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„Kämpfer des Kriegshymnenklans – zum Angriff!“

Grom riss Blutschrei hoch und ließ das Sonnenlicht auf dem Axtblatt glitzern. Dann stürmte er vorwärts und schwang die Waffe in hohem Bogen. Sie sang förmlich, als die Klinge durch die Luft schnitt.

Seine Krieger kämpften tapfer und erzeugten dabei die Kampfgeräusche, nach denen der Klan benannt war. Viele begannen auch zu singen, wobei es weniger um die Worte als um den Rhythmus ging. Die pulsierenden Schläge brachten ihr Blut in Wallung und ließen gleichzeitig den Mut ihrer Feinde sinken.

Allerdings blieb die erhoffte Wirkung diesmal aus – denn dieser Gegner kannte keine Angst.

Der Erste kam in Reichweite und brüllte etwas Unverständliches. Blutschrei traf ihn am Hals und schnitt glatt durch das Fleisch, durchtrennte Knochen und Sehnen. Der Kopf fiel, den Mund noch zum Schrei geöffnet, der Schaum vor den Lippen rot vor Blut. Der grüne Körper brach zusammen, obwohl er den sinnlosen Versuch unternahm, noch im Sturz mit dem Hammer zuzuschlagen.

Blut spritzte wie ein warmer, roter Regen über Groms Gesicht. Er grinste und leckte es sich von den Lippen.

Ein Knochenmalmer weniger, um den man sich sorgen musste.

Um ihn herum metzelten die Kriegshymnenkrieger den Knochenmalmerklan nieder. Normalerweise waren die Knochenmalmer selbst wild genug, um ihre Gegner in Angst und Schrecken zu versetzen. Aber Grom hatte seine Krieger vorbereitet. „Sie sind wie wilde Tiere“, hatte er sie gewarnt. „Sie sind stark und haben keine Angst vor Schmerz. Doch sie sind auch nicht sonderlich schlau, sie koordinieren ihre Angriffe nicht. Sie greifen einfach instinktiv an. Ihr seid die besseren Kämpfer. Konzentriert euch, achtet auf die Flanken, arbeitet mit euren Brüdern zusammen, und wir werden sie wie Grashalme ummähen.“ Seine Leute hatten gejubelt, und bislang schienen sie sich an seine Taktik zu halten. Aber er fragte sich, wie lange es noch dauern mochte, bis ihr eigener Blutrausch sie überwältigte und jeden klaren Gedanken beiseitefegte, so wie bei ihren Vettern vom Knochenmalmerklan.

Er spürte es selbst, das süße, heiße Gefühl, das seinen Puls beschleunigte und ihn mit Kraft erfüllte. Als Blutschrei einen angreifenden Gegner von der Schulter bis zur Hüfte spaltete, fühlte Grom, wie ihn Freude und Wut durchströmten. Sein Geist wurde berauscht, seine Sinne geschärft, und eine Woge der Kampflust erfasste ihn. Er wollte sich dem Blutrausch ergeben, dem Lied des Kampfes, sich der Wonne des Todes, der Zerstörung und des Sieges hingeben.

Aber das würde er nicht tun. Er war Grom Höllschrei, Häuptling des Kriegshymnenklans. Er hatte eine Verpflichtung. Und um sie zu erfüllen, brauchte er einen klaren Kopf.

Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Ein schwerer Orc hob einen seiner Krieger hoch und schleuderte ihn in eine Gruppe seiner Leute. Dann schnappte er sich einen der gefallenen Orcs, riss ihm einen Arm aus und benutzte diesen als bluttriefende Keule.

Darauf hatte Grom gewartet. Gedankenschnell lief er auf den Krieger zu. Dabei schlug er jeden Knochenmalmer um, der ihm im Weg stand, und stieß seine eigenen Krieger beiseite. Schließlich war er nur noch eine Körperlänge von dem verrückten Orc entfernt.

„Hurkan!“, brüllte er. Er ließ Blutschrei kreisen, um sich Platz zu schaffen. Nun war ihm die notwendige Aufmerksamkeit sicher, und sein Gebrüll war selbst über den Kampf lärm zu verstehen. „Hurkan Skullsplinter!“

„Grom!“, entgegnete der Häuptling des Knochenmalmerklans und hielt den abgerissenen Arm hoch. „Schau, ich habe einen deiner Orcs. Zumindest teilweise!“ Hurkan lachte brüllend, Geifer spritzte aus seinem Mund.

