Jenseits des dunklen Portals Aaron Rosenberg & Christie Golden

Für meine Familie und Freunde und ganz besonders für meine großartige Frau, die mir geholfen hat, den Strom aufzuhalten.

Für David Honigsberg (1958-2007), Musiker, Autor, Computerspieler, Rabbi und ganz besonderer Freund. Zeig dem Himmel, wie man rockt, Amigo.

Prolog

„Wirf schon!“

„Halt die Klappe!“

„Verdammt, würfle endlich!“

„Gut!“, knurrte Gratar und beugte sich vor. Seine kräftigen Schultern spannten sich an. Er schüttelte die Würfel derart schnell, dass die geschlossene Faust fast schon vor den Augen verschwamm. Dann öffnete er die Hand, und die kleinen Knochenwürfel fielen klackernd heraus.

„Ha!“, lachte Brodog. Seine Hauer stießen aus dem Unterkiefer hervor. „Nur eine Eins!“

„Verdammt!“ Gratar setzte sich wieder schmollend auf den Stein, während er Brodog dabei zusah, wie er die Würfel einsammelte und sie erneut kräftig schüttelte. Er wusste nicht, warum er überhaupt noch mit Brodog spielte. Der Orc gewann praktisch immer. Es war fast schon widernatürlich.

Widernatürlich. Der Begriff war für Gratar fast bedeutungslos geworden. Er blickte zu dem knallroten Himmel auf, der sich bis zum Horizont erstreckte. Die Sonne strahlte in der gleichen Farbe.

Die Welt war nicht immer so gewesen. Gratar war alt genug, um sich daran erinnern zu können, dass der Himmel einst blau gestrahlt hatte. Die Sonne war warm und gelb gewesen und die Felder und Täler von sattem Grün. Er war in tiefen, kühlen Seen und Flüssen geschwommen, nicht ahnend, wie wertvoll Wasser einst werden würde. Der unmittelbare Kontakt mit diesem Element stillte eines der grundlegenden Bedürfnisse des Lebens.

Heutzutage aber wurde unverseuchtes Wasser in Fässern geliefert und war streng rationiert.

Gratar erhob sich. Dabei beobachtete er, wie roter Staub aufwirbelte. Sein Hals war knochentrocken. Er nahm den Wasserschlauch und trank einen Schluck. Der Staub bedeckte seine grüne Haut und hellte sein schwarzes Haar auf. Alles war irgendwie rot, als wäre die Welt in Blut getaucht worden.

Widernatürlich!

Aber der Grund, warum er und Brodog hier stationiert waren und ihre Zeit an diesem staubverhangenen Tag mit Glücksspielen vertrödelten, war das Widernatürlichste überhaupt.

Gratar sah zu dem hoch aufragenden Steinbogen hinüber, zwischen dessen Säulen ein schillernder Vorhang aus Energie glitzerte.

Das Dunkle Portal.

Gratar wusste, dass das merkwürdige Tor in eine andere Welt führte, obwohl er selbst es noch nie passiert hatte. Niemand aus seinem Klan war je hindurchgegangen. Doch er hatte beobachtet, wie stolze Krieger der Horde das Portal betraten, um Ruhm im Kampf gegen die Menschen und deren Verbündete zu ernten.

Ab und zu waren ein paar Orcs zurückgekommen, um vom Erfolg der Horde zu berichten. Aber seit einiger Zeit war niemand mehr erschienen. Keine Nachrichten, keine Kundschafter, nichts.

Gratar furchte die Stirn und ignorierte das klackernde Geräusch von Brodogs Würfeln. Etwas am Portal schien... anders geworden zu sein.

Gratar trat näher an das Tor heran. Die Haare auf seinen Armen und der Brust richteten sich auf.

„Gratar! Du bist dran. Was machst du denn da?“

Gratar ignorierte Brodogs Rufen. Blinzelnd schaute er auf die wirbelnden Schleier aus Energie. Was geschah nur in jener merkwürdigen anderen Welt?

Während er den wabernden Schimmer beobachtete, verstärkte der sich plötzlich. Der eben noch für Blicke undurchdringliche Vorhang wurde durchsichtig. Gratar konnte wie durch schwarzes Wasser hindurchsehen. Er blinzelte, schaute genauer hin... und stolperte, nach Atem ringend, rückwärts.

Direkt vor seinen Augen spielte sich eine wilde und brutale Schlacht ab.

„Was ist das?“ Brodog stand mit einem Mal neben ihm, auch er hatte nun das Spiel vergessen und holte tief Luft. Beide schauten eine Sekunde lang tatenlos zu, bevor Gratar sich besann.

