13

Khadgar stand im Versammlungsraum, einem der wenigen vollständig fertig gestellten Bauabschnitte von Nethergarde. Er hatte auf der Brüstung bleiben und gegen die Horde kämpfen wollen, aber Turalyon hatte ihn überredet, sich für ein paar Minuten auszuruhen und etwas zu essen.

„Erzmagier oder nicht, du bist uns keine Hilfe, wenn du vor Hunger oder Müdigkeit umfällst“, hatte sein Freund gesagt. Das war ein guter Ratschlag gewesen, und deshalb war Khadgar hierhergekommen und hatte brav den Eintopf gelöffelt, den ihm jemand hinstellte.

Daran konnte er sich noch erinnern – und dann musste er eingeschlafen sein. Er träumte, und der Traum war bittersüß. Weil er darin wieder jung war.

Er wandte sein glatt rasiertes Gesicht dem Nachthimmel zu und badete es im Mondlicht. Der Wind fuhr durch sein Haar, das bis auf eine einzelne Strähne schwarz schimmerte. Er hob seine Hände, wunderte sich, wie jung und stark sie wirkten, so ganz ohne Gicht und Altersflecken. Wie ein Riese durchstreifte er Lordaeron, jeder Schritt brachte ihn etliche Meilen voran, und sein Kopf stieß an die Wolken. Es war Nacht, dennoch bewegte er sich sicher und ohne zu zögern, seine Füße kannten den Weg.

Khadgar war in Richtung Dalaran unterwegs, watete mit einem einzigen Schritt durch den See und erreichte die Stadt der Magier. Trotz der späten Stunde strahlte Licht aus einem Raum der Violetten Zitadelle, und Khadgar richtete seine volle Aufmerksamkeit darauf. Er glitt nach oben und wurde kleiner, als er den Raum erreichte.

Als seine Füße auf dem Balkon landeten, hatte er wieder seine normale Größe. Die Tür stand offen, und er trat ein. Dabei schob er die dünnen Vorhänge beiseite, die vom Mondlicht angezogene Insekten draußen hielten.

„Sei willkommen, Khadgar. Komm herein.“

Khadgar war nicht überrascht, Antonidas hier zu sehen. Er erkannte die Privatgemächer des Anführers der Kirin Tor. Er setzte sich auf den ihm angebotenen Stuhl und nahm ein Glas Wein von dem Magier an. Es amüsierte ihn, dass Antonidas mit seinem gerade ergrauenden, langen braunen Bart jetzt älter als er aussah. Normalerweise hielten Fremde Khadgar für den Älteren, wegen seines schneeweißen Bartes – obwohl er mehrere Jahrzehnte jünger war als Antonidas.

„Danke“, sagte Khadgar leise, nachdem beide einen Moment lang den Wein gekostet hatten. Er wies auf sein jungenhaftes Gesicht und seinen kräftigen jungen Körper. „Dafür.“

Antonidas wirkte ein wenig unbehaglich. „Ich wollte es dir so angenehm wie möglich machen.“

„Ich habe es vermisst, jung zu sein. Ich bereue nichts... Medivh musste schließlich aufgehalten werden... und meistens stört es mich nicht. Aber manchmal... vermisse ich es doch.“

„Ich weiß.“

Khadgar wechselte das Thema. „Ich vermute mal, dass dies kein gewöhnlicher Traum ist.“

Antonidas schüttelte den Kopf. „Nein, unglücklicherweise nicht. Ich habe besorgniserregende Neuigkeiten. Die schwarzen Drachen haben sich mit der Horde verbündet.“

Es erforderte große Selbstbeherrschung, sich nicht zu verschlucken. „Die schwarzen Drachen?“, wiederholte Khadgar. „Aber was ist mit den roten? Die beiden Rassen sind Todfeinde.“

Sein Gastgeber zuckte mit den Achseln. „Sie wurden schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Vielleicht haben sie sich der Kontrolle durch die Horde entzogen?“ Er schaute düster. „Aber die Orcs haben neue Verbündete gefunden, und diesmal offensichtlich freiwillige Helfer.“