„Ruf deine Krieger zurück, Hurkan!“, verlangte Grom. „Ruf sie zurück, oder wir werden jeden Einzelnen töten!“

Hurkan hob den abgerissenen Arm als Antwort hoch, und um ihn herum verharrten viele seiner Krieger, um zu hören, was ihr Häuptling zu sagen hatte. „Glaubst du, wir fürchten den Tod?“, fragte Hurkan überraschend ruhig.

„Ich weiß, dass du das nicht tust“, antwortete Grom. „Nur, warum willst du euer Leben wegwerfen, während du gegen dein eigenes Volk kämpfst, wenn du stattdessen Menschen auf Azeroth töten könntest?“

Der Häuptling des Knochenmalmerklans neigte den Kopf. „Azeroth? Das Portal wurde zerstört, Höllschrei, oder hast du das vergessen?“ Er grinste, ein gemeiner Gesichtsausdruck entblößte seine zerbrochenen Zähne. „Allerdings bist du ja nie selbst auf dieser Welt gewesen.“

Groms Kopf hämmerte, und sein Blick färbte sich einen Moment lang rot. Er verspürte große Lust, Hurkan den Spott aus dem Gesicht zu prügeln, am liebsten mit Blutschreis Klinge. Aber er wusste, dass der Häuptling ihn nur provozieren wollte, und dieses Wissen half ihm, seine Wut zu kontrollieren.

„Das warst du auch nicht“, gab er zurück, wobei er sich beherrschen musste, um nicht loszubrüllen. „Doch jetzt bekommen wir alle unsere Chance. Ner’zhul sagt, dass er das Portal erneut öffnen kann. Die Horde wird auf jene Welt zurückkehren und sie diesmal erobern.“

Hurkan lachte. Ein krächzendes Geräusch, das tief begann und sich zu einem schrillen Ton steigerte. „Ner’zhul! Der vertrocknete alte Schamane. Er hat uns diesen ganzen Mist doch erst eingebrockt. Dann hat er sich aus dem Staub gemacht und versteckt. Und jetzt will er, dass wir wieder nach seiner Pfeife tanzen? Was hätten wir denn davon?“

„Die Möglichkeit, Menschen zu töten, viele Menschen“, antwortete Grom. „Die Möglichkeit, Ruhm und Ehre zu erlangen. Die Möglichkeit, neues Land zu erobern, das grün und fruchtbar ist.“ Er deutete um sich herum. Nagrand war immer noch grün und üppig, anders als der Rest von Draenor. Das lag vermutlich daran, dass die Knochenmalmer nicht viel mit den Hexenmeistern zu tun gehabt hatten. Dennoch wusste Grom, dass der Klan der Knochenmalmer, wie alle Orcs, verzweifelt nach neuen Feinden suchte, die er bekämpfen konnte.

„Was müssten wir dafür tun?“, fragte Hurkan. Er hielt immer noch den abgerissenen Arm von Groms Krieger in der Hand.

Grom furchte die Stirn. Vielleicht war das der geeignete Moment, um den Wahn, der den Verstand des Häuptlings der Knochenmalmer umnebelte, zu durchdringen. Grom hatte heule ein paar gute Krieger verloren. Aber wenn er es schaffte, Hurkan auf Linie zu bringen, ohne einen weiteren einbüßen zu müssen, war er zufrieden. Wenn es nach ihm ging, würde keiner seiner Leute mehr in Stücke gerissen werden.

„Zwei Dinge. Erstens: Unterwirf dich und deinen Klan Ner’zhuls Befehl“, antwortete Grom. „Befolge seine Befehle und kämpfe mit den anderen Klans statt gegen sie.“

Hurkan grunzte. „Gebt uns etwas, das wir bekämpfen können, und wir lassen den Rest von euch in Frieden“, versprach er.

„Ihr werdet mehr als genug Feinde bekommen“, versicherte ihm Grom. Er verlagerte den Griff um seine Axt. Er glaubte nicht, dass Hurkan der zweiten Forderung ebenso schnell nachgeben würde. „Es gibt noch etwas. Ner’zhul will das da...“ Und er zeigte darauf.

Hurkan sah verwirrt nach unten. Er furchte die Stirn, als er erkannte, dass Grom auf den Totenschädel um seinen Hals wies. Der Schädel eines Orcs, verwittert von Jahren der Beanspruchung. Tiefe Furchen verliefen darin.

