2

Ich sah auf; Feiqa klammerte sich stöhnend an mir fest. Ich stieß sie von mir fort, und sie wimmerte enttäuscht. Dann griff ich in der Dunkelheit nach meinem Messer und erhob mich. Ich stand hinter einem noch intakten Stück Wand. Der tiefergelegte kreisrunde Fußboden, den man aus der Erde gegraben hatte, war festgetreten und mit Steinfliesen ausgelegt worden. Die Wand war Teil einer gekalkten Mauer, die nur noch aus angeschwärzten Trümmern bestand. Hinter dem zerklüfteten Rand schimmerten die Monde am Nachthimmel. Zusammengerollte dunkle Blätter flogen vorbei; von meinem Standpunkt aus hörte ich das Flüstern weiterer Blätter. Der Wind stieß sie auf dem kleinen Versammlungsplatz zwischen den Hütten hin und her, trockenen, zerbrechlichen Flüchtlingen gleich.

Wir hatten unser Lager hier aufgeschlagen, in einer der verbrannten, dachlosen, halbzerfallenen Ruinen. Hier fanden wir Schutz vor dem Wind. Das Dorf war vermutlich verlassen worden – dem Fehlen der Haushaltsutensilien und Möbel nach zu urteilen lange bevor man es angezündet hatte. Wie die meisten goreanischen Dörfer lag es im Mittelpunkt mehrerer Felder; es bildete die Nabe, und die Felder gingen wie die Speichen eines Rades von ihm aus. Die meisten goreanischen Bauern leben in solchen Dörfern, von denen viele von einer Palisade umgeben sind. Morgens verlassen sie ihre Hütten und bearbeiten die Felder, um nach dem Tagwerk zurückzukehren. Die Felder dieses Dorfes lagen genau wie die anderen der Gegend brach. Sie boten einen traurigen, verlassenen Anblick. Heere waren durchmarschiert.

»Ist da jemand?« fragte eine Stimme. Eine Frauenstimme.

Ich gab keine Antwort, sondern lauschte nur.

»Wer ist da?« Die Stimme klang schwach und erschöpft. Das Wimmern eines Kindes ertönte.

Ich rührte mich nicht.

»Wer ist da?« bettelte die Frau.

Rückwärtsgehend bewegte ich mich in den Schatten auf die Mitte der Hütte zu. Langsame Bewegungen machen auf sehr grundsätzliche Weise deutlich, daß man nichts Böses im Schilde führt. Zugegeben, manchmal mißbrauchen Raubtiere wie der Larl dieses Signal; jagen sie beispielsweise den Tabuk, verschleiern sie damit ihre Absichten. Schnellere Bewegungen rufen oftmals Abwehrreaktionen hervor. Indem ich mich nun rückwärts bewegte, bewies ich der Gestalt im Türeingang, daß ich keine Bedrohung darstellte, davon abgesehen gewann ich so mehr Raum. In der Mitte der Hütte konnte mich die Frau auch besser sehen, eine weitere Maßnahme, die Mißtrauen besänftigte. Andererseits konnte ich von dieser Position aus meine Waffen besser einsetzen. Solche Dinge geschehen auf einer instinktiven Ebene; auf jeden Fall erfordern sie kaum bewußtes Nachdenken. Man neigt dazu, sie als normal und selbstverständlich anzusehen. Es kann jedoch lohnend sein, gelegentlich über den möglichen Ursprung solch vertrauter und für selbstverständlich gehaltener Verhaltensweisen nachzudenken. Es ist durchaus nicht unmöglich, daß sie durch das Prinzip der Auslese entstanden sind. Es ist eine Tatsache, daß man sie – oder zumindest ihre Entsprechungen – im ganzen Tierreich findet.

Die kleine Gestalt stand unmittelbar vor der einstigen Türschwelle der Hütte. Obwohl die Tür nun fehlte, war sie ganz selbstverständlich dorthingegangen, als wäre es eine vertraute Handlung. Sie machte einen verlorenen und müden Eindruck. Sie hielt etwas in den Armen.

»Bist du ein Räuber?« fragte sie.

»Nein.«

»Es ist eine freie Frau«, flüsterte Feiqa, die auf ihrer Decke kniete.

»Bedeck deine Blöße«, befahl ich. Feiqa zog sich die kurze grobe Tunika über.

»Das ist mein Haus«, sagte die Frau.

»Wünschst du, daß wir gehen?« fragte ich.