Khadgar schüttelte den Kopf. „Und sie kommen nach Nethergarde?“

„Das wissen wir nicht“, gestand Antonidas ein. „Vielleicht. Sie waren bereits hier und auch in Alterac.“ Sein Stirnrunzeln verwandelte sich in ein finsteres Grübeln. „Sie haben das Auge von Dalaran gestohlen, Khadgar.“

„Das Auge?“ Khadgar wusste genau, was für ein Schlag das für Dalaran war. „Aber was will die Horde damit?“

„Das weiß ich nicht. Doch sie waren hier, um es zu stehlen“, bestätigte Antonidas. „Eine Handvoll Todesritter ist durch unsere Verteidigungszauber geschlüpft, nahm es und benutzte die Drachen zur Flucht. Drachen, die kurz danach die Wachen der Allianz in Alterac töteten. Zweifelsfrei geschah das auf Befehl des Verräters Perenolde.“

Khadgar verzog das Gesicht. „Ich frage mich, wie Perenolde das angestellt hat.“

„Noch ein Rätsel. Ich weiß, womit du dich zur Zeit alles herumschlagen musst. Aber ich dachte, du solltest es wissen.“

„Danke“, sagte Khadgar ehrlich. „Gut, dass ich das weiß.“ Er runzelte gedankenvoll die Stirn, strich sich durch den Bart und war verblüfft, dass er momentan ja nur das nackte Kinn hatte. „Und vielleicht kann ich herausfinden, warum das alles geschehen ist. Zuerst das Buch von Medivh, jetzt das Auge von Dalaran. Warum gerade diese beiden Artefakte?“ Er setzte das Weinglas auf Antonidas Tisch ab und stand widerstrebend auf. „Ich sollte zurückgehen.“

Zurückgehen, um wieder ein junger Mann im Körper eines alten zu sein. Zurückgehen, um Alleria und Turalyon zu beobachten, die ein qualvolles Drama um Ablehnung, Verletzung und Einsamkeit aufführten, obwohl doch jeder Narr sehen konnte, dass sie zusammen stärker und glücklicher wären. Zurückgehen, um Orcs zu bekämpfen und Portale zu schließen und die Last der Welt auf seinen künstlich gealterten Schultern zu tragen.

Er seufzte schwer.

„Wie du willst. Viel Glück, mein Junge.“ Antonidas wedelte mit der Hand, und Khadgar erwachte und saß am Tisch im Versammlungsraum von Nethergarde. Er war zurück in seinem alten Körper und spürte einen wehmütigen Stich, als er seine runzligen Hände und den langen, weißen Bart sah.

Khadgar erhob sich und verließ den Versammlungsraum, wie er den Traum hinter sich gelassen hatte. Er sah Turalyon und ein paar andere am Haupttor stehen. Sie umringten einen neuen Gefangenen. Die Männer blickten auf, als er sich näherte, und traten zurück. Der Erzmagier unterdrückte ein Schaudern, als er das verwesende Gesicht der einst menschlichen Kreatur und die glühenden roten Augen sah.

„Khadgar!“, rief Turalyon, als er seinen Freund bemerkte. „Ich wollte gerade jemanden nach dir schicken.“

„Ich vermute mal, du brauchst bei diesem Gefangenen meine Hilfe. Hat das Licht versagt?“

Turalyon wirkte frustriert. „Ganz im Gegenteil. Seine Reaktion darauf war derart extrem, dass ich Angst hatte, ihn zu töten. Ich dachte, dass vielleicht du...“

„Natürlich.“ Khadgar sank neben den Gefangenen und erwiderte dessen wilden Blick. „Wie heißt du, Todesritter?“

Die Kreatur zischte nur und zerrte an den Fesseln, die aber standhielten.

„Wenn du es so haben willst“, sagte Khadgar schulterzuckend. Er sammelte seine Kraft, dann bündelte er sie zu einem scharfen Strahl. Der Spruch drang leicht durch die Verteidigung der Kreatur der Horde, wie es vermutlich Turalyons Heiliges Licht auch getan hatte. Aber obwohl sich der Todesritter versteifte, setzte ihm der Schmerz nicht derart zu, um ihn am Reden hindern zu können. Und er würde reden.

