10

„Wir teilen uns in zwei Gruppen auf“, wies Blutschatten Fenris, Tagar und seine Todesritter an. Um sie herum herrschte das übliche Durcheinander, das charakteristisch war, wenn ein Lager so schnell wie möglich abgebrochen wurde. „Ich brauche...“

Er sah auf, als die Geräusche jäh verklangen. Todesschwinge war zurückgekehrt und wirkte wieder wie der perfekte Mensch. Er sah Blutschatten an.

„Was ist? Hast du geglaubt, ich käme nicht zurück?“

„Nein, natürlich nicht.“

Etwas an der Art, wie Blutschatten antwortete, schien dem Drachen offenbar nicht zu gefallen. Seine schwarzen Augenbrauen zogen sich zusammen.

Blutschatten begriff, dass seine Worte als arrogant ausgelegt werden konnten, und fügte hastig hinzu: „Ich vertraue Eurem Wort völlig, Lord Todesschwinge.“

Der Drache schien besänftigt.

Blutschatten fuhr fort: „Wir müssen nach Alterac reisen. Und von da aus nach Dalaran. Dürfen wir Euch um die Hilfe Eurer Kinder bitten?“

„Ihr dürft. Ich werde sie jetzt rufen.“ Todesschwinge warf den Kopf zurück, riss den Mund weiter auf, als ein Mensch es vermocht hätte, und stieß einen merkwürdigen Schrei aus, der die Ohren marterte. Dadurch erschuf er einen kalten Hauch, der an das Jenseitige erinnerte.

Einige der Orcs wichen zurück. Selbst Blutschatten hatte Mühe, die Nerven zu behalten, während die Erde erbebte, als würde sie dem schwarzen Drachenlord höchstpersönlich antworten.

Schließlich schloss Todesschwinge sein Maul, und sein Gesicht nahm normale Proportionen an. „Alles in Ordnung“, sagte er und lächelte, offensichtlich erfreut über das Unbehagen der Todesritter und Orcs. „Sie kommen.“

„Danke.“ Blutschatten verneigte sich. Er wandte sich den beiden Orc-Häuptlingen zu. Es war ihm unangenehm, was er von ihnen verlangen musste, und er befürchtete, dass sie vielleicht störrisch reagierten. Doch es musste getan werden. „Eure Aufgabe ist schwierig, aber notwendig. Ich muss euch bitten, in die Gruft des Sargeras zu gehen.“

Tagar knurrte unruhig, und selbst der kräftigere Fenris wirkte bestürzt. „Dann schickst du uns in den sicheren Tod!“, zischte Fenris.

„Absolut nicht. Dort befindet sich ein Artefakt, das Ner’zhul benötigt. Ich werde Ragnok mit euch schicken, damit er euch hilft und erklärt, was...“

„Gul’dan... der mächtige Gul’dan ist dort gestorben!“, unterbrach ihn Fenris. „Wir haben Geschichten darüber gehört, wie Gul’dan die Gruft vom Grund des Ozeans erhoben hat. Und dann haben ihn die Monster angegriffen, die den schrecklichen Ort bewachten. Wir haben gehört, dass nur ein paar entkommen sind, und dass die meisten dort starben und vor Schmerz dabei geschrien haben... Böses lebt dort in der Finsternis, Blutschatten!“

Der Todesritter lächelte nur schwach über die Ironie dieser Bemerkung. Denn er wusste gut, dass die Menschen auf dieser Welt die Orcs für monströse Kreaturen hielten.

„Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ich euch und einen meiner eigenen Todesritter ausschicken würde, wenn ich nicht an euren Erfolg glauben würde?“ Darauf hatten sie keine Antwort und tauschten unbehagliche Blicke. Blutschatten beruhigte sie mit seinem Lächeln. „Das ist schon besser. Wie ich bereits sagte, müsst ihr ein bestimmtes Artefakt bergen. Ragnok wird euch alles erklären. Wenn ihr es gefunden habt, bringt es so schnell wie möglich zum Dunklen Portal. Dort werden wir uns mit euch treffen. Der Kriegshymnenklan kann die Allianz nicht ewig beschäftigen.“

Beide Häuptlinge nickten und sahen entschlossener aus. Blutschatten betrachtete sie einen Moment. Tagar war ein kraftvoller Kämpfer, besaß aber keinerlei Raffinesse und nur wenig Intelligenz. Fenris dagegen war schlau und gerissen genug für sie beide. Und seine Haltung verriet Blutschatten, dass er den jungen Häuptling der Knochenmalmer auf Linie halten würde.

