14

»Es sind neue Tote«, stellte ich fest.

»Natürlich«, erwiderte Mincon.

Wir standen am Fuß der niedrigen breiten Stufen, die zum Semnium hinaufführten, der Halle des Hohen Rates. Das Gebäude würde den neuen Herren Torcodinos vermutlich als Hauptquartier dienen. Die Treppe erstreckte sich über die ganze Länge des Säulenganges.

»Wer sind sie?«

Etwa zwei- bis dreihundert Gehängte baumelten jetzt an den geteerten Seilen entlang der Straße des Adminius in der Nähe des Semniums.

»Überläufer, Verräter, Angehörige der cosischen Partei, Verräter des Bündnisses mit Ar und dergleichen«, erklärte Mincon.

»So, wie die anderen Anhänger Ars waren?« hakte ich nach.

»Vielleicht«, antwortete Mincon ausweichend.

»Einige der Männer sind möglicherweise für die Hinrichtung derjenigen verantwortlich, die zuvor dort gehangen haben«, sagte ich und sah mir die bedrückenden Reihen der Gehängten an.

»Natürlich.«

»Der Wind in Torcodino hat sich gewendet«, meinte ich.

»Ja«, sagte Mincon.

»Also steht dein Hauptmann im Sold von Ar.«

»Darüber mußt du dir selbst ein Urteil bilden. Bald.«

»Ich?«

»Ja.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Folgt mir!« schlug er einfach vor. Unsere kleine Gruppe folgte ihm die Stufen zum Semnium hinauf. Ich blieb einmal kurz stehen und sah zu den gefangenen Frauen zurück. Viele von ihnen waren einflußreiche Persönlichkeiten gewesen. Die Frau, die der Soldat geschlagen hatte, war beispielsweise siegelberechtigte Schatzmeisterin des Gewürzrates von Torcodino gewesen. Wie ich es verstanden hatte, hatte sie den Einfluß ihrer Position dazu ausgenutzt, Cos zu unterstützen. Solche Neigungen findet man häufig bei Leuten, die ihr Vermögen mit Im- und Export gemacht haben, die die Ausbeutung fremder Märkte betreiben, die allgemein mit dem Überseehandel auf dem Thassa zu tun haben. Das ist verständlich. Die Seestreitkräfte von Tyros und Cos beherrschen die grünen Wellen des funkelnden Thassa. Sie kontrollieren die meisten der bevorzugten ozeanischen Handelskorridore. Nur wenige Küsten können sich ihren Patrouillen entziehen, nur wenige Hafenstädte ihren Blockaden widerstehen. Die Frau war eine Bürgerin Torcodinos gewesen, und Torcodino hatte Ar den Treueid geleistet. Sie hatte – aus welchem Grund auch immer, vermutlich Opportunismus oder Habgier – ihr Gelübde an ihren Heimstein gebrochen. Bei einem Mann kann das ein Kapitalverbrechen sein. Nur weil sie eine Frau war, war sie nicht auf der Verräterliste gelandet, sondern nur auf der Gefangenenliste. Ihr Geschlecht hatte sie gerettet. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte man sie gehängt.

Hinter dem Eingang zum Semnium erstreckte sich eine große Halle mit Marmorboden. Hier nahmen zahlreiche Gänge und Treppen ihren Anfang. Die Wände waren mit Mosaiken geschmückt, Szenen aus dem Leben der Bürger, Zusammenkünfte und Prozessionen. Ein Bild zeigte die Grundsteinlegung von Torcodinos Mauern, eine Handlung, die vermutlich vor mehr als siebenhundert Jahren stattgefunden hatte, als man die erste Mauer, die Legenden zufolge nur wenige Meter hoch war, zum Schutz des großen, sich ständig ausbreitenden Lagers am Schnittpunkt mehrerer Handelsrouten errichtet hatte. Mehrere Soldaten und Offiziere saßen an Tischen bei der Arbeit. An einer Seite befanden sich mehrere Reihen fest im Boden verankerter niedriger Marmorbänke. Hier warteten gewöhnlich Klienten und Beschwerdeführer mit ihren Anliegen und Petitionen. Hier warteten auch vorgeladene Zeugen, daß sie vor dem Rat ihre Aussage machen konnten.

»Hier bekommt man wohl die Passierscheine, habe ich recht?« fragte ich und betrachtete die Tische.

Mincon nickte und ging auf einen Wächter zu, der vor einem Durchgang zu den langen Korridoren auf Posten stand.

»Müssen wir uns für die Passierscheine nicht an einem der Tische anstellen?« fragte ich und blickte zurück.

»Nein.«

Wir folgten ihm in den Korridor. Offensichtlich war er hier bekannt.

»Wird die Stadt von hier aus regiert?«

»Ja, jedenfalls was die wichtigsten Dinge betrifft.«

»Torcodino steht doch jetzt unter Kriegsrecht«, meinte ich. »Warum wird es dann nicht vom Zentralzylinder oder dem Arsenal aus beherrscht?«

»Dieses Gebäude vermittelt den Anschein von Normalität«, sagte er. »Man könnte gewissermaßen glauben, daß eine Verwaltung durch die nächste ersetzt wurde.«

»Ich verstehe. Dein Hauptmann hat sich aber doch bestimmt im Zentralzylinder niedergelassen.«

»Nein, er führt seine Geschäfte in diesem Gebäude«, sagte Mincon, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.