„Dein Name?“

Der Todesritter starrte ihn an, Mordlust brannte in seinen Augen. Aber sein Mund öffnete sich und formte Worte. „Gaz Soulripper.“

„Gut. Nun sag mir, wie hat die Horde das Portal wieder geöffnet?“, wollte Khadgar wissen. Turalyon und die anderen versammelten sich hinter ihm.

„Ner’zhul“, antwortete er. „Ner’zhul benutzte den Schädel von Gul’dan, um den Spalt aufzuzwingen.“

„Ist das möglich?“, fragte Turalyon.

„Absolut“, antwortete Khadgar. „Langsam wird alles klar. Wir wissen, dass Gul’dan das ursprüngliche Portal gemeinsam mit Medivh errichtet hat. Es ist gut möglich, dass seine Überreste immer noch damit verbunden sind. Und deshalb könnten sie benutzt werden, um bessere Kontrolle über den Spalt zu bekommen. Ebenso wie das Buch von Medivh.“

Ner’zhul hatte Gul’dan oder zumindest den Schädel gebraucht, um den Spalt erneut zu öffnen. Und ohne den Schädel konnte Khadgar ihn nicht völlig schließen. Jetzt verstand er, warum der Spalt übrig geblieben war. Ohne die Hilfe von Gul’dans Schädel würde Khadgar ihn niemals vollständig schließen können. Und ohne das Buch würde er den passenden Zauber dafür nicht erfahren.

Der Magier spürte, dass er an der Schulter berührt wurde. Er sah auf und erblickte Turalyon, der ihm wegzutreten bedeutete. Verwirrt gehorchte Khadgar.

„Gute Neuigkeiten“, sagte Turalyon. „Unsere Streitkräfte treiben die Horde zurück zum Dunklen Portal. Wir haben zudem von Admiral Prachtmeer gehört, dass die anderen Orc-Gruppen ebenso auf der Flucht sind. Scheinbar hat eine Gruppe Orcs, gedeckt von schwarzen Drachen, mehrere Boote aus dem Hafen von Menethil gestohlen.“

Khadgar seufzte und erinnerte sich an sein Traumgespräch mit Antonidas. „Ich vermute, der Bericht stimmt. Ich... warte. Sagtest du ,Boote’?“

„Ja. Sie sind nach Südwesten gefahren, zur Großen See.“

Khadgar fasste Turalyon an seiner Tunika. „Südwesten? Verdammt!“

„Was ist los, Khadgar?“

„Sie sind nicht auf der Flucht. Diese Boote... sie fahren zur Gruft von Sargeras! Gul’dan hat das einst versucht und ist dabei umgekommen!“

„Warum sollten die Orcs das tun? Medivh ist tot und Sargeras fort. Die Gruft ist leer.“ Seine Augen weiteten sich. „Das ist sie doch, oder?“

Plötzlich passte alles zusammen. „Sargeras ist fort“, sagte Khadgar langsam. „Aber das bedeutet nicht, dass die Gruft leer ist. Wir wissen, dass die Orcs Artefakte suchen. Was, wenn Sargeras etwas zurückgelassen hat? Die Gruft war versiegelt, sodass kein Wesen von Azeroth dort eindringen konnte. Aber die Orcs sind ja nicht von hier! Die Abwehrzauber wirken nicht gegen sie, genauso wenig, wie sie gegen Gul’dan gewirkt haben, als er... Das ist es! Das muss es sein!“

Khadgar wandte sich zu dem Todesritter um. „Warum hat Ner’zhul die Orcs in die Gruft des Sargeras geschickt?“, verlangte er zu wissen.