Zufrieden wandte sich Blutschatten dem Drachenlord zu. „Großer Todesschwinge, kannst du sie zu der Gruft bringen?“

Der Drachenmann nickte. „Wir kennen diese Insel, von der du sprichst“, sagte er. „Und hier sind meine Kinder... Mehr als genug für beide Gruppen, denke ich.“

Noch während Todesschwinge sprach, hörte Blutschatten ein flatterndes Geräusch – als würde Regen niederprasseln.

Massive Felsbrocken peitschten durch die Luft und schlugen in den Fels und die Erde um sie herum ein.

Blutschatten sah dunkle Streifen am Sternenhimmel, aber das waren sicherlich keine Regentropfen. Unter seinen Füßen spürte er, wie die Erde erneut bebte. Plötzlich bemerkte er die hell orangefarbenen Flecken, die immer größer wurden und sich in eine diamantartige Struktur verwandelten. Seine Augen weiteten sich, als er das feurige Magma in den großen Mäulern der Bestien sah. Das stetig lauter werdende Geräusch rührte vom Schlag ihrer Flügel her.

Blutschatten beobachtete ehrfürchtig, wie die Drachen landeten. Die Erde erzitterte, als die mächtigen Kreaturen aufsetzten. Flüssiges Feuer tropfte aus ihren Mäulern und fiel glühend zu Boden. Ihre Schuppen leuchteten im Sternenlicht, ein glänzendes Schwarz wie in einem mitternächtlichen Teich, und ihre Klauen wirkten wie poliertes Eisen.

In Blutschattens Augen waren sie die lebende Erweiterung des Bodens, auf dem sie standen. Als alle gelandet waren, falteten die Drachen ihre ledrigen Schwingen zusammen und beobachteten die Orcs und Todesritter genau. Ihre schwarzen Augen starrten die Krieger an.

Die Köpfe der Echsen drehten sich, und die Schwänze schlugen von rechts nach links. Sie erinnerten Blutschatten an eine Katze, die ihre Beute beobachtete, bevor sie zuschlug, und er erschauderte leicht.

„Hier sind meine Kinder“, verkündete Todesschwinge, und seine Stimme war von Stolz erfüllt. „Die besten Geschöpfe von Azeroth!“ Er wies auf einen besonders großen Drachen, aus dessen Stirn zwei Hörner aufragten. „Sabellian“, verkündete Todesschwinge, und der Drache senkte den Kopf, als sein Name genannt wurde, „ist in allen Belangen mein Stellvertreter. Er und einige andere werden deine Orcs zu der Insel bringen. Und um den Ausflug nach Alterac kümmere ich mich selbst.“

„Ich bin geehrt“, begann Blutschatten, aber Todesschwinge gebot ihm zu schweigen, indem er ungeduldig mit der Hand wedelte. Seine Augen leuchteten wie glühende Kohlen, als er fortfuhr. „Bewerte dich nicht über, Todesritter. Ich tue das nicht, um dir Respekt zu erweisen, sondern um den Erfolg zu sichern. Meine Pläne scheitern, wenn du versagst. Ich schlage vor, dass dir das nicht passiert, wenn du am Leben bleiben willst... nun, zumindest das, was du als Leben bezeichnest.“

Todesschwinge grinste süffisant. Dann begann er zu lachen, das Geräusch steigerte sich von normalem menschlichem Lachen zu etwas viel Dunklerem. Er warf den Kopf zurück und hob die Arme. Dadurch brandete Wind auf, der Blutschatten und die anderen vor die Felsen hinter ihnen wehte.

