Ich drehte mich unter der Decke um, die mir ein Soldat gegeben hatte. Ich lag auf den Marmorfliesen in der Vorhalle des Semniums. Es hielten sich etwa zweihundert Leute hier auf, viele von ihnen Zivilisten.
Sorgen quälten mich. Ich wollte nach Ar, hatte dort aber eigene Dinge zu erledigen. Ich war nicht der Meinung, das Geld eines Söldners zu benötigen, um dorthin zu gelangen. Als Unbekannter sollte ich keine großen Schwierigkeiten haben, die Tore zu passieren. Vermutlich würde man keinen Passierschein brauchen, um Ar betreten zu können. Ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, die mir solche Dokumente bei cosischen Posten einbringen konnten. Sicher wären sie hilfreich, um zum Ersten Minister oder zum General vorgelassen zu werden, aber die mit dem Silbertarn versiegelten Briefe würden ebenfalls reichen. Und sollte ich mich dagegen entscheiden, die Briefe abzuliefern, wer sollte je das Gegenteil beweisen? Aus irgendwelchen Gründen waren bis jetzt alle mit dieser Mission betrauten Männer gescheitert. Zumindest schien der Hauptmann noch keine Antwort erhalten zu haben.
In der Nähe schliefen Hurtha und Boabissia. Mincon, allem Anschein nach ein geschätzter Agent des Hauptmanns, hatte entweder ein eigenes Quartier oder war anderswo beschäftigt. Tula hatte er mit genommen. Feiqa saß an der Wand, an ein paar andere Sklavinnen angekettet. Man wollte Sklaven und freie Frauen auseinanderhalten. Ich bezweifelte nicht, daß sich Hurtha mir erfreut anschlösse, falls ich ihn fragte. Vermutlich käme er auch ungefragt mit, mit seinem unerschütterlichen Optimismus, der sich nicht um die vor ihm liegenden Schwierigkeiten scherte. Er hatte sich bereits mehr als einmal beschwert, daß seine Axt Rost ansetzte. So drückten die Alar wohl aus, daß ihre Waffen in letzter Zeit nicht benutzt worden sind. Sollte Hurtha mich begleiten, erschien es jedoch angebracht, Boabissia zurückzulassen. Doch dann würde sie sich bald in einem Kragen wiederfinden. Hübsch genug war sie. Ich konnte natürlich versuchen, mich ohne die beiden aus der Stadt zu schleichen. So brachte ich sie nicht in Gefahr, was wiederum sehr rücksichtsvoll von mir gewesen wäre. Aber dann versäumte ich Hurthas neue Gedichte. Das ließe sich dann natürlich nicht vermeiden. Sollte ich die Briefe überbringen? Oder mit Hurtha und Boabissia sprechen? Oder doch allein aus der Stadt verschwinden? Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Das Einschlafen fiel mir schwer.
Mincon rüttelte mich wach. »Zeit zum Aufstehen«, sagte er.
Ich setzte mich auf. Mincon reichte mir einen Stapel Briefe. »Hier. Es sind alle da.«
»Woher weißt du, daß ich sie nehme?«
»Willst du nicht?«
»Doch«, erwiderte ich und schob sie in mein Gewand.
»Ich habe deine Waffen und anderen Sachen herbringen lassen. Wo hast du die Quittung für Feiqa?«
»In meinem Geldbeutel. Ist es nicht noch ziemlich früh?«
»Nein, mein Freund«, sagte er. »Sogar Hurtha ist schon aufgestanden.«
»So spät ist es schon?« staunte ich. Es war allseits bekannt, daß Hurtha oft bis weit nach Tagesanbruch schlief. Zugegeben, gelegentlich gönnte ich mir ähnliche Ausschweifungen, vor allem nach einem angenehmen Abend mit Getränken und Sklavinnen.
»Ja«, sagte Mincon. »Er und Boabissia warten draußen auf dich.«
»Ich muß mit ihnen sprechen«, sagte ich. »Sie müssen über die Gefahren aufgeklärt werden, denen wir möglicherweise gegenüberstehen.«
»Ich habe bereits mit ihnen gesprochen«, sagte Mincon. »Boabissia ist entschlossen, nach Ar zu reisen. Anscheinend will sie dort die Antwort auf ein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit suchen. Und Hurtha läßt sich natürlich nicht abschrecken.«
»Wie könnte es auch anders sein!«
»Er sucht das Abenteuer.«
»Großartig.«
»Er mag dich«, sagte Mincon.