„Los!“, rief er Brodog zu. „Berichte, was hier vor sich geht! Mach schon, sag es... dem Kommandanten!“ Brodogs Augen klebten immer noch an der Szene vor ihm. „Oder nein“, zischte Gratar. Er wusste instinktiv, dass sein Kommandant hiermit überfordert sein würde. Ein Orc hingegen war dem gewachsen. „Ner’zhul. Geh zu Ner’zhul... Er weiß gewiss, was zu tun ist.“

Brodog nickte und lief los. Dabei schaute er sich noch ein paarmal um. Gratar hörte, wie sich die Schritte entfernten, doch sein Blick haftete weiter an der Schlacht, die zwar intensiv auf ihn wirkte, nichtsdestotrotz aber sehr fern schien. Er konnte ein paar Orcs sehen. Einige glaubte er zu erkennen. Doch sie kämpften gegen merkwürdige Gestalten, die kleiner und schmächtiger, dafür aber besser gerüstet waren. Die Fremden – sie wurden „Menschen“ genannt, wie Gratar sich erinnerte – waren schnell und so zahlreich wie Mücken. Sie griffen die belagerten Orcs an und überwältigten einen nach dem anderen.

Wie konnten seine Leute solch eine Niederlage verwinden? Wo war Schicksalshammer? Gratar entdeckte keine Spur des massigen, mächtigen Häuptlings. Was war auf der anderen Welt passiert?

Er beobachtete immer noch fasziniert, als sich Schritte näherten. Gratar riss sich mühsam von der Szene los und sah, dass Brodog nicht allein zurückgekehrt war. Einer der Begleiter war größer und stärker als jeder Orc, hatte milchweiße Haut und markante Gesichtszüge. Den Oger-Magier erkannte Gratar am gerissenen Ausdruck in den kleinen Schweinsäuglein.

Wichtiger als dieser ihn überragende Begleiter war der Orc, der auf das Portal zustürmte. Obwohl sein Haar grau war und sein Gesicht schwer gezeichnet, war Ner’zhul der Häuptling des Schattenmondklans. Einst war er der versierteste Schamane gewesen, den die Orcs je hatten. Sein Körper wirkte nach wie vor kräftig und seine braunen Augen scharf. Er starrte in das Portal und das sich undeutlich hinter dem Vorhang abzeichnende Desaster.

„Eine Schlacht also“, sagte Ner’zhul gedankenverloren.

Und zwar eine, die die Horde verliert, dachte Gratar für sich.

„Wie lange hast...“, begann Ner’zhul, kam aber nicht mehr dazu, seinen Satz zu vollenden. Plötzlich veränderte sich der Raum, den das Portal begrenzte, und die Energien darin wirbelten wild. Eine Hand durchdrang den Vorhang, als bestünde er aus Wasser. Licht und Schatten ließen die grüne Haut schimmern, die die Barriere durchbrach. Dann folgte ein Kopf, danach der Leib, und schließlich war der Orc durch. Er hielt seine Axt und wirkte verwirrt, als er an Ner’zhul und den anderen vorbeirannte, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Ihm folgte ein weiterer Orc, dann noch einer... und immer mehr, bis eine wahre Flut aus dem Vorhang quoll. Die Orcs rannten, so schnell ihre Füße sie trugen.

Aber es waren nicht nur Orcs. Gratar sah sieben Oger durchbrechen und eine Gruppe, kleinerer, schlankerer Gestalten, die in ihren Gewändern zu versinken schienen.

Ein Krieger erregte Gratars spezielle Aufmerksamkeit. Er war zu groß und massig, um ein richtiger Orc zu sein. Aber seine brutalen Gesichtszüge wiesen auf Ogerblut hin. Dieser Streiter war nicht in Panik verfallen wie die anderen, sondern wirkte zielgerichtet, als würde er auf etwas zu – statt davon weglaufen. Ihm folgte ein riesiger, rabenschwarzer Wolf.

Ein Orc drängelte sich an dem Krieger vorbei, als sie aus dem Portal traten und rief: „Aus dem Weg, Halbblut!“ Doch der Krieger schüttelte nur den Kopf und ignorierte die Beleidigung. Der Wolf aber knurrte den Orc an, bis der Krieger ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen brachte. Augenblicklich gehorchte das Tier und verstummte. Der Krieger legte seine große Hand beruhigend auf den schwarzen Kopf seines Begleiters.

„Was ist geschehen?“, fragte Ner’zhul laut. „Du!“ Der Schamane wies auf eine der unbekannten Gestalten. „Was für eine Art Orc bist du? Warum bedeckst du dein Gesicht? Komm her!“

Die Gestalt blieb stehen, dann zuckte sie mit den Achseln und trat näher an Ner’zhul heran. „Wie du willst“, sagte sie mit kalter Stimme, die ein wenig spöttisch klang. Trotz der Hitze auf der leblosen Erde fröstelte Gratar.

Eine gepanzerte Hand warf die Kapuze zurück, und Gratar schrie erschrocken auf. Vielleicht waren die Gesichtszüge der Kreatur einst angenehm und normal gewesen, das war jedoch lange her. Die Haut war von fahlem Graugrün, und ein Loch klaffte an der Stelle, wo das Ohr auf die Wange traf. Schleim lief daraus hervor. Die aufgedunsenen, aufgeplatzten violetten Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, während die Augen in einem Ausdruck abseitigen Humors und ungezähmter Schläue funkelten.