Was tat er da? Blutschatten fragte sich einen Moment lang, ob das Ganze nicht nur ein grausamer Scherz gewesen war, den Todesschwinge nun beenden wollte. Die Flammen der Lagerfeuer flackerten in der plötzlichen Böe und erschufen groteske, tanzende Schatten. Hinter dem lachenden Mann wuchs Todesschwinges eigener Schatten an. Er bewegte sich, als wäre er ein eigenständiges lebendes Wesen und änderte die Form, während er immer größer wurde. Schließlich breitete der Schatten die Schwingen aus und bedeckte so die Berge, alle anderen Drachen und die Umgebung.

Zum dritten Mal in dieser Nacht erbebte die Erde, und dieses Mal stürzten viele Orcs schwer. Spalten öffneten sich, siedender Dampf stieg auf, rotorangefarbenes Magma in den Tiefen glühte wie die flüssigen Flammen in den Mäulern der Drachen.

Als der Schatten wuchs und Konturen annahm, verzerrte sich Todesschwinges menschlicher Körper. Seine Gestalt wurde undeutlich, als würde sie von den Schatten aufgesogen. Nur seine Augen blieben klar, wurden größer und standen schräger. Sie nahmen den rötlichen Schein der Flammen an, überstrahlten aber schon bald die kleinen Feuer.

Der Schatten wuchs immer noch, so wie der schwindende Körper, der ihn warf. Er schien seine eigene Substanz zu besitzen und entfernte sich von den Felsen. Er wurde größer und dicker und glich sich schnell den Schatten an. Schließlich verwandelte er sich in einen schwarzen Drachen, nein... in den schwarzen Drachen. Der mächtige, gefährliche Vater der schwarzen Sippe.

Blutschatten hatte erwartet, dass Todesschwinge sich in den perfektesten Vertreter seiner Rasse verwandeln würde. Aber als die Form der Echse deutlicher wurde, erkannte er, dass Todesschwinge die dunkle Schönheit seiner Kinder fehlte. Riesige Plattenpanzer aus glühendem Metall liefen den Rücken des Drachen entlang, vom Schwanz bis zu dem langen, schmalen Kopf. Unter ihnen erkannte Blutschatten rote, goldene und weiße Flecken in Strahlenform, als ob geschmolzenes Feuer... irgendwie durchbrechen würde. Es wirkte so, als hielten die metallenen Platten, die auf Todesschwinges Rücken befestigt waren, ihn körperlich erst zusammen.

Und plötzlich erkannte Blutschatten, warum Todesschwinge so bedacht auf das Aussehen seines menschlichen Körpers war. Seine Drachengestalt war... fehlerhaft!

Rote Augen glühten aus dem Reptiliengesicht. Todesschwinge streckte seine Flügel aus, und die große, ledrige Oberfläche war so finster wie der sternlose Himmel und so runzelig wie ein altes Weib. Die Kraft loderte in dem Drachen wie die Hitze eines tobenden Feuers.

„Kommt, kleine Todesritter, wenn ihr euch traut“, befahl Todesschwinge. Seine Stimme war jetzt ein tiefes Dröhnen. Er senkte den Kopf fast bis zum Boden, und Blutschatten stellte fest, dass er einen Moment lang bewegungsunfähig war, bevor er seinen Körper zum Gehorsam zwang. Zitternd kletterte er auf den Drachen, wo dessen Hals auf den gepanzerten Rücken traf. Glücklicherweise boten die unnatürlichen Metallplatten festen Halt. Die anderen taten es ihm nach, und bald schon saß Blutschattens Gruppe auf den Drachen.

Ohne vorherige Warnung startete Todesschwinge mit kräftigem Schwung in die Luft und schlug mit den Flügeln. Reine Muskelkraft beförderte sie in den Himmel. Blutschatten hielt sich gut fest, als der Boden unter ihm verschwand, und dann schnellten sie empor. Die Luft trug sie, als wäre der Drache so leicht wie ein Strohhalm. Sabellian und seine Begleiter trennten sich vom Rest und verschwanden in der Nacht.

