9

„Schneller. Verdammt noch mal, schneller!“

Danath schlug die Zügelenden gegen den Hals seines Pferdes. Das Tier wieherte protestierend und hatte Schaum vor dem Maul. Aber es gehorchte.

Danath hörte nicht, wie die Hufe über den harten Boden donnerten. Er vernahm nur den Klang primitiver Waffen, das Grunzen und Heulen der Wilden, die Schreie fallender Männer. Sie waren von der merkwürdigen Finsternis überrascht worden, die dann plötzlich verschwunden war. Und auf einmal waren überall Orcs gewesen. Danath und seine Männer waren direkt in eine Falle gelaufen. Er hatte keine Zeit für strategische Entscheidungen gehabt, keine Zeit, etwas anderes zu tun als einfach zu kämpfen. Viele seiner Männer waren sofort zurückgedrängt worden. Sie hatten keine Chance gehabt, sich zu wehren. Die grüne Flut hatte sie einfach fortgespült.

Danath schloss die Augen, aber er sah immer noch die Männer und Pferde, die dem Angriff zum Opfer gefallen waren. Der Angriff war ebenso effizient ausgeführt worden wie brutal und barbarisch. Danath hatte Farol noch eine Warnung zurufen wollen, als ein großer Orc in das Pferd des Jungen krachte und ihn aus dem Sattel warf. Farol ging sofort zu Boden. Danath sah nicht, wie er starb, aber er wusste, dass er seine Schreie bis ans Ende seiner Tage hören würde. Farol, der so begierig auf Kampf und Ehre gewesen war, der seinen ersten Orc töten wollte. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit zu einem einzigen Schlag erhalten.

Danath hatte sofort erkannt, dass sie verlieren würden.

Seine Männer hatten das auch begriffen – und gewusst, was getan werden musste.

„Herr Kommandant! Reitet zur Festung!“, hatte Vann ihn gedrängt. Gleichzeitig erwehrte er sich eines viel größeren Gegners, der wild mit seinem Knüppel zuschlug. „Berichtet von uns! Wir geben Euch Deckung!“

Die anderen hatten zugestimmt. Danath zögerte, fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, zu bleiben und mit seinen Männern zu kämpfen und zu fliehen und sie so vielleicht zu retten.

„Geht!“, brüllte Vann seinem Kommandanten zu. Ihre Blicke trafen sich. „Für die Söhne Lo...“

Der Orc hatte zugeschlagen, als Vann einen Moment unachtsam gewesen war. Sein Knüppel fuhr mit tödlicher Kraft herab. Danath hatte sein Pferd herumgerissen, bevor Vann fiel, das Tier angebrüllt und war in Richtung Festung geritten. Weg von Farol und Vann und all den anderen, die er in den Tod geführt hatte.

Danath biss sich so fest auf die Lippe, dass sie blutete. Seine Männer hatten natürlich recht. Jemand musste Nethergarde warnen, und er hatte die nötige Autorität und die familiären Verbindungen, um sich Gehör zu verschaffen. Auf seine Erfahrung und sein Können als Anführer konnte man ebenfalls nicht verzichten.

Aber beim Licht, in seinem ganzen Leben war ihm noch nie eine Entscheidung so schwergefallen wie diese. Er fluchte leise, schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen, und trieb sein Pferd wieder an.

Der Pfad wand sich durch das ausgedörrte Land. Roter Staub stieg unter den Hufen des Pferdes auf. Danath saß sicher im Sattel und schaute auf, als er die riesigen Steinmauern von Nethergarde sah. Er konnte bereits die Wachen auf der Brüstung erkennen, die auf ihn deuteten und zweifellos andere über seine Ankunft informierten.

„Öffnet die Tore!“, rief er, so laut er konnte, und hielt seinen Schild hoch vor sich, damit man das Zeichen der Allianz darauf erkennen konnte. „Öffnet die Tore!“

Die schweren Tore aus Holz und Eisen öffneten sich langsam, und er ritt in vollem Tempo hindurch. Erst drinnen rutschte Danath aus dem Sattel und wandte sich an den nächstbesten Soldaten. „Wer hat hier das Kommando?“, wollte er schwer atmend wissen.