Dieses Wesen erinnerte an einen Toten.

Selbst Ner’zhul zuckte zurück. Aber er erholte sich rasch. „Wer... bist du?“, fragte er und unterdrückte ein Zittern in seiner Stimme. „Und was willst du hier?“

„Erkennst du mich denn nicht? Ich bin Teron Blutschatten“, antwortete die Gestalt und lachte angesichts des offensichtlichen Unbehagens des Schamanen.

„Unmöglich! Der ist tot und kommt nicht wieder. Getötet von Schicksalshammer, zusammen mit dem Rest des Schattenrats!“

„Ich bin in der Tat tot“, stimmte die Kreatur zu, „dennoch bin ich hier. Dein alter Schüler Gul’dan hat einen Weg gefunden, uns in diesen verrottenden Kadavern wiederzubeleben.“ Er zuckte mit den Achseln, und Gratar konnte hören, wie das leblose Fleisch protestierend knirschte.

„Gul’dan?“ Den alten Schamanen schockierte die Erwähnung des Namens mehr als der Anblick des lebenden Leichnams. „Dein Herr lebt noch? Dann solltest du zu ihm zurückkehren. Du hast mich und die Pfade eines Schamanen verlassen, bist stattdessen seiner Führung gefolgt und ein Hexenmeister geworden. Das war, als du noch gelebt hast, Missgeburt. Dann diene ihm nun auch im Tode!“

Aber Blutschatten schüttelte den Kopf. „Gul’dan existiert nicht mehr. Und das ist ein Glück. Er hat uns alle verraten und Schicksalshammer dazu gezwungen, ihn zu bekämpfen statt wie geplant eine Stadt der Menschen einzunehmen. Dieser Verrat hat uns den Krieg gekostet.“

„Wir... haben verloren?“, stammelte Ner’zhul. „Aber... wie ist das möglich? Die Horde bedeckte einst die ganze Ebene, und Schicksalshammer würde niemals kampflos aufgeben!“

„Oh, er hat gekämpft“, antwortete Blutschatten. „Aber all seine Stärke reichte am Ende nicht aus. Er tötete den Anführer der Menschen, wurde jedoch im Gegenzug selbst überwältigt.“

Ner’zhul war wie erstarrt. Er schaute sich die keuchenden, blutverschmierten Orcs und Oger an, die noch vor Kurzem durch das Portal gestürmt waren. Dann holte er tief Atem, straffte sich und wandte sich dem Oger zu, der ihn begleitet hatte. „Dentarg... ruf die Häuptlinge zusammen. Sag ihnen, sie mögen sich augenblicklich hier versammeln und Waffen und Rüstungen mitbringen. Wir...“

Der Stoß trat ohne Vorwarnung aus dem Portal. Ein mächtiger Energieschub strömte hervor, der sie alle zu Boden warf.

Gratar rang nach Atem, weil die Windböe sämtliche Luft aus ihm herausgepresst hatte. Er kam gerade wieder auf die Beine, als ihn die zweite Entladung traf, noch heftiger als die erste. Diesmal wurden Felsbrocken von den Energien aufgewirbelt, die das Portal speisten. Gestein unterschiedlichster Größe flog ihnen entgegen. Der Energievorhang waberte und wurde schließlich wieder undurchsichtig.

„Nein!“ Ner’zhul rannte auf das Portal zu. Er war nur noch ein paar Schritte entfernt, als der leuchtende Vorhang aufflackerte, sich zusammenzog, kurz in jeder Aktivität innehielt... und schließlich explodierte.

Steine und Staub wirbelten auf. Ner’zhul wurde wie ein alter Knochen durch die Luft gewirbelt und krachte schwer zu Boden. Dentarg brüllte laut, eilte an die Seite seines Meisters und hob ihn hoch, als hätte er keinerlei Gewicht. Der alte Schamane bewegte sich nicht mehr, der Kopf hing schlaff herunter, die Augen waren geschlossen, und er blutete leicht.

Einen chaotischen Moment lang tobte um sie herum ein energetisches Inferno. Die frei werdenden Kräfte heulten wie wütende Geister. Genauso abrupt, wie sie aufgetreten waren, erloschen die Lichter dann auch wieder. Der Vorhang verschwand, und nur das leere Steinportal blieb zurück.

Das Dunkle Portal war... zerstört.

Gratar schaute auf den steinernen Bogen und auf die Krieger der Horde, die das Portal ein letztes Mal auf ihrer Flucht passiert hatten.

Schließlich blickte er zu Dentarg und dem alten Schamanen hinüber, den der Oger erstaunlich sanft auf den Armen trug.

Bei den Ahnen – was sollten sie jetzt bloß tun?

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