Todesschwinge flog eine Kurve, dabei hing sein Flügel so tief, dass Blutschatten glaubte, er könnte über den Boden streifen. Dann drehten sie ab in Richtung Alterac.


Aiden Perenolde, König von Alterac und Gefangener in seinem eigenen Palast, schreckte aus dem Schlaf auf. Er hatte geträumt und erinnerte sich in vagen Bildern an etwas Großes, Schwarzes und Reptilienähnliches, das über ihm schwebte und... lachte?

Vielleicht, überlegte er bitter, war das eine Metapher für sein Schicksal.

Er rieb sich das Gesicht, verdrängte den Albtraum, aber der Schlaf kam nicht zurück. Murrend stand er auf. Vielleicht würde ihm etwas Wein helfen. Er goss sich ein Glas der dunklen Flüssigkeit ein. Rot wie Blut, überlegte er, trank es langsam aus und überdachte die Entscheidungen, die ihn hierher geführt hatten.

Damals war alles so leicht erschienen. So weise, so richtig. Die Orcs zerstörten alles, was sich in ihrem Weg befand. Deshalb hatte er mit ihnen verhandelt. Er wollte sein Volk retten. Der König schaute finster in sein Glas, als er an das Gespräch mit Orgrim Schicksalshammer zurückdachte. Zuerst schien alles zu funktionieren, aber letztlich war doch alles schiefgelaufen. Sein sogenannter „Verrat“ wurde entdeckt, und die Orcs hatten ausgerechnet bei der Sache versagt, die sie eigentlich so gut konnten: beim Zerstören.

Dumme, große, grüne Idioten!

Plötzlich wurde die Tür zu seinem Schlafzimmer aufgebrochen. Perenolde verschüttete den Wein über sein Nachthemd, als mehrere große Gestalten hereinstürmten. Eine Sekunde lang schaute er nur untätig zu und glaubte, dass er immer noch träumte, als die großen, grünen Idioten, über die er gerade nachgedacht hatte, in seine Privatgemächer eindrangen. Es wurde noch unwirklicher, als die Orcs ihn packten und zur Tür drängten.

Was machten die hier im Palast? Perenolde kam erst nach und nach zu sich. Ohne an Tempo zu verlieren, warf einer der Grünhäute sich den König wie einen Sack Getreide über die Schulter. Sie gingen durch den Palast, an den Leichen von Perenoldes Wachen vorbei und aus dem Eingangstor hinaus. Dann stellten die Orcs Perenolde wieder auf die Füße.

„Nein, bitte, ich...“ Seine Schreie blieben ihm im Hals stecken. Eine große Kreatur, so groß wie der Palast, schwebte über ihm. Eine Masse aus schwarzen Schuppen, schimmernden Platten und ledrigen Flügeln. Der lange Kopf bewegte sich, um ihn zu studieren. Die roten Augen glühten.

„König Perenolde.“ Die trockene Stimme schien nicht aus dem mit Reißzähnen besetzten Maul des Drachen zu kommen. Und erschreckt erkannte Perenolde, dass die Kreatur nicht allein war. Jemand saß auf ihrem Rücken. Oder zumindest... etwas, korrigierte er sich.

Er sah die rot glühenden Augen des Reiters, den Kapuzenumhang und die merkwürdig verhüllten Gliedmaßen. Hatte er von solchen Kreaturen nicht während des Zweiten Krieges gehört? Als Agenten der Horde?