Ich sah ihn ungläubig an.
»Ja, er ist froh, jemanden gefunden zu haben, der sich begeistert seine Werke anhört.«
»Begeistert?« fragte ich.
»Er hat heute morgen bereits ein neues Gedicht verfaßt. Er hält es für ein humoristisches Werk. Es sind fröhliche Spottverse auf Leute, die gern lange schlafen.«
»Hurtha hat ein solches Gedicht verfaßt?«
»Ja«, versicherte mir Mincon. »Doch vom Abenteuer abgesehen glaube ich, daß er überzeugt ist, im Auftrag der Alar zu reisen.«
»Wieso denn das?«
»Er hat vor, die Gebiete von Ar auszukundschaften, um in Erfahrung zu bringen, ob sie es wert sind, von den Alar erobert zu werden.«
»Ich glaube, er weiß nicht so richtig, worauf er sich da einläßt.«
»Da hast du recht.«
»Ich hole Feiqa.«
»Deine Besitztümer liegen dort drüben.«
Ein paar Augenblicke später schritt ich die Treppe des Semniums hinunter. Feiqa folgte mir, das Gepäck auf dem Rücken.
»Tal, Rarius!« rief Mincon herzlich.
»Tal, Rarius!« erwiderte ich.
Boabissia begrüßte mich. In ihrem langen Kleid und mit ihrem Lächeln erschien sie mir an diesem Morgen ausgesprochen hübsch. Ich hätte schwören können, daß sie es etwas anders trug. Offenbar hatte sie es fester geschnürt, denn die Vorzüge ihrer Figur zeichneten sich deutlicher als zuvor ab. Vielleicht würde ich mit ihr darüber sprechen. Vermutlich wußte sie nicht, was dies bei Männern bewirkte, vor allem bei starken Männern. Mir fiel auf, daß sie die gelbe Metallscheibe offen um den Hals trug.
»Ich wünsche euch alles Gute«, sagte Mincon.
Wir verabschiedeten uns von ihm.
»Selbst dir, hübsche, kleine, versklavte Feiqa.«
»Vielen Dank, Herr«, erwiderte sie. »Ich wünsche dir auch alles Gute.«
Mincon winkte einen Wächter heran. Dann sprach er zu ihm, als wären wir ihm unbekannte Fremde, die gerade das Semnium verlassen hatten. »Bring diese Zivilisten zu den anderen«, befahl er. »Und dann sorg dafür, daß sie die Stadt verlassen.«
»Bewegt euch«, sagte der Soldat, trat hinter uns und stieß uns mit dem Speerende. »Da hinüber. Zu den anderen.«
»Keinen Widerstand«, sagte ich zu Hurtha.
»In Ordnung«, erwiderte er friedlich.
Und so marschierte unsere kleine Gruppe über die Straße des Adminius auf das große Stadttor von Torcodino zu. Bald waren wir Teil einer Menge von etwa zwei- bis dreihundert Personen und hielten uns ungefähr im hinteren Drittel auf. Das schien mir eine gute Plazierung zu sein. Es war möglich, daß die Soldaten, die den Auftrag hatten, die Zivilisten zu durchsuchen, bei dem großen Andrang ihre Pflichten vielleicht etwas nachlässiger verrichteten, sobald wir endlich an der Reihe wären. Andererseits waren wir nicht so weit hinten, daß wir befürchten mußten, einem letzten Anfall von Diensteifer zum Opfer zu fallen. Wir hatten die Gehängten schnell hinter uns gelassen. Das tat mir nicht besonders leid.
Wir gingen langsam die Straße entlang, auf das Tor zu.
»Bist du sicher, daß du nach Ar willst?« fragte ich Boabissia. »Es könnte gefährlich sein.«
Sie berührte die Kupferscheibe. »Ja«, antwortete sie. »Ich will erfahren, wer ich eigentlich bin.«
»Und wer bist du deiner Meinung nach?«
»Ich weiß es nicht. Aber man hat mich in den Überresten einer großen Karawane gefunden. Vielleicht war es ja die Karawane meines Vaters. Und selbst wenn es nicht so war, muß man einen Platz in einer solchen Karawane doch kaufen, und das läßt auf Reichtum schließen.«
»Das ist wahr«, erwiderte ich.