Gaz Soulripper lachte, der faule Atem aus seinen toten Lungen strich über Khadgars Gesicht. Der Todesritter zog sich in sich zurück und war nicht bereit, etwas zu verraten. Khadgar schaute finster. Er setzte seine Magie erneut ein, dieses Mal ohne Vorsicht, und das Licht des Spruchs wirkte, als hätte man eine Lanzenspitze durch die Stirn der Kreatur getrieben. Soulripper wand sich vor Schmerz, blieb aber stumm.

„Sag es uns!“

„Wir... sind an eurer Welt nicht interessiert!“, grunzte Soulripper, seine Hände verkrampften sich.

Khadgar machte eine leichte Bewegung mit den Fingern, und dieses Mal schrie Gaz Soulripper auf.

„Ich muss mehr als das wissen.“

„Ah!“ Das untote Wesen biss sich vor Qual auf die Lippen, die Zähne drangen mit Leichtigkeit durch das verfaulte Fleisch. „Unser Ziel... ist weitaus höher, als du dir vorstellen kannst, Mensch!“

Khadgars Herz schlug hart. Diese Halbwahrheiten, diese Hinweise... Was war wirklich los? Schweiß lief über seine Stirn, aber nicht vor Erschöpfung. Er packte fester zu, und der Todesritter zuckte.

„Khadgar...“, sagte Turalyon.

„Ich kann das beliebig lange machen, Soulripper“, sagte Khadgar. Als keine Antwort kam, hob Khadgar auch die linke Hand.

„Ein Artefakt!“, brüllte der Todesritter. „Aus der Gruft. Das Zepter des Sargeras...“

„Schon besser. Was ist damit?“

„D-damit und dem Buch von Medivh und dem Auge von Dalaran kann Ner’zhul... nein!“

Khadgar war überrascht vom Grad des Widerstands, den der Todesritter zu leisten vermochte. Er teilte Turalyons Ablehnung von Folter. Aber sie waren so nah dran...

„Was kann er damit tun? Sag es uns!“

„Er... er kann Portale von Draenor zu anderen Welten öffnen.“

Khadgar stellte die Folter augenblicklich ein. Der Todesritter fiel vorneüber und erholte sich auf dem Boden. Der Magier war einen Moment lang völlig bewegungslos, dann sah er Turalyon an. Er erkannte seinen eigenen Schrecken im Gesicht des jungen Mannes.

„Andere... Welten?“, hauchte Turalyon, seine Stimme vor Schreck ganz leise. „Azeroth und Draenor... sind nicht die einzigen?“ Er schaute auf den Todesritter, dabei mahlten seine Kiefer, bevor er weitersprach. „Welten... und zwar mehr als nur eine. Zahllose Welten, allesamt unschuldig, die den Orcs in die Hände fallen könnten. Das Licht schütze uns.“

Khadgar nickte. „Ich weiß, es ist schwer zu glauben. Die Horde, der wir gegenübergetreten sind, war halb wahnsinnig vor Verzweiflung und Hunger. Ihre Welt stirbt, und sie mussten unsere erobern. Und jetzt öffnen sie Portale in zahllose andere Welten. Dasselbe Spiel findet von Neuem statt... immer wieder.“

Turalyon hörte die Worte seines Freundes kaum. Sie schienen wegzudriften, eingehüllt in das laute Pochen seines Herzens. Die hässliche Fratze des Todesritters verschwand ebenfalls, versank in einem langsamen, aber steten Glühen weißen Lichtes, das aus ihm herausdrang.

Turalyon brannte darauf, sein Volk, die Allianz und alles Leben auf dieser Welt vor der Verwüstung durch die unersättlichen Orcs zu beschützen. Das war schon jetzt eine enorme Aufgabe, aber was, wenn es plötzlich mehrere Welten waren? Um wie viele ging es dabei? Eine? Zwei? Zwei Millionen? Hysterie wallte in ihm auf, als er in dem weißen Raum in seinem Geist saß und an den Grenzen des Wahnsinns kratzte, um das Unbegreifliche zu verstehen.

Den Unschuldigen galt sein ganzes Bemühen. Er musste sie beschützen. Aber wie konnte er das bewerkstelligen? So viele, die...