„König Perenolde“, sagte der Reiter wieder. „Wir sind gekommen, um mit euch zu reden.“

„Ja?“, antwortete Perenolde. Seine Stimme war kaum mehr als ein Quieken. „Mit mir? Wirklich?“

„Während des Krieges habt Ihr einen Vertrag mit der Horde geschlossen.“

„Ja?“ Perenolde verstand plötzlich. „Ja!“, sagte er schnell. „Ja, das habe ich. Mit Schicksalshammer persönlich. Ich war ein Verbündeter! Ich bin auf eurer Seite!“

„Wo ist das Buch von Medivh?“, wollte der seltsame Reiter wissen. „Gebt es mir!“

„Was?“ Die Zusammenhanglosigkeit der Fragen verdrängte Perenoldes Furcht. „Das Buch? Warum?“

„Ich habe keine Zeit für Diskussionen“, zischte der Reiter. Er murmelte etwas, gestikulierte mit der Hand, und plötzlich bohrten sich fürchterliche Schmerzen durch Perenoldes Körper. Sein ganzer Leib erbebte. „Das ist nur ein Vorgeschmack dessen, was ich dir antun kann“, informierte ihn der Fremde. Die Worte klangen wie aus großer Entfernung, als der Schmerz nachließ. „Gib mir das Zauberbuch, jetzt!“

Perenolde versuchte zu nicken, konnte es aber nicht. Stattdessen fiel er auf die Knie. Plötzlich war der Schmerz wieder fort. Er stand langsam auf, seine Glieder zitterten, und sah die beiden machtvollen Kreaturen vor sich an. Der brennende Blick des Drachen drang tief in seine Seele ein. Irgendwie war der Blick weniger besorgniserregend als zuvor. Der Schmerz hatte geholfen, Perenoldes Kopf frei zu bekommen. Das konnte seine Chance sein, wenn er clever vorging.

„Ich habe das Buch“, gestand er ein. „Oder besser gesagt, ich hatte es aus Sturmwind gestohlen und weiß, wo es ist.“ Er fuhr abwesend über die Weinflecken auf seinem Nachthemd. „Ich dachte, ich könnte es als Pfand brauchen. Die Allianz beansprucht meinen Thron und mein Königreich, weil ich euch im letzten Krieg geholfen habe.“ Er beobachtete den Reiter. Ein Todesritter, dachte er und erinnerte sich plötzlich an den richtigen Begriff. Ja, das war eindeutig ein Todesritter, was bedeutete, dass er einige Bedeutung innerhalb der Horde hatte.

Perenolde überlegte. „Ich gebe euch das Buch... gegen einen Gefallen.“

Der Reiter sprach nicht, aber etwas in seiner Körperhaltung deutete an, dass er zuhören würde.

„Die Allianz hat Truppen in meinem Königreich stationiert, um mich zu kontrollieren. Vernichtet sie, und das Buch gehört euch.“

Eine Sekunde lang bewegte sich der Reiter nicht. Dann nickte er. „Nun gut“, antwortete er. „Das wird erledigt. Wir kommen wieder, und du sagst uns, wo das Buch zu finden ist.“ Der Todesritter flüsterte dem Drachen etwas zu, und er hob ab. Seine Flügel trugen ihn nach oben. Ein Rauschen erschreckte Perenolde, gefolgt vom Anblick mehrerer sich erhebender Schatten.

Perenolde blickte den schwarzen Drachen nach, dann begann er zu lachen. Konnte es derart leicht sein? Ein altes Zauberbuch, das er nicht brauchte, gegen seine Freiheit und die Unabhängigkeit seines Königreichs? Er lachte weiter und war sich bewusst, wie wahnsinnig das klang.

„Was geht hier vor?“, ertönte eine Stimme. Perenolde erschrak. Dann erkannte er seinen ältesten Sohn. „Das... das war ein Drache... und ich glaube, ein Todesritter!“

Aliden fragte schockiert: „Was hast du ihnen gesagt? Wie hast du sie dazu gebracht, wieder zu gehen?“

Perenolde lachte weiter, unfähig aufzuhören.

„Verdammt, Vater!“, platzte es aus Aliden heraus, und er schlug seinem Vater so fest gegen das Kinn, dass dieser zurücktaumelte. „Seit zwei Jahren versuche ich die Schande, die du über unsere Familie gebracht hast, zu tilgen. Seit zwei Jahren!“ Aliden schaute seinen Vater an, Tränen liefen ihm über das Gesicht. „Du dummer, selbstsüchtiger Bastard. Du hast alles ruiniert!“

Perenolde schüttelte den Kopf und stand auf. Aber mitten in der Bewegung stockte er, als er ein neues Geräusch hörte. Was war das? Es klang wie... ja, wie Katapulte, die feuerten. Das Rauschen durch die Luft, das plötzliche Auslösen der Geschosse... und dann der dumpfe Einschlag. Er hörte es wieder und wieder und erkannte, dass die Geräusche von hinter dem Hügel kamen, vom anderen Ende der Stadt. Aus der Nähe der Unterkünfte der Allianzstreitkräfte. Er wusste, was die Geräusche bedeuteten und lachte erneut.