»Es ist doch eher unwahrscheinlich, daß ein einfacher Diener ein Kleinkind mit sich führte. Darum glaube ich, daß ich aus einer reichen Familie stamme.«
»Das klingt recht einleuchtend«, sagte ich. Es schien sogar ziemlich wahrscheinlich. Trotzdem verspürte ich ein gewisses Unbehagen. Aus einem unerfindlichen Grund kam mir der Buchstabe ›Tau‹ auf dem Anhänger irgendwie bekannt vor. Ich fragte mich, wo ich diese ganz bestimmte Schreibweise des ›Tau‹ schon einmal gesehen hatte. »Warum steht eine Nummer auf der Scheibe?« fragte ich.
»Das weiß ich nicht. Es muß eine Art Identifizierung sein, vielleicht gehört sie zu einer Passagier- oder Adressenliste.«
»Es könnte auch eine Wagennummer sein, wenn es eine große Karawane war oder, was wahrscheinlicher ist, die Nummer eines Kaufmanns oder einer Handelsgesellschaft, die über viele Wagen verfügt.«
»Daran habe ich noch nie gedacht«, gestand sie. »Vielleicht hast du recht. So wüßte man im Zweifelsfall, wem das Kind gehört. Das muß es sein.«
»Vielleicht.«
Hurtha räusperte sich.
»Willst du jetzt endlich mein neuestes Gedicht hören, das sich auf humorvolle Weise über die Faulpelze lustig macht, die gelegentlich verschlafen?«
»Aber natürlich«, sagte ich ergeben.
»Es ist ein lustiges Gedicht«, verkündete Hurtha.
»Davon bin ich überzeugt.«
»Erwacht, abscheuliche Faulpelze«, fing Hurtha salbungsvoll an. »Das ist ein starker Anfang, nicht wahr?«
»Unvergeßlich«, erwiderte ich.
»Erwacht, schlimme Schurken!« setzte er erneut an.
»Hast du die erste Zeile etwa schon umgedichtet?«
»Natürlich nicht. An vollendeten Versen bastelt man nicht herum. Das ist die zweite Zeile.«
»Bist du sicher, daß es ein lustiges Gedicht ist?«
»Aber sicher«, kicherte Hurtha.
»Ich wußte gar nicht, daß du humoristische Gedichte verfaßt.«
»Ich bin vielseitig«, erinnerte Hurtha mich. »Du hast wohl gedacht, ich verbrächte meine Zeit nur mit tragischen Oden.«
»Ehrlich gesagt habe ich nicht weiter darüber nachgedacht«, gab ich zu.
»Ich besitze eine komische Seite, die allerdings nur jenen bekannt ist, die mich besser kennen. Meiner Meinung nach ist es der künstlerischen Weiterentwicklung nicht zuträglich, wenn man stets nur die Verzweiflung zum Thema macht.«
»Da könntest du recht haben.«
»Das kannst du mir schon glauben. Ein bißchen Verzweiflung hängt einem immer nach.«
»Keine Frage.«
»Ich werde von vorn beginnen.« Er holte tief Luft. »Hoch mit dir, du fauler, stinkender, trödelnder Sleen!«
»Wolltest du nicht von vorn anfangen?« fragte ich.
»Diesmal fange ich mit der dritten Zeile an.« Er wandte sich an den Mann, der neben ihm ging, einen unschuldigen Burschen mit einem Bündel auf dem Rücken. »Dieses Gedicht ist meinem Freund Tarl hier gewidmet. Er hat mich dazu inspiriert.«
»Ich verstehe«, sagte der Mann und sah mich mit gerunzelter Stirn an. Dann rückte er ein Stück von uns ab.
»Auf, auf, sage ich, faule Tarsks, widerwärtige, schläfrige, schleimige Urts!« rief Hurtha.
Ein paar Leute warfen mir vieldeutige Blicke zu. Ich beschleunigte den Schritt und starrte stur geradeaus.
»Es ist Mittag!« rief Hurtha. Dann blieb er stehen und lachte so schallend, daß ihm Tränen die Wangen hinunterliefen.
»Was ist?«
Ein paar Flüchtlinge gingen an uns vorbei.