„Nennt Euer Anliegen und Euren Namen, bitte“, antwortete der Soldat.

„Dafür ist jetzt keine Zeit“, fauchte Danath, packte den Soldaten beim Brustpanzer und zog ihn zu sich heran. „Wer hat das Kommando?“

„Das habe ich“, sagte eine Stimme hinter ihm. Danath ließ den Soldaten los und wirbelte herum. Er stand einem großen, breitschultrigen Mann in violettem Gewand gegenüber, das ihn als einen der Zauberer von Dalaran auswies. Der Mann hatte langes, weißes Haar und einen ebensolchen Bart. Aber hinter den Falten im Gesicht saßen junge, aufmerksame Augen.

„Danath Trollbann, stimmt’s?“, fragte der Magier „Ich dachte, Ihr wärt bei Turalyon?“

Danath nickte, um seine Identität und die Bemerkung des Mannes zu bestätigen. Dann holte er Luft. „Schließt die Tore und besetzt die Mauern! Die Horde ist hier!“

Khadgars Augen weiteten sich, aber er widersprach nicht. Er gab mit den Händen Signale, und die Männer befolgten die lautlosen Befehle. Das Tor wurde geschlossen, jemand kümmerte sich um Danaths armes, überanstrengtes Pferd, und er erhielt einen Wasserschlauch.

„Was ist passiert?“

„Turalyon hat mich mit der Hälfte der Männer aus Sturmwind hergeschickt.“ Danath schluckte etwas Wasser, das zwar warm war, aber den Durst dennoch löschte. Dankbar nickte er dem Mann zu, der es ihm gebracht hatte. „Wir sind direkt nach Erhalt der Nachricht losgeritten. Er kommt mit dem Rest nach.“ Danath schüttelte den Kopf und wischte sich über den Mund. „Aber wir waren zu spät. Die Orcs hatten das Portal bereits geöffnet, und sie warteten dort auf uns. Meine Jungs... hatten niemals eine Chance.“

Khadgar nickte, sein Blick war düster. „Eure Verluste tun mir leid, aber die Warnung verschafft uns wertvolle Zeit. Wenn die Horde erneut in Azeroth einfallen will, muss sie zuerst an uns vorbei. Nethergarde wurde für so etwas erbaut. Die Orcs werden diese Festung nicht so schnell einnehmen.“

„Wie wollt Ihr Euch verteidigen?“, fragte Danath, der sich wieder soweit erholt hatte, dass er sich umschauen konnte. „Es sieht nicht so aus, als hättet Ihr viele Soldaten hier, und ich sehe keine Balliste oder Katapulte auf den Mauern.“

„Wir haben nicht so viele Kämpfer, das stimmt“, sagte Khadgar. „Doch das bedeutet nicht, dass wir keine Verteidigung oder Waffen haben. Ihr werdet sehen.“

„Davon gehe ich aus.“ Danath biss die Zähne zu einem Lächeln zusammen. „Und wenn sie kommen, warte ich hier auf sie.“


Die Orcs kamen eine Stunde später.

Sie stürmten den Pfad hinauf und füllten den Weg wie Wasser, das eine enge Rampe hinunterlief. Sie drängelten einander beiseite im hektischen Verlangen, die robusten äußeren Mauern der Festung zu erreichen. Danath und Khadgar standen auf einer der Brüstungen und beobachteten das Geschehen unter ihnen.

„Verdammt... das müssen Hunderte sein“, flüsterte Danath und sah, wie die Horde die Ebene vor der Burg besetzte. Wie ein grüner Vorhang aus Orcs und Waffen drang sie vorwärts. In der Hitze des Gefechts war Danath die große Zahl der Orcs gar nicht richtig aufgefallen.

