mit ihren Angriffen begonnen. Das war wenig überraschend. Überraschender war, dass sie das auch weiterhin taten. Nicht jeden Tag, und es waren nie viele Krieger daran beteiligt. Doch es waren stets genug. Ebenfalls merkwürdig war, dass den Orcs das Portal egal zu sein schien.

„Man kann der Horde so einiges vorwerfen, aber sie ist nie dumm vorgegangen“, meinte Turalyon eines Abends, als er mit Danath, Alleria, Kurdran und Khadgar sprach. „Warum werfen sie sich uns immer wieder entgegen? Es sind zu wenige, um unsere Festung einzunehmen. Und sie sind nicht hinter dem Portal her.“

„Ich glaube nicht, dass wir zu spät dran sind, um Ner’zhul daran zu hindern, Portale in andere Welten zu öffnen“, überlegte Khadgar. „Aber ich habe keine Ahnung, warum er es noch nicht gemacht hat. Er hat die Artefakte, die er braucht. Zumindest dachten wir das. Aber offenbar benötigt er doch noch etwas anderes.“ Khadgar lehnte sich in dem simplen Holzstuhl zurück und strich sich gedankenverloren durch den langen, weißen Bart.

„Braucht man nicht enorme Energien und sehr komplexe Zaubersprüche?“, fragte Danath. „Vielleicht benötigt er die Zeit, um all diese Details herauszufinden.“

„Glaube ich nicht“, sagte Khadgar. „Es ist schon kompliziert, aber ich bin mir sicher, dass er daran schon gearbeitet hat. als die anderen noch die Artefakte beschafften. Zepter, Buch und Auge.“ Er überlegte. „Und was noch? Worauf könnte er warten?“

Sie versuchten ein paar Orcs zu befragen, die sie gefangen hatten. Aber keiner konnte etwas Nützliches verraten. Es waren keine Todesritter, sondern einfache Kämpfer. Kanonenfutter, das nur eingesetzt wurde, um die Allianz zu verlangsamen, während Ner’zhul auf... ja, was eigentlich?... wartete.

Obwohl er mit leichtem Gepäck reisen musste, hatte Khadgar ein paar zusätzliche Gegenstände mitgenommen. Einen Ring, der es ihm ermöglichte, jede Sprache zu verstehen und auch selbst verstanden zu werden. Nur so hatten sie die Orcs befragen können, die lediglich ihre eigene, gutturale Sprache beherrschten. Unter den anderen Dingen waren eine Handvoll Bücher... Zauberbücher und ein Band, der einst Medivh gehört hatte.

An dem Folianten war nichts Magisches. Es handelte sich nur um Notizen über Draenor, seinen Himmel und die Kontinente. Khadgar fand es tröstlich, nachts zum Himmel aufzuschauen. Er war nur am Tag rot, und Khadgar identifizierte zum Spaß Konstellationen, während er über Ner’zhuls Rätsel nachsann. Dann, eines Nachts, verstand er es endlich, als hätten die Sterne die gesuchte Antwort. Und die hatten sie tatsächlich.

„Zepter, Buch und Auge!“, rief er Kurdran zu, als er aus seinem Lager lief.

„Häh?“, knurrte der erschrockene Zwerg. „Bist du jetzt doch noch übergeschnappt, Kumpel?“

„Hol die anderen. Wir müssen reden.“ Kurze Zeit später befanden sich die Kommandanten der einzelnen Truppen im Turm. „Turalyon... du zuerst. Geh raus und schau durch das Teleskop. Sag mir, was du siehst.“

Turalyon blickte ihn verblüfft an, gehorchte aber. Durch das Teleskop schauend, sagte er: „Ich sehe... Sterne. Wohin soll ich denn gucken?“

„Such die Konstellationen. Gruppen von Sternen.“ Khadgar war so aufgeregt, dass die Worte nur so aus ihm heraussprudelten. „Was siehst du?“

„Nun, so eine Art Quadrat. Das andere ist lang und dünn. Sonst kann ich keine Formen erkennen.“

„Nein... du bist nur nicht daran gewöhnt, darauf zu achten. Eins von Medivhs vielen Spezialgebieten war die Astronomie. Er besaß Bücher mit Sternenkarten von Konstellationen, die ich so nie gesehen habe. Konstellationen von dieser Welt.“

„Das ist ja alles schön und gut, Kumpel, aber ich gucke da nicht durch, wenn ich nicht weiß, was du eigentlich von mir willst“, knurrte Kurdran.