»Ich habe dir doch gesagt, daß es lustig ist«, sagte Hurtha und krümmte sich vor Lachen.
»Tatsächlich?«
Er verstummte jäh. »Das ist dir doch nicht etwa zu schwer verständlich?«
»Ich bin kein Alar!« gab ich zu bedenken.
Boabissia lachte hell auf, obwohl ich aus ihrer Stimme Unbehagen heraushören konnte.
»Verstehst du nicht?« fragte Hurtha. »Ich habe nicht gesagt, es war Morgen. Ich habe gesagt, es war Mittag.«
»Und?«
»Du rechnest natürlich damit, daß ich Morgen sage, aber in Wahrheit ist es schon Mittag!«
»O ja, natürlich. Sehr geistreich.« Ich glaubte begriffen zu haben, was er sagen wollte. Viele Goreaner stehen sehr zeitig auf. Vielleicht half einem diese Tatsache beim Verständnis des Gedichts. Boabissia gab ein Geräusch von sich. Es hörte sich wie der verzweifelte, mißlungene Versuch eines Lachens an. Sie wollte wohl nur die Behauptung unterstützen, eine Alar zu sein. Feiqa, die diese Last nicht trug, sah entsetzt aus.
»Da vorn ist das Tor!« sagte ich erleichtert.
Einige der passierenden Flüchtlinge wurden ausgesprochen gründlich durchsucht. Die Frauen mußten sich ausziehen – vermutlich, weil die Soldaten Lust hatten, sie so zu sehen – und wurden zu ihrem Entsetzen mit goreanischer Gründlichkeit durchsucht. Man fand Münzen und Ringe. Nach einer solchen Leibesvisitation taugt eine Frau eigentlich nur noch zur Sklavin, aber man drückte ihnen die Kleidung in die Hand und stieß sie durchs Tor. Boabissia ersparte man diese Peinlichkeit. Die Soldaten behielten nur wenig. Mich beschlich der Verdacht, daß man diese Flüchtlingsgruppe nur pro forma oberflächlich durchsuchte.
Ein paar Ehn später gesellte sich die Vermutung hinzu, daß Boabissia der Leibesvisitation nur deshalb entging, weil sie zu unserer Gruppe gehörte. Die Briefe des Hauptmanns steckten in meiner Schwertscheide. Das erschwerte zwar das Ziehen der Waffe, aber in Anbetracht meiner begrenzten Möglichkeiten schien es ein vernünftiges Versteck zu sein. In einem Gewand oder dem Umhangfutter sind Papiere leicht zu entdecken. Ist die nötige Zeit vorhanden, kann man die Botschaft auf ein Stück Futter schreiben. Um sie dann zu entdecken, muß man schon die Nähte aufreißen. Natürlich gibt es im Prinzip viele Möglichkeiten, eine Botschaft oder ein paar Wertgegenstände zu verstecken. Falsche Absätze und ausgehöhlte Sandalensohlen, winzige Geheimfächer in Ringen, Broschen, verzierte Haarnadeln, hohle Kämme. Es gibt auch Schwerter mit abschraubbarem Knauf und hohlen Griffen. Nicht zu vergessen Wanderstäbe mit Hohlräumen, an die man gelangt, indem man Teile des Stabes auseinanderschraubt. Ich brauche sicher nicht eigens zu erwähnen, daß viele dieser Stäbe Dolche oder Schwertklingen enthalten. Es ist den weißgekleideten Absolventen der Pilgerfahrten zum Sardargebirge sogar aus alter Zeit her vorgeschrieben, solche Stäbe mitzuführen. Diese Männer sind durchaus nicht so harmlos, wie sie scheinen. Viele Straßenräuber mußten das schon zu ihrem Leidwesen erkennen.
»Ihr gehört zusammen?« fragte ein Soldat.
»Ja«, antwortete ich.