Der Häuptling der Knochenmalmer schaute ihn finster an. „Nein. Den bekommt er nicht.“ Er legte eine Hand schützend auf das Schmuckstück. „Das ist nicht irgendein Schädel. Der stammt von Gul’dan!“

„Bist du dir da so sicher?“, fragte Grom und hoffte, damit Zweifel zu säen. „Ich habe gehört, dass er auf Azeroth gestorben ist.“

„Das stimmt“, sagte Hurkan. „Zerfetzt von Dämonen, sagt man, auf einer Insel, die er der See entrissen hat. Getötet von seiner eigenen Macht und seinem Stolz.“ Er lachte schallend. „Aber immerhin überlebte einer seiner Hexenmeister. Der entkam dem Tempel, den sie dort entdeckt hatten. Auf seinem Weg nach draußen fand er Gul’dans Überreste, in Fetzen gerissen, sagte er.“ Der Häuptling der Knochenmalmer zuckte mit den Achseln. „Selbst im Tod war noch Macht vorhanden, glaubte zumindest der Hexenmeister. Besonders im Kopf. Also nahm er ihn mit.“ Er lachte. „Scheinbar ist Gul’dan doch noch nach Draenor zurückgekehrt!“

„Wie bist du daran, gekommen?“, fragte Grom.

Wieder zuckte Hurkan mit den Achseln. „Ein Krieger tötete den Hexer und nahm ihm den Schädel ab. Ich habe den Krieger getötet und ihn an mich genommen. Oder vielleicht waren auch noch ein paar andere dazwischen. Was soll’s. Nachdem ich ihn gesehen hatte und erfuhr, wessen Schädel das ist, musste ich ihn haben. Und jetzt gehört er mir.“ Er grinste erneut. „Und ich werde ihn nicht abgeben, Nicht an Ner’zhul oder sonst jemanden.“

Grom nickte. „Ich verstehe.“

Sein Angriff erfolgte plötzlich und geschmeidig. Blutschrei schnitt schon durch die Luft, als er auf seinen Gegner zusprang.

Aber Hurkan war ein erfahrener Krieger, und diesmal war sein Geist klar. Er wich zur Seite aus, die Axt glitt an seiner Schulter vorbei, und er wirbelte herum. Seine gewaltige Faust erwischte Grom an der Wange, und Schmerzen durchfuhren ihn, doch er ignorierte sie.

Hurkan griff sich einen Knüppel von einem der getöteten Krieger und schlug damit nach Grom. Grom tänzelte beiseite, der Knüppel verpasste seine Brust knapp, und er schlug erneut zu. Blutschrei erwischte Hurkan am Oberarm. Die Axt schnitt lief ins Fleisch.

Grom war sich vage bewusst, dass ihn die versammelten Orcs beobachteten, um zu sehen, wer gewann. Er wusste, dass mehr als nur sein eigenes Leben von diesem Kampf abhing. Aber er hatte kaum mehr als eine Sekunde Zeit für solche Gedanken, wenn er gewinnen wollte.

Hurkan bewies, dass er ein würdiger Gegner war. Der Häuptling des Knochenmalmerklans war so groß wie Orgrim Schicksalshammer und fast so schnell. Und Hurkan war kein Dummkopf, sondern ein gerissener alter Krieger. Wer aufpasste, konnte in seinem Gegner lesen und dessen Aktionen vorausahnen. Das bewies Hurkan, als er sich unter einem weiteren Schlag hinwegduckte, hochkam und beide Hände gegen Groms Brust schlug, sodass dieser mehrere Schritte zurückstolperte.

Doch der Moment der Klarheit ging vorbei. Grom konnte bereits sehen, wie sein Gegner die Augen verdrehte und sich Schaum vor seinem Mund bildete. Hurkan atmete angestrengt, seine Schläge wurden heftiger, kamen dafür aber weniger präzise.

Grom wehrte die wilden Angriffe mit Leichtigkeit ab, obwohl seine Arme unter den Schlägen litten. Er fletschte die Zähne zu einem wilden Grinsen und spürte, wie der Blutrausch in ihm aufstieg. Grom lief Gefahr, ebenso davon übermannt zu werden wie Hurkan. Doch das ließ der Häuptling des Kriegshymnenklans nicht zu. Er war der Herr, nicht der Blutrausch. Es war an der Zeit, den Kampf zu beenden. Er duckte sich unter Hurkans letztem Schlag, atmete tief ein und rammte seinen Kopf in das Gesicht des Knochenmalmers. Dessen schwarz tätowierter Mund öffnete sich fast unmöglich weit, und ein wilder, markerschütternder Schrei dröhnte durch die Luft.

Hurkans Gebrüll war ein tiefer Gegenpart, als er seine großen Hände an die blutenden Ohren presste und vor Schmerz auf die Knie sank. Blut lief ihm aus Nase und Augen und tröpfelte aus dem offenen Mund. Groms legendärer Kriegsschrei verwandelte sich in ein triumphales Lachen, als er Blutschrei in einem eleganten Bogen führte und Hurkan den Kopf von den massigen Schultern schlug.

