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»Reiter«, sagte Mincon.

Hurtha und ich gingen zu Fuß neben dem Fuhrwerk her; wir sahen noch nichts.

»Das ist sicher noch mehr cosische Kavallerie«, sagte Hurtha.

Das entsprach vermutlich der Wahrheit. Banditen würden sich wohl kaum so offen bewegen. Dennoch lockerte ich die Schwertklinge in der Scheide. Früher am Abend waren mehrere Abteilungen Kavallerie an uns vorbeigaloppiert.

Boabissia saß mittlerweile wieder neben Mincon auf dem Kutschbock; sie sah ängstlich auf Hurtha hinunter. Doch er nahm sie gar nicht wahr. Er sah nach vorn, die Axt in der Hand.

»Schlüpft unter die Decke!« befahl ich Feiqa und Tula.

Die Wagen in unserer Reihe wurden langsamer und hielten an. Ein Soldat auf einem Tharlarion stemmte sich in den Steigbügel hoch.

»Wer sind sie?« fragte ich Mincon.

»Ich glaube, cosische Kavallerie.«

Vor uns ertönten Trompetensignale. Genau wie Paßwörter werden diese Signale häufig ausgewechselt.

»Ja«, sagte Mincon, »so wie es aussieht, tragen sie die richtigen Abzeichen.«

Es war der zweite Tag nach dem Massaker. Am Vorabend waren wir in einem befestigten Lager auf den uns zugewiesenen Stellplatz gefahren. Soweit mir bekannt war, war es das erste auf diesem Marsch, das die Cosianer erbaut hatten. Solche Lager sind bei den goreanischen Streitkräften verbreitet. Der Lagerplatz wird von einem Graben umgeben. Der Aushub wird aufgetürmt und bildet zusammen mit dem Graben eine primitive Mauer. Ist genügend Rohmaterial vorhanden, errichtet man auf dem Mauerkamm eine Palisade. Bei kurzzeitigen Lagern umgibt man es mit Gebüschen. Die Zelte der Befehlshaber errichtet man gewöhnlich auf höherem Grund in der Lagermitte. Das erleichtert Verteidigung, Kommunikation und Aufklärung.

Ich stand auf einer Speiche des Vorderrades. »Ja, schon möglich.« Hurtha stand in der Nähe des Wagens. Er konnte sofort dahinter verschwinden oder sich an die Seite drücken. Die näher kommenden Reiter kamen in Sicht. Die Reitechsen ließen den Boden erbeben. Soweit ich es erkennen konnte, trug die Abteilung die blaue Farbe von Cos. Die Wimpel an den Lanzen der ersten Reiter zeigten das Banner von Cos. Gleich wären sie an uns vorbei, von dem Wagenzug auseinandergerissen wie ein Strom, der an einem Felsen vorbeifließt. Ich warf einen Blick in den Wagen. Feiqa und Tula lagen auf der Ladefläche; die rauhen Säcke würden auf ihrer Haut Abdrücke hinterlassen, ihnen aber gleichzeitig etwas Schutz vor den groben Holzplanken des Wagens verschaffen. Sie lagen reglos zwischen Getreidesäcken, eine dunkle Decke über sich gebreitet, und wagten es kaum, Luft zu holen. Es wäre keine gute Idee gewesen, die Sklavinnen starken Männern zu zeigen.

Es dauerte nur einen kurzen Augenblick – erfüllt von Männern und klirrenden Waffen –, dann waren die Cosianer vorbei. Ein berittener cosischer Soldat am Straßenrand salutierte mit der Lanze. Bereits wenige Ahn nach dem Massaker wurde der Rest der Kolonne von Wächtern begleitet. Die Fuhrwerke setzten sich wieder in Bewegung.

»Heute abend sind wir in Sicherheit«, sagte Mincon. »In Torcodino.«

Torcodino auf den Ebenen von Serpeto ist ein Verkehrsknotenpunkt. Die Stadt liegt am Schnittpunkt mehrerer Straßen: Die Straße des Genesian verbindet Brundisium und andere Küstenstädte mit dem Süden, die Nördliche Salzstraße ist die Ost-West-Verbindung, die Nördliche Seidenstraße die Nord-Süd-Verbindung. Die Straße der Pilger führt zum Sardargebirge, und die Oststraße, die auch Schatzstraße genannt wird, verbindet die Städte des Westens mit Ar. Torcodino mit seiner strategischen Lage war angeblich mit Ar verbündet. Den letzten Gerüchten zufolge hatte sich die Stadt jedoch seit neuestem anders orientiert.