»Ihr könnt passieren.«
Augenblicke später hatten wir das große Tor hinter uns gelassen und blinzelten vor den Stadtmauern Torcodinos in die Sonne. Ich sah zurück. Aus dieser Nähe und im Licht der Herbstsonne vermittelten die hohen Mauern einen unüberwindlichen Eindruck. Gewöhnliche Sturmleitern waren zu kurz. Die Kargheit der Mauern wurde von zahllosen waagrechten, etwa zehn Zentimeter hohen Schlitzen aufgelockert, durch die man eisenüberzogene Lanzen mit stabilen halbmondförmigen Stahlklingen an der Spitze stoßen konnte. Mit ihrer Hilfe können die Verteidiger die Leitern des Feindes in ausreichender Höhe – wo man die nötige Hebelkraft erreicht – ohne große Gefahr für sich selbst abwehren. Das Ergebnis ist zumeist verheerend. Die Mauerschlitze können natürlich auch als Schießscharten verwendet werden.
Hinter uns traten noch immer Flüchtlinge aus dem Tor. Ich wandte den Blick wieder nach vorn. Etwa zwanzig Meter entfernt ragten die Wimpel von Cos auf, vermutlich über der erste Reihe der Belagerungsgräben.
Unwillkürlich tastete ich nach der Schwertscheide mit den dort verborgenen Dokumenten.
»Du bist nicht durchsucht worden«, sagte ein Mann neben mir. Er war ziemlich klein, trug einen Schnurrbart mit herabhängenden Enden und hatte schmale Augen. Auf dem Rücken transportierte er ein kleines Bündel.
»Man hat viele nicht durchsucht«, erwiderte ich.
Der Fremde setzte sich wieder in Bewegung, in Richtung der Wimpel.
»Was sollen wir tun?« fragte Boabissia unbehaglich.
»Los, weitergehen«, sagte ein Soldat und zeigte auf die Belagerungsgräben.
Boabissia und ich gingen weiter, gefolgt von Hurtha, Feiqa und den anderen Flüchtlingen. »Ich glaube nicht, daß wir große Mühe haben werden, die cosischen Linien zu passieren«, sagte ich. »Man wird die Flüchtlinge vermutlich schnell weiterleiten. Aber ich weiß nicht, wie wir am besten nach Ar kommen. Wir könnten die Straße des Argentum erreichen und bis zur Viktel Aria nach Osten gehen. Von dort weiter nach Süden in Richtung Ar.«
»Das ist die längere Route, nicht wahr?« fragte Boabissia.
Ich nickte.
»Warum sollen wir sie dann nehmen?«
»Man würde nicht erwarten, daß wir diesen Weg gehen.«
»Hast du Angst?« fragte sie mich.
»Mir ist unbehaglich zumute.«
»Könnten wir nicht einfach querfeldein gehen, den direkten Weg nehmen?«
»Das täte ich auch, wenn ich allein wäre.«
»Ich habe keine Angst«, verkündete sie.
»Auf dem offenen Land könnten sich Sleen herumtreiben, besonders nach Einbruch der Dunkelheit.«
Boabissia wurde blaß.
»Davon abgesehen bist du zu hübsch.«
»Was hat das denn damit zu tun?«
»Möchtest du die Sklavin eines Bauern werden, die Gemeinschaftssklavin eines Dorfes? Einen Seilkragen tragen, Unkraut jäten, einen Pflug ziehen und die Nacht in einem Erdloch verbringen?«
Sie schauderte.
»Trotzdem sollten wir den kürzesten annehmbaren Weg nach Ar nehmen, den es gibt. Um Zeit zu sparen. Denn ich glaube, daß die Zeit sehr wichtig ist.« Ich dachte nach. »Wir werden die Oststraße nehmen.«
»Wird sie nicht auch Schatzstraße genannt?« fragte Boabissia.
»Ja. Wegen der Reichtümer und Sklavinnen, die oft dort transportiert werden.«
»Darum der Name«, murmelte sie voller Unbehagen.
»Zweifellos wirst du viele Sklavenkarawanen sehen, nicht zu vergessen die Mädchen ärmerer Kaufleute. Viele der Frauen müssen zu Fuß gehen, aneinandergekettet, manchmal mit verbundenen Augen.«
»Großartig!« rief Hurtha.
Feiqa schlug die Augen nieder.
Ich hatte die Passierscheine. Nach gründlicher Überlegung schien die Schatzstraße der vermutlich beste Weg zu sein.
»In Einerreihe weitergehen!« rief ein Soldat aus Cos, der vor einem Banner stand. »Paßt auf, wo ihr hintretet.« Man hatte den ersten Belagerungsgraben mit einem langen Brett überbrückt.