Der Torso bewegte sich noch, seine Arme schlugen um sich. Eine Sekunde lang blieb er stehen, als würde er mit anderen Sinnen lauschen, dann fiel er zu Boden. Dort blieb Hurkan liegen, zuckte aber noch leicht.

Grom schaute ihn an, dann trat er vor den Leichnam.

Glücklicherweise war der Schädel unbeschädigt. Grom sah ihn sich an, dachte an Gul’dan, dachte an Ner’zhul. Er erinnerte sich an alles, was während der letzten Jahre geschehen war. Dann zog er einen Stoffbeutel hervor, legte Gul’dans Schädel hinein und verstaute den gefährlichen Gegenstand sicher.

Teron Blutschatten hatte mit Grom vor dessen Abreise gesprochen. Der Todesritter hatte ihn davor gewarnt, den Schädel direkt zu berühren. Obwohl Grom den Todesritter – dieses widernatürliche Ding, das irgendwie von den Toten zurückgekehrt war und einen menschlichen Körper besetzte – nicht mochte und ihm misstraute, beachtete er die Warnung. Gul’dan war schon im Leben gefährlich gewesen, sodass sich Grom nicht vorstellen konnte, dass die Überreste des Zauberers auch im Tode noch Macht hatten.

Mit Blutschrei in der einen Hand und dem Beutel in der anderen straffte er sich und schaute über die versammelten Orcs. „Wer spricht jetzt für den Knochenmalmerklan?“, fragte er laut.

Bin großer, kraftvoll gebauter junger Orc trat ihm entgegen. Er trug einen aus Orc-Knochen gemachten Gürtel und einen Armschutz, der aus der Wirbelsäule eines Ogers gefertigt war. Ein schwerer, mit Dornen bestückter Knüppel lag auf seiner Schulter. „Ich bin Tagar Rückenbrecher“, verkündete er stolz, obwohl sein Blick unbehaglich auf Hurkans enthaupteter Leiche ruhte, bevor er sich Grom zuwandte. „Ich führe die Knochenmalmer jetzt an.“

Grom deutete mit dem Beutel auf ihn. „Ich habe mir den Schädel genommen. Jetzt frage ich dich, Tagar Rückenbrecher, willst du dich uns anschließen oder Hurkan?“

Der neue Häuptling zögerte. „Bevor ich antworte, habe ich eine Frage, Grom Höllschrei. Du willst, dass wir Ner’zhul folgen. Warum tust du das? Du hast selbst gesagt, dass er all den Ärger verursacht hat!“

Der brutal wirkende Krieger war also nicht so dumm, wie er aussah. Grom entschied, dass er eine Antwort verdient hatte. „Es stimmt. Ner’zhul ist für all den Ärger verantwortlich“, antwortete Grom, „weil er diesem Verräter die Kontrolle überlassen hat.“ Er gestikulierte mit dem Beutel. „Und weil er Gul’dan ungehindert agieren ließ. Aber davor war Ner’zhul weise und hat die Klans gut beraten. Und er hat die Horde gegründet, was eine gute Sache ist. Ich folge ihm jetzt, weil er geschworen hat, das Dunkle Portal erneut zu öffnen. Ich hätte schon beim ersten Mal dabei sein sollen, um Menschen auf Azeroth zu töten, aber Gul’dan hat das verhindert. Jetzt bekomme ich meine Chance.“ Er lachte. „Ner’zhul hat mir gesagt, dass Gul’dans Schädel benötigt wird, um das Portal zu öffnen. Es erfüllt mich mit Freude, dass ausgerechnet er, der mir den ersten Zugang verweigert hat, jetzt mein Schlüssel wird. Deshalb, Knochenmalmer, folge ich Ner’zhul. – Jetzt bist du dran. Komm zurück zur Horde. Oder...“ Er hob Blutschrei erneut und wirbelte so stark damit, dass die Waffe sang. Es war ein an- und abschwellendes Klagelied über Blut und Chaos. „... wir schlachten euch alle hier ab, bis zum letzten Säugling. Und zwar sofort.“

Er warf den Kopf zurück und brüllte. Hinter ihm begannen seine Krieger zu singen. Sie stampften mit den Beinen, schwangen ihre Waffen im Rhythmus, bis die ganze Ebene erbebte.

Grom leckte sich die Lippen und hob die Axt. Dann sah er in Tagars weit aufgerissene Augen. „Was ist nun?“, knurrte er. „Blutschrei will wieder geschwungen werden. Soll meine Klinge menschliches Blut kosten... oder das der Knochenmalmer?“

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