Ein Sprichwort lautet: Es gibt keine Stadt, die sich nicht hinter Mauern zurückziehen könnte, die ein goldbeladenes Tharlarion errichtet hat. Vielleicht hatte der Rat von Torcodino auch kein Bedürfnis verspürt, mit einer so großen Streitmacht wie die der Invasoren zu diskutieren. Vor die Wahl Gold oder Tod gestellt, denken nur wenige Männer lange nach. Trotzdem war ich überrascht, daß Ar seinem Verbündeten nicht schnell zur Hilfe geeilt war. Soweit ich wußte, hatte man Torcodino der Gnade der cosischen Armee überlassen. Die Stadt diente jetzt als cosischer Stützpunkt und Sammelpunkt. Zum Beispiel sollte Mincon, nachdem er seine Ladung in Torcodino abgeliefert hatte, über die Straße des Genesian nach Brundisium zurückkehren, wo bereits die nächste Ladung auf ihn wartete. Cos’ Aufmarsch wirkte sehr gemächlich, vor allem dann, wenn man bedachte, daß sich das Jahr seinem Ende zuneigte. Wie bereits erwähnt, werden Söldner im Herbst oftmals ausgemustert, um im Frühling wieder aufgenommen zu werden. Andererseits wurde es in diesen Breiten zwar recht kalt, aber der Winter war nicht so streng, daß das blutige Spiel des Krieges unterbrochen werden mußte.

»Das da sind die Aquädukte von Torcodino!« erklärte Mincon.

Vor mehr als einem Jahrhundert hatte man feststellen müssen, daß Torcodinos natürliche Wasserquellen, die für eine geringe Bevölkerung ausreichten, die sich ausbreitende Stadt nicht länger versorgen konnten. Nun brachten zwei Aquädukte aus einer Entfernung von mehr als hundert Pasang Frischwasser in die Stadt: das erste Aquädukt kam vom Issus, einem in nordwestlicher Richtung fließenden Nebenfluß des Vosk, das zweite von den Quellen auf den Hügeln von Eteocles, südwestlich von Corcyrus. Die Pumpstationen wurden von Garnisonen geschützt. Die Aquädukte selbst wurden ständig patrouilliert, während Ingenieure und Arbeiter sie ununterbrochen inspizierten und für ihre Instandhaltung sorgten. Es waren großartige Konstruktionen.

Ich zog den Sklavinnen die Decke herunter. Falls es vor den Toren Torcodinos Kontrollen gäbe, wäre es unmöglich, sie zu verstecken. Außerdem gefiel mir ihr Anblick.

»Wann haben wir die Stadt erreicht?« fragte Boabissia.

»Die ersten Wagen sind zweifellos schon an den Stadttoren«, erwiderte Mincon.

Etwa eine halbe Ahn später standen wir vor Torcodinos Sonnentor. Viele Städte haben ein ›Sonnentor‹. Der Name rührt daher, daß es gewöhnlich bei Sonnenaufgang geöffnet und erst bei Anbruch der Dämmerung wieder geschlossen wird. Sobald eine goreanische Stadt ihre Tore schließt, ist es sehr schwer, sie wieder zu verlassen. Sie werden nur selten für Privatpersonen geöffnet. Es kommt vor, daß sich Straßenräuber, Banditen und manchmal sogar Sklavenhändler in Tornähe herumtreiben und versuchen, Spätankömmlinge im Schatten der Mauern zu überfallen. Viele hübsche Frauen sind auf diese Weise der Schlinge eines Sklavenhändlers zum Opfer gefallen. Normalerweise gibt es ein unter Bewachung stehendes ›Nachttor‹, durch das in der Stadt bekannte Bürger oder Leute, die sich ausweisen können, zu später Stunde eingelassen werden.

Zwei Torwächter stiegen auf den Wagen. Mincon überreichte dem Toroffizier seine Papiere. »Söldner aus dem Norden«, sagte Mincon und zeigte auf Hurtha und mich. Der Offizier nickte. »Jeden Tag kommen mehr. Sie wittern Beute«, sagte er. »Und wer ist das?« Er wies auf Boabissia, während er Mincon die Papiere zurückgab. Anscheinend waren sie in Ordnung.

»Ich bin eine Frau der Alar«, sagte Boabissia.

»Nein«, mischte sich Hurtha ein. »Sie ist nur eine Frau, die bei den Alar gelebt hat.«

Boabissia ballte die kleinen Fäuste.

Der Offizier zog eine Peitsche aus dem Gürtel. Er hielt sie Boabissia vors Gesicht. »Weißt du, was das ist?«

»Natürlich«, sagte sie unbehaglich. »Das ist eine Sklavenpeitsche.«

»Ist sie eine freie Frau?« fragte der Soldat.

»Ja«, sagte Mincon.

Hurtha nickte.

Feiqa und Tula, die hinten im Wagen knieten, senkten am ganzen Leib zitternd die Köpfe auf die grobleinenen Säcke. Einer der Wächter ergriff Feiqas Kopf und zog ihn hoch, dann bog er ihren ganzen Körper zurück, bis sie der Welt schamlos ihre Schönheit entgegenstreckte. Das gleiche tat er dann bei der blonden Tula. »Nicht schlecht«, sagte er.