Der kleine Mann mit den schmalen Augen und dem Schnurrbart mit den langen Enden befand sich vor uns. Er ging über die Behelfsbrücke. Ich schloß mich ihm an. Das Brett bog sich unter meinem Gewicht durch. Die anderen folgten mir.
»Da entlang!« befahl der Soldat und wies in eine Richtung.
Wenige Ehn später hatten wir weitere Belagerungsgräben überquert und befanden uns in Nähe der Hürden, die das Bild der hinteren Belagerungszone beherrschten. In regelmäßigen Abständen erhoben sich Beobachtungstürme, die aus Pfählen und Brettern zusammengezimmert waren; zusammengebundene Pfähle stützten eine Bretterplattform, von der aus man Torcodinos Stadttor unter Beobachtung halten konnte. Nachts würden Fackeln und Laternen an dem Belagerungswerk hängen.
»Hier entlang«, sagte der nächste Soldat.
Wir hatten das cosische Heerlager erreicht. Die meisten Zelte waren rund und hatten niedrige, schräg abfallende Spitzen. Viele waren hellbunt oder mit breiten Streifen und auffälligen Mustern versehen. Goreaner sind ganz versessen auf solche Dinge. Ein goreanisches Feldlager bietet oftmals einen buntscheckigen Anblick, selbst aus der Ferne. Dafür sorgen die Seide und die unzähligen Flaggen. Goreaner mögen auch Stoffe, die sich gut auf der Haut anfühlen, Gewürze, die den Geschmacksinn anregen, schöne, ausdrucksstarke Melodien und schöne Frauen. Damit unterstreichen sie ihre Ursprünglichkeit, ihre Lebenskraft und ihre Gesundheit. Straßen werden geometrisch angelegt, gewöhnlich von Ingenieuren mit Vermessungsschnüren.
Wir durchquerten das Lager, wobei wir die Randbezirke nie verließen. Vermutlich dauerte es nicht lange, bis wir auf die Gegenverschanzung stießen, von den Belagerern ausgehobene Gräben, die gegen den möglichen Angriff eines Entsatzheers schützen sollten.
Hurtha streckte den Arm aus. »Da hinten sind die Gehege der Lagermädchen.«
Er zeigte auf ein eingezäuntes Areal, in dem mehrere kleinere Zellen und Käfige zu sehen waren. In solchen Gehegen – bei einem Heerlager dieser Größe war es vermutlich nur eines von vielen – lebten die Sklavinnen, die dem Vergnügen der Soldaten dienten. Der Goreaner verzichtet ungern auf die Anwesenheit von Frauen. Solche Mädchen werden während eines Feldzuges gewöhnlich gruppenweise von Sklavenhändlern geliefert. Die Soldaten dürfen sie in ihren Gehegen besuchen, meistens schickt man sie allerdings für die Nacht in die Quartiere der Männer. Am Morgen kehren sie dann zu ihren Herren zurück.
»Hier entlang«, sagte der cosische Führer. »Trödelt nicht herum!«
Das Geld des Hauptmanns trug ich in meinem Geldbeutel. Die Münzen waren alle von so geringem Wert, daß sie keine Aufmerksamkeit erringen würden.
»Du hast mein Gedicht noch nicht bis zu Ende angehört«, sagte Hurtha.
»Das stimmt«, entgegnete ich zögernd.
Dann bekam ich Hurthas neueste Schöpfung in ihrer ganzen Pracht zu hören. Es nahm mehrere Ehn in Anspruch. Mit wahrer Hingabe veränderte er ständig irgendwelche Zeilen und schuf damit aus dem Stegreif verblüffende, ausufernde Variationen, die er zweifellos mit einer auf abscheuliche Weise großzügig ausgelegten, fragwürdigen dichterischen Freiheit rechtfertigte.
»Wie hat es dir gefallen?« fragte er schließlich.
»So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört«, mußte ich zugeben.
»Tatsächlich?« fragte er begierig.