Der Schlag seines Herzens setzte aus. Und anstelle des reinen strahlenden Lichts sah er eine Gestalt, die aus Licht bestand, nein, die das Licht selbst war. Sie schwebte und leuchtete. Schimmerte, als wäre ihre Form fest und kristallin, aber gleichzeitig weich, so unbeschreiblich weich, sanft wie eine Träne, so sanft wie Vergebung, so sanft wie Allerias bleiche Haut.

Goldene Strahlen umgaben das Wesen, und Turalyon konnte erst nicht sagen, ob sie von ihm weg oder zu ihm hin führten. Und dann begriff er, dass beides zutraf. Alles, was zählte, war dieses Wesen, und dieses Wesen war alles.

Ehrfurcht durchflutete ihn, und er versank in der Schönheit der leuchtenden Gestalt. Sie erfüllte ihn mit Hoffnung und Ruhe, als wäre er ein leeres Gefäß.

Verzweifle nicht, erklang eine glockenreine Stimme wie das Rauschen des Ozeans. Das Licht ist mit dir. Wir sind mit dir. Ganz egal, wie stark die Finsternis ist, das Licht wird sie vernichten. Egal, auf welcher Welt, egal, in welcher Kreatur, das Licht wohnt stets in der Seele. Wisse dies und schreite mit deinem freudigen Herzen voran, Turalyon.

Wie zur Antwort begann Turalyons Herz wieder zu schlagen. Er erkannte, dass es nie aufgehört hatte. Dass der vermeintlich lange Moment des Stillstands in Wahrheit nicht länger als ein Augenblinzeln gedauert hatte.

Khadgar machte Turalyon Platz, damit er sich hinsetzen konnte. Schließlich hob Turalyon den Kopf. Sein Blick war entschlossen, klar und fest.

„Wir müssen sie aufhalten“, stellte er kategorisch fest. „Wir können nicht zulassen, dass sie auf unschuldigen Welten... losschlagen. Es endet hier. Auf Azeroth. Niemand soll so leiden müssen wie wir. Darum müssen wir uns kümmern.“

Khadgar hörte, wie einige von Turalyons Männern aufgebracht murmelten.

Turalyon bekam es auch mit, und sein Gesicht verdüsterte sich. „Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es laut und deutlich“, befahl er. Der Soldat, mit dem er redete, tauschte mit den anderen Blicke, dann trat er vor.

„Herr Kommandant... warum lassen wir die Orcs nicht fliehen? Wenn sie neue Welten erobern wollen, dann gehen sie vielleicht weg und lassen uns in Ruhe.“

„Selbst wenn es so einfach wäre, könnten wir das nicht geschehen lassen. Versteht ihr?“, sagte Turalyon. „Wir müssen sie aufhalten. Wir können nicht unsere Welt auf Kosten ungezählter unschuldiger Leben retten!“

„Außerdem“, sagte Alleria mit klarer Stimme, als sie auf sie zukam, staubig, verschwitzt und mit Blut bespritzt, das zu dunkel war, um ihr eigenes zu sein, „wer sagt denn, dass sie nicht zurückkämen, wenn sie des Plünderns müde sind?“

Ihrem guten Gehör verdankte sie, dass sie alles mitbekommen hatte. Khadgar glaubte, dass sie ein wenig blasser als sonst war, aber auch erschreckend gefasst.

„Würdet ihr lieber gegen eine Horde der doppelten Größe antreten, die nach Belieben Portale nach Azeroth von überall her eröffnen kann?“

Khadgar sah die Enttäuschung in Turalyons Augen. Der Paladin hatte gehofft, dass die Männer ihn verstehen würden. Und mehr noch hatte er gehofft, dass Alleria es würde. Aber es schien, als ob Alleria immer noch vom Hass gegen die Orcs verzehrt wurde. Sie interessierte sich nicht wirklich für die anderen Welten. Sie wollte Orcs jagen und töten. Sie wollte dieses grausame Vergnügen mit niemandem teilen.