„In der Tat“, antwortete Khadgar. Der junge Magier im alten Körper schien nicht sonderlich besorgt zu sein. „Obwohl es nicht so viele wie während des Zweiten Krieges sind. Entweder haben sie viel von ihrer Stärke in diesen Kämpfen eingebüßt, oder sie halten einen Teil der Streitkräfte zurück.“ Er zuckte die Achseln. „Nicht, dass es von Bedeutung wäre. Wir werden mit allem fertig, was sie uns entgegenschicken. Ihr fragtet wegen der Verteidigung der Festung? Seht...“

Er deutete auf etwas, und Danath sah überall entlang der Mauern farbige Gestalten auftauchen. Männer und Frauen, in violette Gewänder wie Khadgar gekleidet, kamen auf die Mauern. Der Erzmagier nickte, und alle Magier hoben gleichzeitig die Hände. Danath spürte, wie sich seine Haare aufrichteten, und er hörte ein leises Summen. Dann fuhren Blitze hinab und vernichteten die erste Welle von Orcs.

„Beeindruckend“, meinte Danath, seine Ohren klingelten noch von dem eben ertönten Donnerschlag. „Aber wie oft können Eure Leute das machen?“

Khadgar lächelte. „Das werden wir jetzt herausfinden.“


Turalyon beugte sich flach über sein Pferd und trieb es so zu größerer Eile an. Obwohl er wusste, dass das Warten auf Verstärkung durch Allerias Waldläufer richtig gewesen war, drängte ihn etwas im Innersten. Er hatte das Gefühl, dass sie vielleicht zu spät kamen. Irgendetwas ging bereits in Nethergarde vor. Er war sich nicht sicher, ob es Soldateninstinkt war oder seine eigene Unsicherheit. Aber der Paladin, der normalerweise freundlich zu Tieren war, trat sein Pferd immer wieder.

Mit ihm ritten seine Männer, Alleria und ihre Waldläufer. Alleria schaute ihn fragend an, weil sie bemerkte, wie er sein Tier antrieb, doch sie schwieg. Er sah zu ihr und wollte es irgendwie erklären, aber alles, was er hervorbrachte, war: „Etwas geschieht bereits.“

Sie öffnete den Mund, bereit für eine Stichelei, schloss ihn aber, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. Stattdessen nickte sie einfach und beugte sich vor, um ihrem Pferd etwas ins Ohr zu flüstern. Sie schien Turalyon zu glauben, und einem Moment lang wichen in ihm Sorge und Angst einer wohligen Wärme.

Der Ritt schien endlos zu dauern. Durch die Wiesen und sanften Hügel von Goldhain und die kleine Stadt Dunkelhain hindurch, über das graue Land, zu dem Ort, wo Medivh in Karazhan gelebt hatte. Treffenderweise hieß diese Stelle Gebirgspass der Totenwinde.

Schließlich ging es in die matschigen, stinkenden Sümpfe des Elends. Aber jetzt änderte sich das Land, und Turalyon spürte einen inneren Ruck, als er es bemerkte. Das faulige Blätterwerk war, trotz des unangenehmen Geruchs, immerhin ein Anzeichen von Leben gewesen. Der Boden unter ihm begann nun rot und trocken zu werden, fast wie in der Wüste.

Alleria furchte die Stirn. „Es... fühlt sich tot an“, brüllte sie über das Donnern der Hufe hinweg. Turalyon nickte nur atemlos. Sie ritten weiter durch die leere Landschaft und überquerten einen kleinen Hügel. Dahinter lag, wie eine weiße Spitze über der blutroten Umgebung, die Festung.

Er ließ sein Pferd halten und versuchte zu erkennen, was die ganze Zeit an ihm genagt hatte. „Etwas stimmt da nicht“, murmelte er.

Alleria beschirmte ihre Augen gegen die Sonne. Sie konnte besser sehen als er, und als sie nach Luft schnappte, wusste Turalyon, dass er recht gehabt hatte.

„Die Festung wird angegriffen!“, rief sie. „Die Horde... Turalyon... es ist, als würde ich wieder die Horde des Zweiten Krieges sehen! Es müssen Hunderte sein!“ Ihre Stimme klang erschrocken, aber irgendwie auch freudig erregt. Und das eiskalte Lächeln von Hass und Wut hatte ihr Gesicht wieder verzerrt.

Er erinnerte sich an die Unterhaltung in Sturmwind. Alleria würde die Möglichkeit erhalten, eine Menge „Ungeziefer“ zu vernichten. Er hasste ihre Gier nach dem Tod... und fürchtete, dass diese sie leichtsinnig werden ließ.