»Das ist mein voller Ernst. Mit Ausnahme anderer deiner Gedichte natürlich.«
»Natürlich. Glaubst du, es wird ein unsterbliches Werk werden?«
»Schwer zu sagen. Machst du dir darüber Gedanken?«
»In gewisser Weise schon.«
»Warum?«
»Weil es dir gewidmet ist, mein Freund.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Einmal angenommen, es wird ein unsterbliches Werk. Womit zu rechnen ist, da es sich schließlich um einen echten Hurtha handelt. Dann wärst du in der Erinnerung der Leute für alle Zeiten ein verabscheuungswürdiger, ekelhafter Faulpelz.«
»Ich verstehe, was du meinst.«
»Trotzdem bist du mein liebenswerter Freund, und ich kann mich einfach nicht dazu überwinden, dir das anzutun. Was also soll ich tun?«
»Widme es doch irgendeinem erfundenen Burschen, jemandem, den du dir einfallen läßt.«
»Ein großartiger Vorschlag!« rief Hurtha aus. Er wandte sich an einen der Flüchtlinge. »Entschuldigung. Wie ist dein Name?«
»Gnieus Sorissius aus Brundisium.«
»Vielen Dank.« Hurtha wandte sich wieder mir zu. »Ich widme das Gedicht Gnieus Sorissius aus Brundisium.«
»Was?« rief Gnieus Sorissius.
»Freu dich«, sagte Hurtha. »Du hast gerade Unsterblichkeit erlangt. Jetzt kannst du sterben.«
»Wie bitte?« fragte Gnieus Sorissius aufgeregt. Schließlich trug Hurtha eine große Axt.
»Aber was ist, wenn du dein Gedicht verwirfst, wenn du wie so oft zu dem Schluß kommst, daß es deinen unglaublich hohen Ansprüchen nicht genügt. Oder jemand schlägt dir so heftig auf den Kopf, daß du es einfach vergißt. So etwas geschieht öfter.«
»Ich verstehe, was du meinst«, erwiderte Hurtha ernst. »Dann würde ich dem armen Gnieus seinen Platz in der Geschichte nehmen.«
»Stimmt. Es ist nicht richtig, ihn auf diese Weise so sehr von dir abhängig zu machen. Stell dir nur vor, er hält sich für unsterblich und führt ein leichtsinniges Leben, fürchtet nichts, geht unbekümmert unkluge Wagnisse ein und erleidet dadurch schwerwiegende, unglückliche Niederlagen?«
Hurtha schüttelte den Kopf. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Du würdest dich schrecklich verantwortlich fühlen.«
»Stimmt. Ich bin ein Bursche mit einem empfindlichen Gewissen.«
»Oder sein Leben wäre von Unbehagen geprägt; er weiß nicht, ob du dein Gedicht behalten hast oder nicht, also weiß er auch nicht, ob er nun unsterblich ist oder nicht.«
»Das ist wahr«, stöhnte Hurtha. »Was soll ich nur tun?«
»Dieses Gedicht über Kerle, die verschlafen – handelt es sich dabei um die Verse, die du die letzten zehn Ehn vorgetragen hast?« erkundigte sich Gnieus.
»Ja, allerdings.«
»Ich stehe gewöhnlich jeden Morgen zur vierten Ahn auf.«
»Zur vierten Ahn!« rief Hurtha entsetzt. »Das ist aber ziemlich früh.«
»Leute, die länger unter den Fellen bleiben, sind meiner Meinung nach nichts weiter als faule Sleen«, fauchte der Mann, der ziemlich schlechte Laune zu haben schien. Vermutlich war er noch immer verärgert darüber, daß man ihn mit wenig mehr als mit dem Gewand auf dem Leib aus Torcodino vertrieben hatte.
Hurtha schauderte. »Ich fürchte, ich kann dir das Gedicht nicht widmen«, sagte er. »Du stehst einfach zu früh auf.«
»Das ist auch gut so, denn für Gedichte, dir man mir widmet, verlange ich ein Entgelt.«
»Was?« rief Hurtha.
Dieser Gnieus gefiel mir. Er war kein übler Kerl für jemanden, der aus Brundisium kam.
»Einen Silbertarsk«, knurrte er.
»Das ist sehr teuer«, jammerte Hurtha.
»Das verlange ich aber!«
»Haben wir einen Silbertarsk?« fragte Hurtha.
»Du willst eine deiner unbezahlbaren Widmungen für Geld verkaufen?« fragte ich.
»Niemals!« erklärte Hurtha entschlossen.
Das war knapp gewesen. Ich hatte einen Silbertarsk gerettet.