Sie wandte sich Turalyon zu, ihre Wangen hatten kurz etwas Farbe, die dann aber schwand. „Turalyon, mir ist etwas aufgefallen, das du wissen solltest. Ich habe eine Gruppe von...“

Khadgar hörte kaum ihrer melodischen Stimme zu. Etwas nagte an seinen Gedanken... etwas, das nicht stimmte.

Er schnappte nach Luft, als ihn die Erkenntnis überkam.

„Ich bin ein Narr!“, rief Khadgar und schnitt Alleria das Wort mitten im Satz ab. „Sie verlieren nicht!“, brüllte er. „Sie ziehen sich zurück! Sie haben alle Artefakte gefunden, die sie brauchen, und kehren jetzt nach Draenor zurück! Die ganze Invasion diente nur der Ablenkung, und jetzt sind sie fertig!“

Gaz Soulripper sah ihn an, Schrecken und Angst lagen in seinen glühenden Augen. Der Todesritter kam auf die Beine, zerriss die Fesseln, die Hände und Füße banden. Der Schreck verlieh ihm widernatürliche Stärke. Gaz schob Khadgars mentale Lanze beiseite und baute seine Schilde neu auf. Sie blockierten den augenblicklichen Versuch des Erzmagiers, die Kontrolle zurückzuerlangen.

„Du wirst uns nicht dazwischenfunken!“, brüllte Gaz, sprang auf Khadgar und legte seine gepanzerten Hände um die Kehle des Erzmagiers. „Du wirst unsere Bestimmung nicht vereiteln!“

Der Todesritter begann zuzudrücken, und Khadgar röchelte. Er kämpfte, wollte die Kreatur wegschieben. Aber seine Sicht trübte sich bereits. Schwärze kroch von den Rändern heran, wilde Farben blitzten vor ihm auf. Er konnte die Hände nicht wegdrücken, er konnte sich auch nicht konzentrieren, um einen Spruch zu wirken.

Und plötzlich, durch die wirbelnde Palette von Farben, kam ein Blitz aus purem Weiß. Selbst als er Khadgar blendete, umgab ihn ein warmes Gefühl des Friedens, das im krassen Gegensatz zu dem Schmerz stand, den die Hände verursachten, die seine Luftröhre zu zerquetschen drohten und ihm das Blut abschnitten.

Kurz fragte er sich, ob er schon tot war, aber er war sich nicht sicher.

Das Licht wurde intensiver, dann verblasste es. Die toten Hände um Khadgars Kehle schlossen sich zuckend, bevor der Druck plötzlich verschwand. Khadgar beherrschte sich, blinzelte, benebelt von dem weißen Licht, keuchte und rang nach Atem. Seine Lungen kämpften, um Luft in seinen Körper zu pumpen.

„Ist alles in Ordnung?“, wollte Turalyon wissen. Seine Hände leuchteten noch schwach, er half Khadgar beim Aufstehen. Khadgar bemerkte, dass sein violettes Gewand jetzt staubig war. Das war alles, was von Gaz Soulripper übrig geblieben war.

Er sah Turalyon an, wieder verblüfft von der Kraft des jungen Generals. Turalyon las in dem Blick und lächelte verlegen. Khadgar fasste seinen Freund am Arm. „Danke.“

„Das war das Licht, nicht ich“, wehrte Turalyon mit der für ihn typischen Bescheidenheit ab.

„Nun, dein verdammtes Licht hat ihn zu schnell getötet“, knurrte Alleria.

Selbst Khadgar blinzelte angesichts des Hasses in ihrer Stimme. „Wir hätten ihn noch über die Wagen befragen können, die ich gesehen habe.“

„Wagen?“, fragte Khadgar. „Was für Wagen?“

Sie wandte sich ihm zu. Ganz offensichtlich konnte sie mit dem Magier leichter sprechen als mit Turalyon. „Ich habe ein paar Orcs gesehen, die durch das Portal gegangen sind. Schwarze Drachen begleiteten sie. Es gab mehrere Wagen, ihre Ladeflächen waren zugedeckt. Sie brachten etwas hinüber in ihre Welt.“