»Von der Sorte gibt es viele in Torcodino«, meinte der Offizier. Seine Männer sprangen vom Fuhrwerk, und er winkte uns weiter. Einen Augenblick später hatten wir das Tor passiert.

»Wie stehen unsere Finanzen?« fragte Hurtha.

»Wir haben nur wenig«, sagte ich.

»Was sollen wir tun?« fragte er besorgt.

»Keine Ahnung. Wir könnten arbeiten.«

»Arbeiten?« fragte Hurtha entsetzt. Er war ein Krieger der Alar. Andererseits wurde körperliche Arbeit vom Kodex meiner Kaste auch nicht gerade hoch angesehen.

»Es wäre eine Möglichkeit«, sagte ich. Schließlich greifen verzweifelte Männer auf verzweifelte Maßnahmen zurück.

»Kommt nicht in Frage«, sagte Hurtha.

»Und wie sollen wir dann mit ehrlichen Mitteln an unser Abendessen kommen?«

»Ihr könnt mit mir essen«, sagte Mincon.

»Vielen Dank«, erwiderte ich. »Aber deine Gastfreundschaft auszunutzen, käme für uns nur zeitweilig in Betracht.«

»Ich hielte es andererseits nicht für unter meiner Würde, eine oder zwei Mahlzeiten anzunehmen, um mich vor dem Verhungern zu schützen«, erklärte Hurtha.

»Ich nehme an, du wirst morgen früh nach Brundisium zurückkehren«, vermutete ich.

»Das stimmt«, räumte Mincon ein.

»Damit wäre fürs Abendessen und Frühstück gesorgt«, sagte Hurtha.

»Ich habe noch ein paar Münzen.«

»Ich dachte, du wolltest bloß edel sein.«

»Das bin ich auch«, antwortete ich. »Es fällt immer leichter, edel zu sein, wenn man genug Geld fürs Abendessen besitzt.«

»Das hat fast schon etwas Poetisches.« Hurtha war beeindruckt.

»Danke.« Ich hatte vergessen, daß Hurtha ein Dichter war. Das war also ein hohes Lob. Zwar hatte er es mit der Einschränkung ›fast‹ versehen, aber was machte das am Ende schon aus?

»Ha!« rief Hurtha aus.

»Was?«

»Ich habe eine Idee«, verkündete er.

Mich überlief ein eiskalter Schauder.

»Willst du Boabissia verkaufen?« fragte Mincon. Sie zuckte zusammen.

»Nein«, sagte Hurtha. »Es ist eine andere Idee.«

»Das höre ich gern«, sagte Boabissia.

»Aber es könnte genauso gut werden, wenn nicht sogar noch besser.«

»Ich versichere dir, das höre ich nur zu gern«, sagte Boabissia.

»Möchtest du sie gern hören?« fragte Hurtha.

»Sicher«, sagte ich mit leichtem Unbehagen.

»Du hättest doch sicher nichts dagegen, wenn wir etwas verkaufen würden.«

»Was denn? Etwa mich?« fragte Boabissia.

»Nein, zumindest nicht in diesem Augenblick.«

»Was könntest du verkaufen?« fragte ich Hurtha. »Dein Besitz ist doch nicht groß.«

»Das ist wahr«, meinte er. Seine Augen leuchteten vor Aufregung.

»Würdest du deine Axt verkaufen?« Es war eine prächtige Waffe.

»Natürlich nicht.«

»Was dann?«

»Vertrau mir.«

»Muß das sein?«

»Ich wünsche mir nur eines von dir, der du erfahrener in den seltsamen Sitten der Zivilisation bist als ich: Du sollst keine Einwände haben, wenn ich ein paar Dinge verkaufe, um Geld zu bekommen.«

»Wer könnte dagegen etwas einzuwenden haben?« meinte ich.

»Ausgezeichnet«, sagte er überschwenglich. »Wir treffen uns am Wagenhof!« Er drehte sich um und verschwand.

»Er ist ein guter Kamerad«, sagte ich.

»Ja«, meinte Mincon. »Ich frage mich, was er verkaufen will.«

»Keine Ahnung.«

»Soweit ich es mitbekommen habe, hat er nichts mitgenommen.«

»Richtig.« Hurthas Sack lag noch immer im Wagen.

»Vielleicht verkauft er die Axt«, sagte Mincon. »Die hat er dabei.«

»Das bezweifle ich.«

»Aber was dann?«

»Vielleicht besitzt er Edelsteine, die er in seine Kleidung eingenäht hat, für den Notfall.«

»Das muß es sein«, sagte Mincon.

»Genau.«

»Wie dem auch sei, Hurtha ist ein kluger Bursche. Zweifellos weiß er genau, was er da tut.«

»Zweifellos.«

»Ich habe großes Vertrauen in ihn.«

»Ich auch«, sagte ich.

Mincon ließ die Peitsche knallen. Der Tharlarion setzte sich in Bewegung. Wir bogen in die Straße ein und folgten den an den Häuserwänden aufgemalten Zeichen, die zum Wagenhof führten.

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