»Habt ihr etwas zu essen?«

»Ein wenig«, beantwortete ich die Frage. »Bist du hungrig?«

»Nein.«

»Vielleicht hat das Kind Hunger«, meinte ich.

»Nein«, lautete die Antwort. »Wir haben genug.«

Ich schwieg.

»Ich bin eine freie Frau«, sagte sie plötzlich auf mitleiderregende Weise.

»Wir haben zu essen«, sagte ich. »Wir haben dein Haus benutzt. Erlaub uns, es mit dir zu teilen.«

»Oh, ich habe bei dem Nachschubzug gebettelt«, schluchzte sie plötzlich. »Das ist nichts Neues für mich! Ich habe gebettelt! Für einen Kanten Brot habe ich auf den Knien gelegen! Ich habe mich mit anderen Frauen um den Abfall am Straßenrand geschlagen.«

»In deinem eigenen Haus solltest du nicht betteln«, sagte ich.

Sie brach in Tränen aus, und das kleine Kind in ihren Armen fing an zu wimmern.

Ich ging ganz langsam auf sie zu und zog am Kopf des Kindes das Tuch beiseite, in das es eingehüllt war. Seine Augen schienen sehr groß zu sein. Das Gesicht war schmutzig.

»Hunderte von uns folgen den Nachschubkolonnen«, sagte sie. »In diesen Zeiten können nur Soldaten überleben.«

»Die Streitkräfte Ars werden in diesem Augenblick zusammengezogen, um die Invasoren zu vertreiben. Die Soldaten von Cos und ihre Söldnerkontingente werden gegen die geordneten Schlachtreihen von Ar nichts ausrichten können, gleichgültig, wie zahlreich sie auch sein mögen.«

»Mein Kind hat Hunger«, sagte sie. »Was kümmern mich die Banner von Ar oder Cos?«

»Hast du einen Gefährten?«

»Ich weiß nicht, ob er noch lebt.«

»Wo sind die Männer?«

»Fort«, sagte sie. »Geflohen, vertrieben, getötet. Viele wurden ins Heer gepreßt. Sie sind fort, alle sind fort.«

»Was ist hier geschehen?«

»Es waren Soldaten. Sie kamen auf der Suche nach Lebensmitteln und Männern. Sie haben uns alles weggenommen. Dann haben sie das Dorf niedergebrannt.«

Ich nickte. Vermutlich wären die Dinge nicht viel anders verlaufen, wären es Soldaten aus Ar gewesen.

»Möchtest du die Nacht in meinem Haus verbringen?« fragte sie.

»Ja.«

Ich sah zu Feiqa, die in den Schatten kniete. Sie hatte die Tunika angezogen. Zusätzlich hatte sie sich in die Decke gehüllt. »Stock das Feuer auf!« Ich hatte noch nicht ausgesprochen, als sie über die Steinfliesen zu der Asche des Feuers kroch und mit einem Stock darin herumstocherte, auf der Suche nach versteckt glühenden Scheiten.

»Du kannst nur ein Räuber sein«, sagte die Frau.

»Nein.«

»Dann bist du ein Deserteur«, sagte sie. »Es wäre dein Tod, wenn man dich findet.«

»Nein, ich bin auch kein Deserteur.«

»Was bist du dann?«

»Ein Reisender.«

»Welcher Kaste gehörst du an?«

»Die Farbe meiner Kaste ist das Scharlachrot.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, meinte sie. »Wer außer einem solchen Mann kann in solchen Zeiten überleben?«

Aus meinem Gepäck holte ich einen Sack mit Brot und gab ihr ein Stück, aus dem verschnürten Ledertuch nahm ich ein papierdünnes Stück Trockenfleisch.

»Hier, hier«, summte sie und schob dem Kind kleine Brotstücke in den Mund.

»Ich habe Wasser«, sagte ich, »aber keine Brühe oder Suppe.«

»Die Gräben am Straßenrand sind voller Wasser«, sagte sie. »Hier, mein Kleiner.«

»Warum bist du zurückgekommen?« fragte ich.

»Ich habe gehört, daß noch mehr Wagen kommen sollen. Vielleicht folgen ihnen ja weniger Menschen.«

»Du bist zurückgekommen, weil du das Dorf wiedersehen wolltest«, dachte ich laut nach. »Vielleicht wolltest du nachsehen, ob einige der Männer zurückgekehrt sind.«

»Sie sind fort.«

»Warum bist du zurückgekommen?«

»Ich habe Wurzeln gesucht«, sagte sie.