Gnieus Sorissius beschleunigte seine Schritte und tauchte in der Menge unter.
»Welch ein Schurke!« knurrte Hurtha ihm hinterher.
»Da hast du recht«, gab ich zu. Dabei wünschte ich mir, ich könnte meinen großen Freund so mühelos lenken, wie es Gnieus Sorissius geschafft hatte, selbst wenn er aus Brundisium kam. Vielleicht hatte er ja schon früher mit den Dichtern der Alar zu tun gehabt.
»Vielleicht sollte ich das Gedicht doch dir widmen«, meinte Hurtha.
»Wir haben das Ende des Lagers erreicht«, sagte ich. Wir blieben stehen und blickten zurück. Das Lager bot ein prächtiges Bild. In der Ferne zeichnete sich Torcodino am Himmel ab.
»Ich glaube, ich sollte ein Gedicht schaffen, eine stimmungsvolle Ode«, sagte Hurtha.
»Und was ist mit dem Werk über Leute, die verschlafen?«
»Das werde ich wohl vernichten«, antwortete er. »Das Thema ist so gewöhnlich, vielleicht sogar meiner Fähigkeiten unwürdig. Würde es dich sehr stören?«
»Nein. Außerdem wäre damit das Problem mit der Widmung gelöst.«
»Allerdings.« Er schwieg für kurze Zeit. »Da ich uns einen Silbertarsk gespart habe – hättest du die Güte, ihn mir zu geben? Du weißt schon, alles teilen, wie immer.«
Alar sind in Mathematik nicht besonders bewandert, dafür sind sie aber meistens groß und furchteinflößend. Ich gab ihm das Geld.
»Danke. Laß uns weitergehen.«
»Warte mal«, sagte ich. »Ist dir an dem Lager nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Es ist sehr schön«, sagte Hurtha.
»Ich meine etwas anderes.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Wir haben das Lager gerade verlassen.«
»Und?«
»Hier gibt es kein Schanzwerk, keine Verteidigungsgräben, nichts, um das Lager gegen einen Angriff von hinten zu schützen.«
»Bemerkenswert«, sagte Hurtha.
»Offenbar haben die Cosianer keinen Anlaß, die Ankunft eines Entsatzheeres aus Ar zu fürchten.«
»Das ist doch sehr seltsam, findest du nicht?«
»Ich finde es sehr bedenklich«, sagte ich. »Ich verstehe es nicht. Es ist doch eine ganz normale militärische Sicherheitsvorkehrung.«
»Wieso sind sie sich so sicher, daß Ar dem belagerten Torcodino nicht zur Hilfe kommt?« fragte der Alar.
»Ich weiß es nicht.« Wie so vieles andere in den letzten Wochen fand ich auch diese Einzelheit äußerst beunruhigend. Es schien eine weitere Abweichung von den militärischen Gepflogenheiten zu sein, gleichermaßen unerklärlich wie das Fehlen befestigter Lager oder die ohne Geleitschutz reisenden Nachschubzüge. Zusammengenommen nahmen diese Beobachtungen alarmierende Ausmaße an.
»Wie läßt sich das erklären?« fragte Hurtha.
»Ich weiß es nicht. Aber ich habe ein schlechtes Gefühl dabei.«
»Wir sollten weitergehen«, schlug einer der Männer vor, die mit uns stehengeblieben waren. »Wenn man uns hier erwischt, könnte man uns für Spione halten.«
Er hatte recht. Wir setzten den Weg fort. »Das ist die Schatzstraße«, erklärte ich und zeigte auf eine schmale Straße in der Ferne. »An ihrem Ende liegt Ar.«
Wir gingen langsam auf die Straße zu. Die meisten der Flüchtlinge hatten sie bereits erreicht oder hielten sich in ihrer Nähe auf. In meiner Schwertscheide ruhten die Passierscheine und die Briefe, die mir der Hauptmann überreicht hatte, Torcodinos neuer Beherrscher. Die Briefe trugen seine Unterschrift. Man konnte sie mühelos entziffern. ›Dietrich von Tarnburg.‹ Mein Blick fiel auf den kleinen Kerl mit dem Schnurrbart und den schmalen Augen. Anscheinend hinkte er etwas hinterher. Zu diesem Zeitpunkt verschwendete ich keinen Gedanken daran.