19

»Wenn wir über den Hügel sind, könnt ihr Ar sehen!« rief der Kutscher.

Boabissia stand von der Sitzbank auf und trat an die Querstange des Passagierabteils. Sie umklammerte sie mit beiden Händen.

»Weg da, beiseite!« schrie der Kutscher Reisenden zu, die die Straße blockierten.

Die Sonne schien auf unserer linken Seite. Der Berg war steil. Einige Kutschen erklommen die Steigung. Niemand hielt auf dieser Seite an, sondern nur auf der anderen, wo man in Ruhe die Stadt sehen konnte.

Eine Frau mit einem Bündel auf dem Rücken geriet ins Stolpern, faßte wieder Tritt und eilte am Straßenrand entlang. Mehr als nur einer der Passagiere erhob sich von seinem Platz. Der Kutscher hielt auf dem Hügelkamm an. Der Anblick Ars war mir nicht neu. Er würde mich weniger bewegen als andere, die ihn das erste Mal genossen.

»Unglaublich!« sagte ein Mann.

»Wunderbar!« flüsterte ein anderer.

Ihre kindliche Begeisterung brachte mich zum Lächeln. Dann stand auch ich auf. Vier oder fünf Pasang vor uns erhoben sich die funkelnden Mauern des prächtigen Ar.

»Ich wußte gar nicht, wie groß diese Stadt ist«, sagte jemand.

»Da ist der Zentralzylinder!« rief ein anderer Reisender und streckte den Arm aus.

In der Ferne erstreckten sich die Stadtmauern, die es auf eine Höhe von hundert oder mehr Metern brachten. Sie waren nun weiß. Der neue Anstrich konnte nur aus der Zeit nach der Herrschaft Cernus’ des Thronräubers und der nachfolgenden Wiedereinsetzung Marlenus’, des Ubars aller Ubars, stammen. Sie anzusehen, fiel schwer, denn das Sonnenlicht verlieh ihr einen grellen Schein. Man sah das große Tor und die Viktel Aria, die zu ihm hinführende Hauptstraße. Bald würden auch wir auf ihr fahren. Innerhalb der mächtigen funkelnden Mauern erhoben sich Tausende von Gebäuden und ein wahrhafter Wald aufstrebender Türme unterschiedlicher Höhen und Farben. Wie ich wußte, wurden viele dieser Türme auf verschiedenen Ebenen durch ein Netzwerk erhabener Brücken miteinander verbunden. Aus dieser Entfernung erkannte man sie jedoch mit Ausnahme eines gelegentlichen Funkeins kaum.

»Ich glaube nicht, daß ich je so etwas Schönes gesehen habe«, sagte ein Mann.

Wir sahen auf die wohl großartigste Stadt des bekannten Gor.

»Ich hätte nie gedacht, daß Ar so aussieht!« murmelte ein anderer der Passagiere.

Ich erinnerte mich an das Große Tor. Ich erinnerte mich an die Horde des Pa-Kur. Ich hatte nichts vergessen: das Haus des Cernus, das Stadion der Tarns, den großen Tarn mit dem Namen Ubar des Himmels, die sich befehdenden Fraktionen und das Stadion der Klingen mit seinem blutigem Sand. Genausowenig wie ich die Straßen, die Bäder, die Läden, die edlen breiten Straßen mit ihren Springbrunnen oder die gewundenen schmalen Gassen der unteren Distrikte vergessen hatte, die – vom Sonnenlicht abgeschirmt – kaum breiter als ein dunkler Korridor waren.

»Das ist unglaublich!«

Ich blickte auf die Stadt nieder. An solchen Orten treffen die elementaren Bestandteile zusammen, die die Welt ausmachen. Hier gab es Armut und Reichtum; hier fand man seltene, kostbare Nischen der Kultur, die erstaunlichen, bewegenden Freuden der Kunst und Musik, die Wahrheiten des Theaters und der Literatur. Hier erhoben sich die Wahrzeichen der Architektur, die die Bedeutung des Menschen verkündeten; Symbole, die an Gebirge erinnerten und doch von Hand gefertigt waren. Hier fand man Eisen und Silber, Gold und Stahl, die Stühle der Finanzwelt und die Thronsessel der Macht. Ich betrachtete die funkelnde Stadt. Wie verblüffend sie mir doch erschien! Solche Orte wirkten wie Magneten auf den Menschen, sie riefen ihn wie wunderschöne Sirenen, sie lockten ihn in ihre außergewöhnlichen Wunder hinein, verhexten ihn mit Versprechen, die oftmals auf trügerische Weise ins Ohr geflüstert wurden. Sie waren die Symbole ganzer Rassen. Hier suchte man das Glück, gewann ganze Vermögen und verlor sie wieder; hier gab es Menschenmengen und Einsamkeit; der Erfolg schritt auf derselben Straße wie das Scheitern; auf ihren Plätzen drängelten sich Hoffnung neben Verzweiflung, und Bedeutung aß an derselben Tafel wie Sinnlosigkeit. An solchen Orten fand man das Beste und das Schlimmste, zu dem der Mensch fähig ist, hier kamen seine Vergangenheit und seine Zukunft, sein Schmerz und sein Vergnügen, seine Dunkelheit und sein Licht an einem Brennpunkt zusammen.

»Getränke, kalte Getränke!« rief eine Frau, die am Straßenrand einen Stand hatte und auf die Kutsche zukam. Auf der Hügelkuppe hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Es war ein Ort, an dem Kutschen, Fuhrwerke und Reisende häufig anhielten. Hier konnte man Geld verdienen. Die Frau schien den Anblick der Stadt nicht wahrzunehmen. Sie hatte ihn schon Tausende von Malen gesehen. Ihr Blick war auf mögliche Kundschaft gerichtet.