„Wir sind fast da“, sagte er zu ihr und seinen Kommandeuren, die sich neben ihm versammelt hatten. „Wir schlagen von hinten zu und keilen die Orcs zwischen uns und Nethergarde ein. Wenn wir sie geschlagen haben, reiten wir in die Festung und verstärken die Verteidigung, für den Fall, dass die Orcs erneut angreifen. Auf geht’s.“

Sie eilten zur letzten Hügelkuppe. Kurz bevor sie die Anhöhe überquerten, ließ Turalyon sie anhalten. Der Pfad stieg ein letztes Mal an, lief an den Felsen eine kleine Erhebung hinauf. Dahinter lag das Plateau. Von dort aus konnten sie alles gut überblicken.

Hunderte Orcs attackierten die Mauern von Nethergarde, obwohl die Festung bislang die Angriffe mit Leichtigkeit zu überstehen schien. Hier und da lagen Orc-Leichen. Turalyon sah mindestens einen Toten, dem ein Pfeil aus dem Hals ragte. Viele andere waren böse verbrannt, aber einige Orcs schienen unverletzt. Er sah auf und erblickte die Gestalten in den violetten Gewändern auf der Brüstung der Festung. Und trotz des Ernstes der Lage lächelte er, als er verstand, was passiert war.

„Wir müssen zuschlagen, bevor sie merken, dass wir hier sind. Sammelt die Männer und lasst sie auf meinen Befehl hin angreifen.“ Seine Kommandeure und Alleria nickten, gingen zu ihren Einheiten und gaben die Befehle ruhig weiter. Waffen wurden gezogen, Gurte kontrolliert, Schilde und Visiere gesenkt, und dann rückte die Armee vor.

Turalyon und die anderen arbeiteten sich vor und überbrückten die letzte Distanz zum Plateau. Die Hufe ihrer Pferde wurden von Staub umwölkt. Dem Licht sei Dank waren die Orcs so mit Rufen, Fluchen und Grunzen beschäftigt, dass sie nicht hörten, wie sie sich näherten.

Es war an der Zeit. Sie waren, so weit es ging, ungesehen vorangekommen. Turalyon atmete tief durch und hob den Hammer hoch über seinen Kopf.

„Söhne Lothars!“, rief er. Die Macht des Heiligen Lichts verstärkte seine Stimme und trug sie zu jedem Mann unter seinem Kommando. „Für die Allianz - für das Licht!“

Seine Soldaten brüllten, und mehrere Hundert Kehlen stimmten ihren eigenen Kriegsruf an. Turalyon ließ den Hammer niederfahren, und der Angriff begann.

Einige der Orcs in den hinteren Reihen hörten seinen Ruf und wandten sich um. Doch da wurden sie schon von den heranbrandenden Pferden niedergetrampelt. Andere wurden erschlagen, bevor sie die Gefahr überhaupt wahrnahmen.

In der Festung jubelten die Männer, als Turalyon und die Seinen vor-wärtsstürmten. Sie bahnten sich den Weg mit Hämmern, Äxten und Schwertern. Alleria und ihre Waldläufer feuerten einen Pfeil nach dem anderen ab, spannten die Bögen mit übermenschlicher Geschwindigkeit und waren noch dazu äußerst treffsicher. Ihre Pferde verlangsamten den Galopp dabei nicht. In überraschend kurzer Zeit war Turalyon bis zu Nethergardes riesigen Toren vorgedrungen, die sich bei seinem Näherkommen öffneten.

Turalyon zögerte und blickte zurück ins Gefecht. Seine Augen schauten in die von Alleria. Er wies auf das Tor. Sie furchte die Stirn... Genau wie er auch, zögerte sie, nicht bereit, den Kampfplatz zu verlassen. Aber sie waren die Anführer ihrer Einheiten, und sie mussten so schnell wie möglich mit dem Kommandanten der Burg sprechen.

Als sie nickte, trieb Turalyon sein Pferd durch die enge Lücke und erschlug einen Orc, der ihm folgte. Alleria war so nah bei ihm, dass ihr Bein an seines stieß. Dann schlossen sich die Tore hinter ihnen.