»Hast du welche gefunden?«

Sie warf mir einen raschen, verstohlenen Blick zu. »Nein.«

»Nimm noch ein Stück Brot«, bot ich an.

Sie zögerte.

»Es ist ein Geschenk, wie deine Gastfreundschaft«, sagte ich. »Zwischen freien Menschen. Nimmst du es nicht an, beschämst du mich.«

»Du bist freundlich«, sagte sie. »Du verzichtest darauf, mich in meinem eigenen Haus betteln zu lassen.«

»Iß.«

Feiqa hatte es mittlerweile geschafft, das Feuer wieder zum Brennen zu bringen. Es flackerte fröhlich und beständig. Sie kniete daneben und kümmerte sich darum, in ihrer knappen rauhen Tunika, mit nackten Knien auf den schmutzigen Steinfliesen.

»Sie trägt den Kragen!« rief die Frau plötzlich.

Feiqa zuckte zurück, unwillkürlich fuhr ihre Hand zum Kragen. Auf ihrem Oberschenkel prangte mittlerweile ein Brandzeichen, das gewöhnliche Kajira-Zeichen, hoch oben auf ihrem linken Oberschenkel, unmittelbar unter der Hüfte. Ich hatte es zwei Tage nach unserem Aufbruch von Samnium anbringen lassen, auf dem Markt von Semris, der für seinen Tarskhandel berühmt ist. Es war im Haus des Sklavenhändlers Teibars geschehen. Er macht hervorragende Brandzeichen, und seine Preise sind angemessen. Nun konnte keiner mehr die einstige Lady Charlotte aus Samnium für eine freie Frau halten.

Die freie Frau starrte Feiqa entsetzt an.

»Auf den Bauch«, befahl ich.

Feiqa warf sich sofort neben dem Feuer auf den Bauch, mitten auf die schmutzigen Fliesen.

»Ich werde keine Sklavin in meinem Haus dulden«, sagte die freie Frau.

Feiqa zitterte.

»Ich kenne deine Sorte!« rief die freie Frau. »Ich sehe sie manchmal auf den Fuhrwerken, schlank, angekettet und wohlgenährt, während freie Frauen verhungern!«

»Es ist selbstverständlich, daß man sich um solche Frauen kümmert«, sagte ich. »Sie sind Besitz. Sie stellen eine Art Reichtum unter Beweis. Es ist so natürlich, sich um sie kümmern, als kümmerte man sich um Tharlarion oder Tarsk.«

»Du wirst nicht in meinem Haus bleiben!« schrie die Frau Feiqa an. »Ich dulde keine Schlampen in meinem Haus!«

Feiqa ballte die kleinen Fäuste, die neben ihrem Kopf lagen. Ich sah, daß ihr das eben Gehörte nicht gefiel. In Samnium war sie eine reiche Frau gewesen; ihre Familie hatte auf der Straße der Münzen Einfluß gehabt. Zweifellos hatte sie sich den armen Bäuerinnen tausendfach überlegen gefühlt, die in ihren gebleichten wollenen Gewändern aus den Dörfern kamen und Säcke und Körbe voller Getreide und landwirtschaftlicher Erzeugnissen auf den Stadtmärkten verkauften. Ihre geballten Fäuste waren vermutlich ein Zeichen, daß sie noch immer nicht vollständig begriffen hatte, daß dies nun alles hinter ihr lag.

»Miststück!« schrie die freie Frau.

Feiqa blickte mit Tränen in den Augen wütend auf und stemmte sich auf den Handflächen ein paar Zentimeter von den Fliesen hoch. »Einst war ich genauso frei wie du!«

»Aua!« rief sie plötzlich voller Schmerz, als ich sie an den Haaren in eine kniende Stellung hochriß.

»Das ist Vergangenheit!« sagte ich wütend. Ich konnte nicht glauben, daß sie so ungehorsam war.

»Ja, Herr!« schluchzte sie. »Vergib mir!« flehte sie die freie Frau an. »Vergib mir!«

»Sprich sie als Herrin an«, sagte ich. Goreanische Sklaven sprechen freie Frauen gewöhnlich als Herrin und freie Männern als Herr an!

»Ich bitte dich um Verzeihung, Herrin!« schluchzte das Mädchen. »Vergib mir, bitte, ich flehe dich an!«

»Sie trägt den Kragen noch nicht lange«, entschuldigte ich mich bei der freien Frau.