Die Drachen hatten mit dem Angriff begonnen!

Aliden starrte erst ihn an, dann in Richtung der Geräusche, dann wieder zu ihm. Die Erkenntnis stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Was hast du uns angetan, Vater?“, wollte er wissen. „Was hast du getan?“

Aber Perenolde konnte sich nicht genug kontrollieren, um zu antworten. Stattdessen setzte er sich auf den Boden und blieb dort, gluckste und schluchzte, während er den Geräuschen von Tod und Zerstörung lauschte. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie etwas so Schönes gehört.


„Dort drüben.“ Sabellian kreiste, dann landete er sanft auf dem Boden. „Boote.“

„Boote?“, hatte Tagar gefragt, als Ragnok, auf dem Rücken des großen schwarzen Drachen sitzend, den Plan erklärte. „Ich dachte, die Drachen würden uns zu dieser Insel bringen.“

Aber der Todesritter hatte seinen kapuzenbedeckten Kopf geschüttelt. „Es ist zu weit, als dass sie direkt hinfliegen könnten“, hatte er erklärt. „Sie bringen uns zum Hafen von Menethil. Dort werden wir in Boote umsteigen.“

Fenris hatte die Stirn gerunzelt. „Menethil... das ist der Name eines Königs-geschlechts dieser Welt“, sagte er schnell.

„Ja... es ist ein Außenposten der Allianz“, hatte Ragnok eingestanden. „Aber es ist der der Insel am nächsten gelegene Hafen.“

Fenris hatte der Plan nicht gefallen, doch er nahm an, dass es nicht anders ging. Die Drachen hatten sie in der Nähe des Hafens im hügeligen Land abgesetzt. Eine Bucht trennte sie von ihrem Ziel. Fenris stieg von seinem Drachen ab und schaute nachdenklich über das dunkle Wasser. Er gab seinen Kriegern mit Zeichen Befehle, wies auf den Hafen und hob den Finger an die Lippen. So leise es ging, glitt Fenris ins Wasser und begann zu schwimmen, während die Drachen, ihrer Aufgabe entledigt, wegflogen. Die Drachen hatten sie so nah am Hafen abgesetzt, wie sie es gewagt hatten. Selbst in einer kleinen Stadt, die fest schlief, würde man aufwachen, wenn mehrere Drachen direkt neben ihr landeten.

Die meisten Orcs trugen keine Rüstung und schwammen schnell. Aber diejenigen mit Plattenpanzern oder Lederrüstungen hatten es schwerer. Schließlich stiegen sie tropfend und durchfroren aus dem Wasser. Fenris sah sie an. Die grünen Gesichter glänzten im schwachen Licht, und er furchte die Stirn. Er nahm eine Handvoll Dreck auf und verteilte ihn auf seinem Gesicht.

„Bedeckt euch mit Schlamm“, wies er Tagar und die anderen Orcs so leise wie möglich an. „Wir müssen schnell, lautlos und unauffällig vorgehen.“

Die anderen nickten. Fenris überkam ein wehmütiges Gefühl, als er sah, wie die Gesichter seiner Gefährten sich braun färbten. Einst war ihre Haut von Natur aus so gewesen, einst waren alle Orcs braun wie die Erde und die Rinde der Bäume.

Und waren die Dinge damals so schlecht gewesen? Waren die Errungenschaften seither es wert, dass sie ihre Welt dafür verloren hatten? Manchmal fragte er sich das.

Er schüttelte die Melancholie ab, konzentrierte sich auf seine Begleiter und nickte, als er sah, dass sie allesamt braune Flecken in der Dunkelheit waren.