„Schau dir das an.“ Khadgar reichte dem Zwerg ein Buch. Turalyon blickte weiter durch das Teleskop, während Alleria, Danath und Kurdran das Buch untersuchten. „Was seht ihr?“

„Namen von Konstellationen“, sagte Danath. „Der Stab... der Foliant... und der Seher.“

„Zepter, Buch und Auge“, sagte Alleria langsam und hob ihren blonden Kopf an. Sie sah Khadgar bewundernd an. „Also... brauchte Ner’zhul diese Artefakte, weil sie mit den Konstellationen dieser Welt korrespondieren?“

„Ja... und nein“, sagte Khadgar, der seine Aufregung kaum mehr zurückhalten konnte. „Es geht um viel mehr. Einmal alle 547 Jahre gibt es eine Konstellation, die all diese Sterne betrifft. Seht ihr den rötlichen Punkt in der Mitte des Folianten? Der erscheint als erstes. In ungefähr einem Monat seht ihr einen Kometen, der durch den Stab zieht. Und beim nächsten Mondzyklus steht der Mond exakt in der Mitte des Sehers. Diesen Aufzeichnungen zufolge ist das ein ziemlich bedeutendes Ereignis.“

„Wenn Ner’zhul also Gegenstände besitzt, die mit diesen Konstellationen in Zusammenhang stehen“, sagte Turalyon langsam und schaute immer noch zu den Sternen auf, „und er die Artefakte zu einer Zeit benutzt, wenn etwas sehr Seltenes am Himmel mit diesen drei Konstellationen geschieht, verstärkt das seine Kraft, oder?“

„Wenn die Gestirne derart miteinander harmonieren und die daraus resultierende Resonanz... beim Licht, Turalyon, dann kann wahrscheinlich kein Zauber fehlschlagen, der diese Energie benutzt.“

Turalyon schaute vom Teleskop auf. „Wann?“, war alles, was er sagte.

„Fünfundfünfzig Tage noch. Und die Konjunktion hält drei Tage lang an.“

Turalyon und seine Leute warteten auf weitere Verstärkung und rieben ihre Kräfte allmählich auf. Immerhin wussten sie jetzt ganz genau, wie lange sie warten konnten. Und dann mussten sie angreifen, egal, wie viele Kämpfer sie bis dahin hatten.


Khadgar seufzte und sah die Waldläuferin an, die seine Sternenbetrachtung unterbrochen hatte, als er durch das Fenster zurückkletterte. „Wir sind heute einen Tag näher dran als gestern. Ich kann die Sterne nicht beschleunigen, Alleria.“

„Bald, bald. Geduld ist eine Tugend“, murmelte Alleria wütend. „Ich kann diese Sprüche langsam nicht mehr hören.“

„Für eine Elfe bist du schrecklich ungeduldig.“

„Für einen Menschen bist du ganz schön lahm. Ich will kämpfen und mich nicht hier verkriechen.“

In Khadgar kochte plötzlich die Wut hoch. „Du willst nicht kämpfen, Alleria, du willst sterben.“

Sie verstummte. „Wie meinst du das?“

„Wir haben es doch alle gesehen. Du rennst dort raus und bist wild auf Blut. Willst Rache. Du bist waghalsig. Du kämpfst schlecht, Alleria, und das sieht dir nicht ähnlich. Deshalb befielt Turalyon dir, dicht bei ihm zu bleiben oder gar nicht erst in den Kampf zu ziehen. Er hat Angst, dich zu verlieren.“

Ihr Blick war hochmütig, kalt und zornig. „Er kann mich gar nicht verlieren. Ich gehöre niemandem, außer mir selbst.“

Khadgar wusste, dass er eigentlich aufhören sollte. Doch er konnte es nicht. Er hatte sich die ganze Zeit zurückgehalten, hatte Alleria und Turalyon beobachtet, die sich offensichtlich noch liebten, aber wie wachsame Hunde umkreisten. Er konnte sich das nicht länger mit ansehen. „Du gehörst nicht mal dir selbst. Du gehörst zu den Toten. Doch das bringt sie nicht zurück, Alleria. Da ist dieser gute, freundliche, intelligente Mann, hier in dieser Festung, der dir das eine oder andere über das Leben beibringen könnte. Du solltest zur Abwechslung mal versuchen zu leben. Öffne dich etwas Seltenem und Schönem, statt die Türen hinter dir zuzuschlagen.“

Sie trat auf ihn zu, bis ihre Gesichter nur noch wenig voneinander entfernt waren. „Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden? Das geht dich nichts an! Warum interessiert es dich, wie ich mein Leben lebe?“