„Sie wollten hier ein paar Artefakte stehlen und nicht massenweise Souvenirs“, knurrte Khadgar. „Wozu brauchten sie diese Wagen?“

Alleria zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber ich dachte, dass vielleicht du etwas weißt.“

„Noch ein Teil im Puzzle. Und das, wo ich gerade geglaubt hatte, alles durchschaut zu haben.“ Khadgar fuhr sich angeekelt über die Kleidung und sah sie an. „Wir haben eine Aufgabe vor uns. Wir müssen einen Erkundungstrupp nach Draenor schicken. Wir müssen Ner’zhul finden und töten, bevor er weitere Portale öffnen kann. Schließlich gilt es, die Artefakte zurückzubekommen, besonders das Buch von Medivh und Gul’dans Schädel, um das Dunkle Portal für immer zu zerstören.“

Turalyon nickte und winkte einen Kundschafter herbei. Er wirkte mit jedem Zoll wie ein militärischer Befehlshaber. „Benachrichtige die Könige der Allianz“, sagte er schnell. „Die Horde ist...“ Er verstummte, als ein Schatten die Sonne verdunkelte. Der junge Kommandeur schirmte seine Augen ab und sah auf. Dann lachte er, als sich aus dem Schatten mehrere geflügelte Gestalten herausschälten, die zu ihnen herabstießen.

Sie hatten keine Ähnlichkeit mit den pfeilgleichen Drachen, sondern waren breiter und kompakter. Gelbbraunes Fell und goldene und weiße Federn bedeckten ihre Haut.

„Was hat dich aufgehalten?“, rief Turalyon und lachte mit Khadgar, als Kurdran Wildhammer, Anführer der Wildhammerzwerge, den Kopf schüttelte und versuchte, empört vom Rücken seines Greifs zu ihnen herunterzusehen.

„Ungünstige Winde“, gestand der Zwerg ein. Sky’ree landete anmutig mit einem Krächzen. Sie flatterte ein letztes Mal mit den Flügeln, bevor ihr Reiter abstieg. Trotz des Ernstes der Lage lächelte Khadgar. Es tat gut, den rüstigen, ungeschliffenen Kurdran zu sehen.

„Ihr kommt gerade rechtzeitig“, sagte der Erzmagier und trat vor, um dem Zwerg die Hand zu schütteln, der den Handschlag kräftig erwiderte. „Wir haben eine Nachricht, die übermittelt werden muss, und zwar schnell.“

„Wenn ihr mir versprecht, mir und meinen Jungs ein paar dieser Grünhäute übrig zu lassen, überbringen wir die Nachricht.“ Er winkte einem anderen Zwerg zu, der in Habtachtstellung seine Befehle erwartete.

„Wir müssen mehrere Nachrichten an mehrere Könige schicken“, sagte Turalyon, das Lächeln verschwand. Khadgar fragte sich, ob Turalyon wusste, wie ernsthaft er wirken konnte, wenn es sein musste. „Sagt ihnen Folgendes: Die Orcs ziehen sich nach Draenor zurück, aber sie haben einen Weg gefunden, Portale in andere Welten zu öffnen.“

Die Augen des Zwergs weiteten sich, doch er unterbrach ihn nicht. „Sie nehmen mehrere Wagenladungen von etwas mit, das für sie offensichtlich wertvoll ist. Aber wir wissen noch nicht, was“, fuhr Turalyon fort. „Wir wollen sie durch das Dunkle Portal verfolgen und sie davon abhalten, neue Tore zu öffnen. Egal, was dazu nötig ist.“

„Bist du dir sicher, Junge?“, fragte Kurdran leise. Turalyon nickte. Jeder war einen Moment lang still, wohl wissend, dass Turalyon nur das aussprach, was getan werden musste.

„Beeilt euch“, sagte Turalyon. „Lasst die Greife sich ihr Futter verdienen.“ Die Kundschafter nickten, salutierten, kletterten auf ihre Greife und hoben ab.

Turalyon wandte sich seinen Freunden zu. „Und jetzt“, sagte er düster, „bereiten wir uns darauf vor, unsere Welt zu verlassen.“

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