„Wir brauchen nur ein paar Boote. Wir nehmen die drei da vorne, die dem Ufer am nächsten stehen. Macht schnell und tötet jeden, der euch im Weg ist.“ Er schaute Tagar an. „Und nur die, die euch im Weg sind. Tagar, halt deine Krieger unter Kontrolle. Nur lautloses Töten. Wir wollen nicht, dass jemand Alarm schlägt.“

„Und wenn schon!“, polterte Tagar. „Wir tränken das Wasser mit ihrem Blut!“

„Nein!“ Fenris’ knapper Befehl schnitt ihm das Wort ab. „Denk daran, was Blutschatten gesagt hat. Wir gehen rein und wieder raus. Mehr nicht!“

Tagar knurrte, aber Fenris sah ihn an, bis der Häuptling des Knochenmalmerklans schließlich nickte.

„Gut.“ Fenris nahm seine Axt, eine scharfe Klinge mit kurzem Schaft. „Auf geht’s.“

Sie schlichen vorwärts, bewegten sich leise über die schlammige Erde, die Waffen bereit. Die ersten Orcs hatten die hölzerne Pier erreicht, als ein Zwerg vorbeikam, eindeutig auf Wachgang. Er hatte sie noch nicht gesehen, aber das würde er jede Sekunde. Fenris nickte den beiden Kriegern vor sich zu. Einer schoss vor, packte den Zwerg am Kopf, zog die Axt über den entblößten Hals und trennte ihm den Kopf vollständig ab. Der Körper fiel lautlos zu Boden, der Kopf rollte ein Stück weiter, sein Gesicht zeigte einen Anflug von Überraschung.

Sie gingen weiter auf die Boote zu, die Fenris ausgesucht hatte. Ein weiterer Wächter erschien, diesmal ein Mensch. Einer von Tagars Kriegers schlug ihn mit einem einzigen Hieb auf den Kopf nieder. Fenris nickte anerkennend. Er war wegen der Knochenmalmer-Orcs besorgt gewesen. Aber vielleicht waren sie nicht so wild und undiszipliniert, wie er immer gedacht hatte.

Er ging weiter, dann hörte er ein merkwürdiges schmatzendes Geräusch. Und dann ein kurzes Aufheulen. Fenris wirbelte herum. Der Orc war immer noch über sein letztes Opfer gebeugt und verursachte das schmatzende Geräusch – aber nicht das Heulen. Als Fenris erkannte, was der Knochenmalmer tat, wurde das Heulen lauter, und er konnte deutlich einzelne Worte verstehen.

„Ah!“, schrie die Wache und kreischte vor Schmerz. „Meine Beine! Es frisst meine Beine!“

Der Schrei alarmierte die Menschen. Plötzlich wurden Lichter in den Gebäuden entzündet. Menschen und Zwerge schienen aus dem Nichts zu erscheinen, und Fenris erkannte, dass sie ohne Kampf wohl nicht würden fliehen können.

Er griff wild an und hoffte, das Gefecht schnell zu beenden. Seine Orcs scharten sich um ihn und töteten die restlichen Gegner. Aber Fenris wusste, dass die Docks bald gestürmt werden würden.

„Zu den Booten!“, rief er und hob seine Axt. Sie kletterten in die drei Boote, ein Knochenmalmer ließ die Überreste seines Gegners auf dem Pier fallen. Sie hackten die Ankerketten durch und legten ab. Es dauerte, aber die Orcs schafften es schließlich, alle drei Boote von den Docks abzustoßen und in die Bucht zu steuern. Gerade als sie den Hafen verließen, stieß ein flammendes Signal in die Höhe.