„Mich geht es etwas an, weil ich diese Wahl nicht habe!“

Dieses Eingeständnis war heraus, bevor er es unterdrücken konnte. Beide verstummten und schauten einander an. Ihm war die Wahrheit selbst nicht klar gewesen. Aber jetzt war sie ausgesprochen, lag offen vor ihnen. „Ich weiß, dass du unsere Leben für erschreckend kurz hältst. Unsere Jugend ist noch kürzer. Zehn Jahre, um jung und stark zu sein, nie... nie wieder danach sind wir so lebendig. Ich hatte nicht mal das. Ich wurde ein alter Mann, als ich siebzehn war, Alleria. Ich bin sogar noch jünger als Turalyon! Sieh dir mein Gesicht an. Ich bin zweiundzwanzig... aber welches zweiundzwanzigjährige Mädchen will einen so alten Mann haben?“

Er wies wütend auf sein Gesicht. Es war faltig, mit weißem Bart und weißen Haaren. Sie schnappte nach Luft und machte einen Schritt zurück. Mitleid glättete ihre Wutfalten. Khadgar war plötzlich verlegen und schaute weg.

„Ich wollte nur... nun, zusehen zu müssen, wie ihr beide etwas wegwerft, das ich nie haben werde... das stört mich einfach. Und es tut mir leid, ich hätte es nicht an dir auslassen sollen.“

„Nein... Mir tut es leid. Ich habe nicht nachgedacht.“

Die Stille lastete schwer und peinlich auf ihnen. Schließlich seufzte Khadgar: „Komm. Lass uns Turalyon und die anderen suchen. Wir müssen unsere Pläne fertigstellen. Weil... du weißt schon.“

„Bald“, sagte sie und schenkte ihm ein für ihre Verhältnisse ungewöhnlich freundliches Lächeln.

„Das Ding ist riesig“, erklärte Alleria. Turalyon hatte sie und ihre Waldläufer gebeten, die Zitadelle auszukundschaften. Und nun standen die beiden mit Khadgar, Danath und Kurdran im Versammlungsraum und besprachen, was sie herausgefunden hatten. „Allein auf den Wehrgängen befinden sich Dutzende Orcs. Und hier stehen Wachttürme.“ Sie zeigte die Stellen auf der Karte. „Wir sollten von hier aus angreifen. Während ihr sie da ablenkt, kann ich die Waldläufer hineinschicken und die Wachen kaltstellen. Wenn dann niemand mehr Alarm schlagen kann, kommt die Hauptangriffswelle von den Toren her, die wir für euch öffnen werden.“

„Gut“, sagte Turalyon. „Wir greifen von zwei Seiten an. Das dürfte sie überraschen. Wir müssen sie mit voller Wucht attackieren. Kesselt sie ein, lasst keinen entkommen, schließt die Reihen und metzelt jeden Orc nieder, der noch kämpfen kann.“

„Wir greifen von oben an“, erklärte Kurdran, „und halten sie beschäftigt, während ihr da unten attackiert.“

Turalyon nickte, aber Alleria schüttelte den Kopf. „Ihr werdet mit euren eigenen Problemen beschäftigt sein“, sagte sie. „Die Orcs haben Drachen, schon vergessen?“

Sie hatten alle die langen, dunklen Schemen über der Zitadelle kreisen gesehen, die wie große Vögel immer wieder spielerisch herabstießen.

Doch Kurdran lachte. „Ja, aber es sind nur eine Handvoll, Mädchen! Die töten wir, während du noch blinzelst.“

Turalyon musste angesichts der Selbstsicherheit des Wildhammerzwerges schmunzeln. „Nichtsdestotrotz“, sagte er, „bauen wir nicht nur auf die Hilfe unserer Greifenreiterfreunde. Wir müssen uns mehrfach absichern.“

Kurdran nickte. Er sah hinüber zu Khadgar. „Kannst du irgendetwas gegen die Hexenmeister oder die Drachen unternehmen?“

„Mir fällt sicherlich etwas ein“, antwortete Khadgar. Er schaute zu Kurdran. „Ich habe da ein paar Ideen, die deinen Greifen einen echten Vorteil verschaffen und den Soldaten helfen...“

Turalyon nickte. Der Plan nahm Konturen an. Dann kam er zu dem Teil, vor dem er sich fürchtete. Er atmete tief ein. „Jemand muss bleiben und die Stellung in der Ehrenfeste halten, falls wir uns zurückziehen müssen. Alleria, ich möchte, dass du das bist.“

„Was?“ Sie starrte ihn mit offenem Mund an.