»Möchtest du etwas zu trinken?« fragte ich Boabissia.

»Gern«, erwiderte sie.

Ich kaufte ihr für ein Tarskstück Larmasaft.

»Ist er kühl?«

»Ja.« Der Morgen war heiß.

Vermutlich lagerte man den Saft über Nacht in Amphoren, die bis zum Rand in die kühle Erde eingegraben wurden. Nach Gor verschleppte Erdenmädchen begreifen oft nicht, warum so viele dieser mit zwei Griffen und einem flachen Hals versehenen Behälter einen so schmalen zugespitzten Fuß besitzen, da man sie nicht auf diesem Fuß abstellen kann. Sie wissen eben noch nicht, daß diese Behälter gar nicht zum aufrechten Stehen konstruiert sind. Man versenkt sie in einem Lagerloch, wo ihr Inhalt kühl bleibt. Der spitze Fuß bohrt sich in die weiche Erde am Boden des Erdlochs.

»Brot, Fleisch!« rief ein Mann und trat ebenfalls an die Kutsche heran. Einige von uns bedienten sich. Ich kaufte ein paar Stücke Sa-Tarna-Brot und Streifen getrocknetes Tarskfleisch, aß davon und gab den Rest an Boabissia und Hurtha weiter. Dann begab ich mich an das Kutschenende und gab Feiqa etwas zu essen. Allerdings erlaubte ich ihr nicht, die Speisen in die Hand zu nehmen, sondern reichte sie zwischen den dicken Holzstäben hindurch, hinter denen sie beim Gepäck kniete, und fütterte sie. »Danke, Herr«, sagte sie.

Ich ging zurück. Einige der Passagiere waren ausgestiegen.

Ich sah wieder zu den stolzen Mauern des prächtigen Ar hinüber, die in der Ferne funkelten.

»Ich kann es nicht erwarten, mein Erbe einzufordern«, sagte Boabissia.

Ich nickte und aß auf.

»Wir wollen weiter!« rief der Kutscher den Männern zu, die ausgestiegen waren.

Ich richtete den Blick auf die Stadt. Von hier aus sah sie wunderschön aus. Doch ich wußte, daß irgendwo dort der Verrat lauerte, vielleicht in den dichtbevölkerten Vierteln, aus denen der Mob wie eine Flutwelle hervorbrechen konnte, oder in den abgeschirmten Höfen und Gärten, wo die edlen Ladies den neusten Klatsch austauschten, während sie Nektar tranken und mit auserlesenen Köstlichkeiten spielten, die ihnen von Seidensklaven serviert wurden. Vielleicht lauerte er auch in den Häusern oder Türmen, oder auf den Straßen oder in den großen Bädern. Irgendwo hinter den Mauern warteten die Verräter auf die Stunde zum Zuschlagen, wie Schlangen, die zusammengerollt in der Finsternis der Korruption und geheimen Zusammenkünfte lauerten.

»Ein schöner Anblick«, sagte ein Passagier, der die Kutsche bestieg und sich kurz neben mich stellte.

»Ja, das ist es«, erwiderte ich.

Von unserem Standort aus sahen wir weder Schmutz noch Verbrechen, Armut oder Hunger. Wir entdeckten weder Schmerz, Elend oder Habgier. Doch trotz aller dieser Dinge, die die Stadt ihren Einwohnern zufügt, ist sie beeindruckend. Wie kostbar muß sie sein, daß so viele Menschen bereit sind, ihren Preis zu bezahlen. Ich fragte mich, warum das so war, ich, ein Reisender und Soldat, der sich mehr auf den aufgewühlten Wellen des Meeres und den sturmumtosten Feldern zu Hause fühlte als auf den Straßen und Plätzen. Vielleicht lag es daran, daß die Stadt voller Leben ist. In ihrer Nähe zu sein, von ihrem Leben berührt zu werden, ihre Zylinder als die ihren zu bezeichnen, ist für viele bereits Lohn genug.

Der letzte Passagier stieg ein.

Ich wandte den Blick nicht von der Stadt. Ja, dachte ich, es ist alles da, die Kultur, die verschlungene Poesie der Bauwerke, die unglaublichen Orte, wo einfache Ziegel, den Kopf hoch über den Wolken, zu sprechen und zu singen gelernt haben, was die Vorbeigehenden jedoch kaum verstehen. Hier findet man alles, Schmutz und Verbrechen, Eisen und Silber, Gold und Stahl, Parfüm und Seide. Hier findet man Liebe und Lust, Herrschaft und Unterwerfung, die Besitzenden und jene, die hilfloses Eigentum sind; hier findet man Ränkespiel und Habgier, Ehre und Anstand, gebrochene Versprechen und Verrat; die Starken und die Schwachen. Hier findet man die Festungen des Menschen, mögen sie auch schmutzig, übervölkert und zerbrechlich sein. Sie sind Schlösser und Kerker, Arenen und Plätze zugleich; sie sind die Städte, sie sind die Zitadellen der Zivilisation.

Der Kutscher zog an den Zügeln und trieb seinen Tharlarion an.

Ich kehrte zu meinem Sitzplatz zurück.

»Kennst du Ar?« fragte der Mann, der neben mir saß.

»Ja.«

»Dann ist dieser Anblick für dich nicht neu.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Du mußt mir verzeihen, aber ich fand ihn erstaunlich.«

»Das geschieht oft beim ersten Mal«, sagte ich.

Die Kutsche fuhr den Hügel hinunter. Die eisenbeschlagenen schmalen Reifen knirschten auf der Pflasterstraße. Ich beobachtete, wie die Mauern Ars immer näher kamen.

Загрузка...