„Ah, gut, Alleria. Du hast uns Turalyon gerade rechtzeitig zurückgebracht.“

Turalyon wandte sich dem Sprecher zu. Er lächelte, als er Khadgar erkannte, und sie fielen sich in die Arme. Turalyon hatte seinen Freund vermisst. Er hatte sich sehr an ihn gewöhnt und mochte den Magier, seit sie zusammen im Zweiten Krieg gekämpft hatten. Es wäre nur schöner gewesen, hätten sie sich unter erfreulicheren Umständen wiedergesehen. Alleria nickte dem Magier kurz zu.

„Ich bin so schnell gekommen, wie es ging“, sagte Turalyon. Er erblickte den Mann neben Khadgar und lächelte erleichtert. „Danath“, grüßte er seinen Stellvertreter. „Ich bin froh, dich hier sicher zu sehen.“ Er sah sich um. „Aber... wo sind deine Männer?“

„Tot“, entgegnete Danath knapp.

„Beim Licht... alle?“, flüsterte Turalyon. Danath hatte die Hälfte der Krieger aus Sturmwind mitgenommen.

Danath biss sich auf die Unterlippe. „Die Orcs hatten für uns eine nette, kleine Falle aufgebaut, als wir ins Tal kamen. Sie töteten meine Jungs, bevor sie reagieren konnten.“ Danaths Stimme brach.

„Meine Jungs“ hatte er sie genannt. Turalyon erkannte, dass sich Danath für ihren Tod verantwortlich fühlte. „Sie haben sich geopfert, damit ich hierher kommen und Khadgar vor der nahenden Horde warnen konnte.“

„Sie haben das Richtige getan. Und du auch“, versicherte Turalyon seinem Freund und Untergebenen. „Es ist schrecklich, Männer unter seinem Kommando zu verlieren, aber Nethergarde zu warnen, besaß oberste Priorität.“ Er furchte die Stirn. „Khadgar... wir müssen herausfinden, warum sie uns jetzt attackieren.“

„Das ist offensichtlich. Sie müssen an uns vorbei, wenn sie nach Azeroth wollen“, antwortete Khadgar.

Aber Turalyon schüttelte den Kopf. „Nein, das ist unlogisch. Denk mal nach. Sie sind nicht zahlreich genug, um diese Festung einzunehmen, und das wissen sie auch. Ich möchte wetten, dass das hier nicht die ganze Horde ist. Aber wo ist dann der Rest? Warum greifen sie nur mit einem Teil ihrer Armee an?“

Khadgars weiße Brauen zogen sich über seinen jungen Augen zusammen. „Das ist ein exzellentes Argument.“

„Ich weiß, wie wir es herausfinden“, sagte Danath knapp. „Bringt mir einen Orc, und dann hole ich aus ihm heraus, was er weiß.“

Die Art, wie er es sagte und dabei aggressiv sein Kinn vorstreckte, ließ Turalyon zurückweichen. Er sah in Danaths Gesicht das Spiegelbild von Allerias Hass auf die Orcs. Trotz all ihrer Brutalität, trotz all des Schmerzes und der Schäden, die die Orcs auf dieser Welt angerichtet hatten, bedauerte er doch jeden Gefangenen, den sich Danath Trollbann zur Befragung vornahm. Er hoffte nur, dass der Orc schnell reden würde. Zu seinem eigenen Wohl – und dem ihren.

Danath wartete auf seine Zustimmung. Turalyon nickte zögernd und wandte sich Alleria zu. Aber bevor er etwas sagen konnte, war sie zu einem der Türme geeilt. Sie musste etwas tun, irgendetwas. Alleria gab den Befehl nach unten weiter, wartete auf die Antwort und grinste dann wild.

„Es wird nicht lange dauern“, sagte sie. Turalyon vermutete, dass sie selbst hinunterklettern würde. Stattdessen blieb die Elfe, wo sie war, legte einen Pfeil auf ihren langen, eleganten Bogen auf, zielte und nahm den Kampf von dem hoch gelegenen Ort auf.

Alleria behielt recht. Keine drei Minuten später rief jemand von draußen: „Wir haben einen!“

Die großen Tore wurden wieder geöffnet. Zwei von Turalyons Männer ritten hindurch. Zwischen ihnen hing ein beinahe besinnungsloser Orc. Sie warfen ihn dem General vor die Füße. Blut bedeckte den grünen Kopf, und die Augen waren geschlossen. Er rührte sich nicht, als er zu Boden fiel.