„Es ist entscheidend, dass jemand zurückbleibt, dem ich vertraue. Hier ist unsere Basis. Wir können es uns nicht erlauben, sie zu verlieren, wenn die Orcs sich aufteilen und...“

„Du brauchst mich im Angriff.“

„Wie ich bereits sagte, brauche ich dich hier. Sende deine Waldläufer aus, um die Wachen auszuschalten.“

Sie schüttelte den blonden Kopf. „Nein, das tue ich nicht. Jeder Soldat hier weiß, wie man diese Festung hält. Meine Waldläufer unterstehen mir. Und ich schicke sie nicht mit dir. Nicht, wenn du mir befiehlst zurückzubleiben.“

„Sei doch vernünftig“, begann er.

Aber sie unterbrach ihn. „Vernünftig? Ich bin Veteranin und habe mehr Schlachten geschlagen, als du je erlebt hast, Turalyon!“

„Alleria, du bist... zu waghalsig“, sagte Turalyon und hasste es, dass er so mit ihr reden musste. Aber er sah keinen anderen Weg. „Ich habe dein Leben gerettet, als...“

„Und ich habe euch alle gerettet. Und das mehr als einmal!“

„Meine Herren“, sagte Khadgar. Dabei legte er eine Hand auf Kurdrans und Danaths Schulter und führte sie zur Treppe. „Ich glaube, ihr beide wollt doch sicher noch einmal die Konstellationen sehen, von denen ich euch erzählt habe.“

„Ach ja“, sagte Kurdran, und die drei verließen schnell den Raum.

Turalyon war zu sehr auf Alleria fixiert, um zu bemerken, dass man ihnen gerade einen Augenblick Privatsphäre ermöglichte. „Alleria, du kämpfst nicht klug. Jedenfalls nicht mehr. Ich kann nicht immer auf dich aufpassen, um dich vor dir selbst zu schützen!“

„Ich habe ein Recht auf Rache! Sie haben meine Familie abgeschlachtet... mein Volk...“

„Glaubst du, Lirath hätte gewollt, dass du dein Leben wegwirfst? Was für ein Vermächtnis wäre das denn gewesen?“

Es war das erste Mal, dass er von Allerias Bruder sprach. Die Erwähnung des Namens unterdrückte eine scharfe Antwort. Unbarmherzig setzte Turalyon nach, bevor sie etwas erwidern konnte. „Ich weiß, dass du eigentlich eine großartige Kämpferin bist. Aber... gerade jetzt bist du es nicht.“

„Lirath... die anderen... Ich war nicht bei ihnen. Ich hätte vielleicht etwas tun können. Ich war in Sicherheit, als sie gestorben sind.“ Tränen standen in ihren strahlenden grünen Augen, und Turalyon atmete tief ein. Er hatte sie nie zuvor um ihre Angehörigen weinen gesehen. „Also tat ich das Nächstbeste. Ich folgte ihren Mördern. Und es half. Dadurch konnte ich den Schmerz verdrängen.“

Und plötzlich verstand Turalyon. „Was du mir in der Nacht erzählt hast“, sagte er und betete darum, das Richtige zu sagen. „Das habe ich übersetzen lassen.“ Er zögerte, dann flüsterte er: „Hilf mir zu vergessen.“

Tränen flossen und liefen ihre Wangen hinunter. „Aber ich wollte nicht vergessen. Ich will sie nicht loslassen. Wenn ich nicht um sie trauere... ist es, als wären sie gar nicht weg.“

Auch Turalyon hatte Tränen in den Augen. Es brach ihm das Herz. Aber sie brauchte das. Sie musste trauern, die Toten beweinen. Orcs zu töten, war für sie kein Allheilmittel mehr. Es hielt den Schmerz nicht mehr zurück, und sie begann sich damit zu behelfen, dass sie stattdessen alle Gefühle unterdrückte. Es zumindest versuchte.

„Ich kann nicht zurückbleiben. Bitte mich nicht darum. Das habe ich schon einmal gemacht. Ich will nicht mit ansehen müssen, wie jemand, den ich liebe, in den Tod geht, während ich...“

Plötzlich legte sie die Arme um ihn, ihr Kopf war an seine Brust gepresst, und er hielt sie fest umschlungen. Ihr schlanker Körper erbebte unter den zu lange zurückgehaltenen Tränen. Es war, als würde sie ertrinken. Turalyon küsste ihr goldenes Haar und atmete den Duft nach Pinien, Erde und Blumen ein.

„Ich lasse dich niemals zurück“, schwor er.

Sie wandte ihm ihr nasses Gesicht zu. „Und ich“, flüsterte sie ihm zu, als er sie küsste, „werde dich niemals verlassen.“

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