»Bereust du dein Verhalten?«

»Ja, ja, ja, Herrin!« weinte Feiqa mit gesenktem Kopf, in völligem Gehorsam gegenüber einer Frau, die ihr tausendfach, nein, sogar unendlich überlegen war. Die freie Bäuerin.

»Ich verzeihe dir«, sagte die freie Frau.

»Danke, Herrin!« Feiqa zitterte am ganzen Körper und schluchzte hemmungslos.

»Hast du etwas daraus gelernt, Feiqa?« fragte ich.

»Ja, Herr.«

»Was denn?«

»Daß ich eine Sklavin bin.«

»Vergiß das nie, Feiqa.«

»Nein, Herr«, stieß sie inbrünstig hervor.

»Willst du die Nacht hier verbringen?« fragte die freie Frau.

»Mit deiner Erlaubnis?«

»Du bist hier willkommen«, sagte sie. »Aber sie muß draußen schlafen.«

Ich blickte auf Feiqa hinab. Sie zitterte noch immer am ganzen Leib. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie sich an ihre neuen Lebensumstände gewöhnt hatte.

»Ich dulde keine Sklaven in meinem Haus.«

Ich mußte lächeln. Die ehemalige reiche junge Dame aus Samnium war nun eine Sklavin, nicht mehr und nicht weniger. Aber ich mußte auch über die freie Frau lächeln, über ihre Empörung bei dem Gedanken, eine Sklavin im Haus zu haben. Es belustigte mich. Es ist auf Gor ganz natürlich, Sklaven im Haus zu halten. Je größer der Besitz und Reichtum eines Goreaners, desto wahrscheinlicher ist es, daß er sich Sklaven hält. In den Häusern der Administratoren, den Domizilen reicher Kaufleute oder den Palästen der Ubar findet man viele Sklavinnen, zumeist sogar ausgesprochen hübsche Exemplare, denn dort kann man sie sich leisten.

»Geh hinaus!« befahl ich Feiqa.

»Ja, Herr.«

»Möchtest du noch etwas zu essen?« fragte ich die Bäuerin. »Ich habe noch etwas.«

Sie sah mich an.

»Bitte.«

Zögernd nahm sie noch zwei Stücke gelbes Sa-Tarna-Brot. Ich stockte das Feuer auf.

»Hier«, sagte sie verlegen und zog ein paar Wurzeln und zwei Suls aus dem Gewand. Sie waren frisch ausgegraben; an ihnen klebte noch Erde. Die Frau legte sie genau zwischen uns auf den Boden. Ich setzte mich im Schneidersitz hin, sie kniete gegenüber, mit geschlossenen Beinen, wie es sich für eine freie Goreanerin gehörte. Die Wurzeln und die beiden Suls lagen zwischen uns.

»Sagtest du nicht, du hättest keine Wurzeln gefunden?« Ich lächelte.

»Es waren noch welche im Garten«, erwiderte sie. »Das fiel mir wieder ein, darum bin ich zurückgekommen. Aber es war kaum noch etwas da. Anscheinend sind mir andere zuvorgekommen. Diese haben sie übersehen. Es ist nichts Großartiges. Wir haben die Erträge dieses Gartens als Tarskfutter verwendet.«

»Es sind gute Wurzeln«, sagte ich. »Und auch ausgezeichnete Suls.«

»Wir durchstöbern sogar die Futtertröge der Tarsk«, sagte sie müde. »Graben im kalten Boden der Ställe. Die Tarsk sind weg, aber manchmal findet man Futterreste, die zwischen die Spalten gefallen sind oder die die Tiere übersehen und in den Schlamm getreten haben. Wir lernen viele Schliche in dieser Zeit.«

Ich sagte: »Ich möchte dein Essen nicht.«

»Willst du mich beschämen?«

»Nein.«

»Teile meinen Topf.«

»Vielen Dank.« Ich nahm eine Wurzel, brach ein Stück davon ab und säuberte sie vom Schmutz. Ich biß hinein. »Gut«, sagte ich, beließ es jedoch bei dem Bissen. Ich wollte ihr Essen nicht. Ich hatte mich so verhalten, wie es die Situation erforderte, hatte sie als Herrin des Hauses anerkannt, ihr die nötige Ehre und Respekt erwiesen, mit ihr ›den Topf geteilt‹.

Sie betrachte das Kind. »Der kleine Andar ist eingeschlafen.«

Ich nickte.

»Deine Sklavin darf hier drinnen schlafen.«

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