„Ein Orc, noch lebendig“, berichtete einer der Männer. „Er hat ganz schön was am Kopf abbekommen, aber er wird es überstehen. Zumindest eine Weile.“

Turalyon nickte und entließ sie. Beide Männer salutierten, bevor sie ihre Pferde herumrissen und sich wieder in die Schlacht stürzten.

„Dann schauen wir mal, was wir hier haben“, bemerkte Danath. Er fesselte dem Orc die Hände und Füße mit einem dicken Seil. Dann schüttete er dem Monster Wasser über das Gesicht. Es wachte auf, verzog das Gesicht, furchte die Stirn und begann zu knurren, als es die Fesseln bemerkte.

„Warum greift ihr uns jetzt an?“, fragte Danath und beugte sich über den Orc. „Warum greift ihr Nethergarde an, obwohl ihr nicht in voller Stärke seid?“

„Ich gebe dir gleich Stärke“, brüllte der Orc-Krieger und kämpfte gegen die Fesseln an. Aber sie hielten.

„Ich glaube, du verstehst nicht richtig“, sagte Danath langsam, zog seinen Dolch und bewegte ihn direkt vor dem Gesicht des Orcs. „Ich habe dir eine Frage gestellt. Du solltest besser antworten. Warum greift ihr Nethergarde jetzt an? Warum wartet ihr nicht, bis der Rest der Horde eintrifft?“

Blut und Spucke trafen Danaths Züge. Er sprang überrascht zurück und wischte sich langsam über das Gesicht. „Ich habe keine Lust auf Spielchen“, knurrte er und beugte sich mit dem Dolch vor.

„Warte!“, befahl Turalyon. Er verabscheute Folter, und er vermutete, dass, selbst wenn er Danath erlaubte weiterzumachen, der Orc nichts sagen würde. Orcs waren fast unempfindlich gegen Schmerzen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass er ohnmächtig wurde oder starb, war groß. „Es gibt vielleicht einen anderen Weg, das herauszufinden.“

Danath verharrte. Er spürte Allerias Blick auf sich. Sie war wütend und wollte die Kreatur verletzt sehen. Aber das würde nichts helfen.

Turalyon schloss die Augen und verlangsamte seinen Atem. Er griff nach dem stillen, tiefen Kraftreservoir in sich, dem Zentrum, wo, ganz gleich, was ihm durch den Kopf ging, Frieden herrschte. Er spürte ein Prickeln auf seiner Haut, als das Licht antwortete, ihm seine Kraft und seine unbeschreibliche Gnade lieh. Er hörte, wie seine Freunde nach Luft schnappten und der Gefangene einen erschreckten Schrei ausstieß.

Turalyon atmete tief ein. Er öffnete die Augen und sah das vertraute Leuchten über seinen Händen und Armen. Danath und Khadgar sahen ihn an, ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Und der Orc war nur ein zusammengekrümmtes, wimmerndes Knäuel zu seinen Füßen.

Als Turalyon sprach, war seine Stimme völlig ruhig und kontrolliert. Es gab keinen Platz für Hass oder Wut. Nicht, wenn man völlig im Licht wandelte.

„Nun, beim Heiligen Licht, wirst du unsere Fragen wahrheitsgemäß beantworten“, intonierte Turalyon und legte dem Orc die Hand auf die Stirn. Plötzlich blitzte etwas auf. Er spürte, wie ein Funke übersprang. Der Orc schrie, und als Turalyon seine Hand entfernte, befand sich auf der Stirn der Grünhaut wie eingebrannt ein dunkler Abdruck. Der Orc zitterte und weinte. Turalyon hoffte, dass er ihn nicht unnötig verletzt hatte.

„Warum greift ihr jetzt an?“, fragte er erneut.