„Hier ist die Bucht von Baradin“, sagte Ragnok, „und die Flotte von Kul Tiras patrouilliert dort regelmäßig. Sie werden das Signal sehen und binnen Minuten da sein.“

„Dann sollten wir weg sein, bevor sie hier eintreffen“, erwiderte Fenris grimmig. Er zog ein paar Ruder aus dem langen Behälter zwischen den Bänken des Bootes hervor und gab sie dem Krieger, der ihm am nächsten stand. „Rudert!“, brüllte er, zog weitere Ruder heraus und verteilte sie. „Rudert, so schnell ihr könnt!“

Auf den anderen Kähnen tat man es ihm nach, und bald schon flogen sie nur so über das Wasser. Ihre kräftigen Arme verliehen den Booten ein rasendes Tempo.

Aber es reichte nicht, erkannte Fenris, als er die anderen, größeren Boote auf sie zukommen sah.

„Die Marine von Kul Tiras!“, bestätigte Ragnok, der die Umrisse betrachtete. „Admiral Prachtmeer hasst euch Orcs, er wird uns um jeden Preis vernichten wollen!“

„Können wir sie bekämpfen?“, fragte Fenris, doch er wusste die Antwort schon, bevor der Todesritter den Kopf schüttelte.

„Sie sind für den Seekampf ausgebildet. Und sie sind schneller als wir. Dagegen haben wir keine Chance!“

Fenris blickte hinauf zum sternenübersäten Himmel und nickte. „Vielleicht nicht. Aber vielleicht auch doch. Rudert weiter!“

Ihre Boote bewegten sich schnell, doch wie Ragnok vorausgesagt hatte, waren ihre Verfolger schneller. Die Boote der Menschen kamen näher, und Fenris konnte die grimmigen, grün gekleideten Männer ausmachen, die an der Reling ihrer größeren Schiffe standen. Viele hielten die Bögen bereit, andere trugen Kurz-schwerter, Äxte oder Speere. Er wusste, dass seine Krieger es mit einer größeren Anzahl von Menschen hätten aufnehmen können, wären sie an Land gewesen. Aber hier auf See waren sie gewaltig im Nachteil.

Glücklicherweise waren sie nicht allein.

Gerade als das erste Boot der Menschen nah genug herankam, dass Fenris die Gesichter der Männer erkennen konnte, stürzte ein schwarzer Umriss aus dem Himmel herab. Große Flügel schlugen so vehement, dass das Boot rückwärts getrieben wurde und die Männer umfielen. Dann öffnete sich das Maul des Drachen weit, und Feuer schoss daraus hervor. Das teergetränkte Holz brannte sofort, und schnell stand das ganze Boot lichterloh in Flammen. Die Schreie der Menschen und die Brandgeräusche ließen Fenris’ Herz höherschlagen.

Aber die Verfolger flohen nicht. Wieder kamen die Boote näher, und wieder griff der schwarze Drache an und verkohlte Mensch und Holz gleichermaßen. Ein drittes Mal versuchten es die Menschen, aber ihre Waffen prallten von den starken Schuppen des Drachen ab. Und ein drittes Schiff wurde in Asche verwandelt.

Danach fielen die Schiffe der Menschen endlich zurück und ließen die Orcs in den gestohlenen Booten entkommen. Die Orcs jubelten.

„Sie geben auf!“, rief Tagar vom Bug des Nachbarbootes.

„Sie können es nicht mit den Drachen aufnehmen, und das wissen sie“, korrigierte ihn Fenris. „Aber ich glaube nicht, dass sie aufgeben.“

„Irgendwelche Anzeichen von kleineren Feuern auf den anderen Schiffen? Kontrollierte Brände?“, fragte Ragnok.

Fenris beobachtete die sich zurückziehenden Boote. „Ja. Ich sehe ein Signalfeuer und Rauch“, sagte er schließlich.

„Sie warnen den Rest der Flotte“, sagte Ragnok. „Sie werden auf uns warten.“

Tagar lachte vom Bug des Bootes neben ihnen. „Die Warnung kommt zu spät“, verkündete er und leckte Blut von seiner Axt. „Bis die Menschen ihren Mut gesammelt haben, um uns zu folgen, sind wir mit dem Artefakt schon lange auf und davon.“

Fenris nickte. Zum ersten Mal hoffte er, dass der Knochenmalmer-Orc recht behielt und er sich täuschte.

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