„Um... um euch abzulenken“, schluchzte der Orc. „Von den Diebstählen.“ Zuerst hatte er hartnäckig geschwiegen, doch jetzt konnte der Orc gar nicht schnell genug reden. „Ner’zhul braucht etwas. Artefakte. Er befahl uns, die Allianz hier zu beschäftigen, damit sie nicht merkt, was vorgeht.“

Khadgar strich sich durch den Bart. Er hatte sich schneller als Danath erholt, der immer noch den jungen Paladin anstarrte. Turalyon blickte auf, um nach Alleria zu sehen, die ihn ebenfalls mit gespanntem Unglauben ansah. Als ihre Blicke sich trafen, wurde sie verlegen und schaute weg.

„Ein einfacher Plan, aber einfache Pläne sind oft die besten“, bemerkte Khadgar. „Obwohl, welche Artefakte? Und wozu braucht er etwas von unserer Welt und nicht von seiner eigenen?“

Der Orc schüttelte den Kopf und zitterte. „Er weiß es nicht“, sagte Turalyon. „Er würde es verraten, wenn er es wüsste.“ Unter dem Einfluss des Lichts konnte der Orc nicht lügen.

Die Tore öffneten sich gerade so weit, dass zwei Elfen sich durchzwängen konnten, dann schlossen sie sich wieder. Turalyon sah auf. Seine Augen verengten sich, als er erkannte, dass sie völlig erschöpft waren. „Was gibt’s Neues?“

„Sturmwind“, antwortete einer der Elfen. „Jemand ist in die königliche Bibliothek eingebrochen. Die Wachen haben die Leichen von zwei Männern vor der Tür gefunden und einen drinnen. Es sieht so aus, als wäre einer durch eine Orc-Axt gestorben.“

„Orcs? In der königlichen Bibliothek?“, Turalyon sah Khadgar an, dann den Orc, der zusammenfuhr. „Artefakte...“, murmelte Turalyon und fügte die Teile des Puzzles zusammen.

„Die perfekte Ablenkung“, musste Khadgar zugeben. „Verdammt. Ich vermute mal, der simple Plan hat perfekt funktioniert. Wir waren hier damit beschäftigt, die Orcs zu bekämpfen, und jemand entkam mit...“ Er wandte sich den Elfen zu. „Was genau haben sie gestohlen?“

Die Elfenkundschafter wirkten unangenehm berührt. „Unglücklicherweise habt Ihr recht. Etwas ist tatsächlich gestohlen worden.“

„Und was?“, fragte Turalyon.

Der Elf räusperte sich. „Das, hm... Buch von Medivh.“

„Beim Licht“, flüsterte Turalyon und spürte einen Kloß im Hals. Das Buch von Medivh. Das Zauberbuch des größten Magiers der Welt, des Mannes, der den Orcs dabei geholfen hatte, das Portal zu erschaffen.

Das Buch enthielt alle Geheimnisse des brillanten Zauberers. Und nun befand es sich in den Händen der Orcs!

Neben ihm schien Khadgar ebenfalls erschüttert zu sein. „Turalyon... ich brauche dieses Buch, um das Portal zu schließen!“

„Was?“, schrie Turalyon.

„Medivh und Gul’dan haben das Tor erschaffen. Im Zauberbuch könnte stehen, wie man es wieder schließt. Und nicht nur das. Wenn die Orcs es haben, können sie es auf zahlreiche andere Arten gegen uns einsetzen. Das ist schlecht. Das ist sogar sehr schlecht.“

Turalyon schüttelte den Kopf und tastete nach der Oase der Ruhe in sich. „Ich verstehe. Aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Die Orcs belagern uns immer noch und, Ablenkung hin oder her, stellen noch immer eine beachtliche Gefahr dar. Wir müssen die Festung beschützen und sie davon abhalten, daran vorbeizukommen. Wenn das erledigt ist, dann... nun, dann können wir uns darum kümmern.“

Er sah seinen Freund an, der langsam nickte. Dann blickte Turalyon zu Alleria und meinte den Hauch eines zustimmenden Schimmers in ihren grünen Augen zu erkennen, bevor sie ihren Bogen wieder erhob und erneut feuerte.

„Du hast recht“, sagte Khadgar und neigte den Kopf. „Wir müssen die Festung verteidigen. Wir können kein Rätsel lösen, wenn wir tot sind.“

Turalyon warf ihm ein schwaches, besorgtes Grinsen zu, kletterte auf sein Pferd und ritt mitten hinein ins Getümmel der Schlacht.

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