Darauf gab es nichts zu erwidern. Ich hielt es jedoch für eine politisch kluge Entscheidung, zumal die Stadt zur Zeit nicht angegriffen wurde. Mir war schon seit Jahren bekannt, daß Dietrich von Tarnburg ein fähiger Söldnerführer und einer von Gors besten Soldaten war. Die Annalen oder Tagebücher, die ich gelesen hatte, hatten allein die Märsche und Feldzüge zum Thema gehabt, eine Würdigung seiner anderen Charakterzüge hatte ich vergeblich gesucht. So wie es aussah, war er nicht nur ein militärisches Genie, sondern auch ein großer Politiker. Vielleicht haben die beiden ja mehr gemeinsam, als allgemein angenommen wird. Territorium will nicht nur erobert, sondern auch gehalten werden.

»Man entfernt die Zivilisten aus der Stadt«, sagte ich. »Sie bekommen aber doch bestimmt keine Passierscheine.«

»Nein«, bestätigte Mincon.

»Aber wir brauchen deiner Meinung nach Papiere?«

»Bedenkt man, wo du hingehst, scheint es angebracht zu sein.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich habe gesehen, daß du mit dem Schwert umzugehen verstehst«, sagte er. »Und du stammst aus Port Kar.«

»Ich kenne mich etwas in der Schwertkunst aus. Und ich habe Besitz in Port Kar«, gab ich vorsichtig zu.

»Möglicherweise bist du sogar Mitglied der Scharlachroten Kaste.«

»Das könnte sein.«

»Port Kar befindet sich mit Cos im Krieg.«

Ich nickte.

»Wir sind da.« Wir standen vor einer hohen Tür. Mincon führte uns an den Wächtern vorbei in ein Empfangsgemach. Am anderen Ende des Raumes saß ein Offizier an einem Tisch; er wurde von zwei Wächtern beschützt. Hinter ihm und zu seiner Rechten befand sich jeweils eine Tür. Er saß so, daß man auf jeden Fall an seinem Schwertarm vorbei mußte.

»Man hätte uns einen einfachen Passierschein doch auch in der Halle ausstellen können«, meinte ich.

Mincon beugte sich zu dem Offizier vor, der ihn anscheinend kannte, und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Das denke ich auch«, sagte Hurtha, um dann hinzuzufügen: »Was auch immer das ist.« Er blickte sich mit dem in den Alar verwurzelten Mißtrauen gegen enge Räume und Bürokratie um. »Ich gehe davon aus, daß ich diesen Schein nicht lesen muß. Das wäre nämlich schwierig, da ich nicht lesen kann.«

»Du könntest es ja lernen«, erwiderte ich etwas gereizt.

»Was denn, in der kurzen Zeit, bis wir die Scheine bekommen?« fragte er ungläubig.

»Alar lesen nicht«, sagte Boabissia stolz. »Und wir sind Alar.«

»Ich bin ein Alar«, stellte Hurtha richtig.

»Zweifellos bekommen wir die Passierscheine von dem Burschen da«, vermutete ich und zeigte auf den Offizier, mit dem Mincon gerade sprach.

»Meine Axt wäre mein Passierschein«, sagte Hurtha, »wenn ich sie im Augenblick zur Hand hätte.«

Zu meiner Überraschung trat Mincon durch die Tür hinter dem Offizier.

»Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, was hier eigentlich vorgeht«, murmelte ich.

»Diese Erfahrung durfte ich auch schon öfter machen«, bemerkte Hurtha.

»Mincon verhält sich seltsam.«

»Was erwartest du? Er ist kein Alar.«

»Ich auch nicht.«

»Ich weiß«, lautete Hurthas Antwort.

»Das alles ergibt nur wenig Sinn.«

»Zivilisation ist eine verrückte Angelegenheit.«

»Vielleicht beflügelt dich das zu einem Gedicht.«

»Ich habe sogar schon zwei Stück geschaffen. Möchtest du sie hören?«

»Dafür ist jetzt keine Zeit.«

»Sie sind recht kurz«, sagte Hurtha. »Das eine hat nur fünfzig Zeilen.«

»Wenn es unbedingt sein muß.«

Hurtha räusperte sich. »In den Sälen von Torcodino, unter gehängten Knochen …«

»Du hast mehr als einhundert Zeilen gedichtet, während wir hier stehen?« fragte ich.

»Sogar noch viel mehr, aber ich habe vieles wieder verworfen, da es nicht meinen Ansprüchen genügte.« Er räusperte sich. »In den Sälen von Torcodino, unter gehängten, brüchigen Knochen …«

»Warte«, unterbrach ich ihn, »das ist nicht dieselbe Zeile.«

»Ich habe sie verbessert.«

In diesem Augenblick kam Mincon zurück. »Welche guten Neuigkeiten bringst du uns, Freund?« rief ich ihm entgegen.

»Bitte geh hinein«, bat er mich. »Ihr anderen wartet bitte hier.«

Wir sahen uns an.

»Bitte.«

»Also gut«, sagte ich ergeben.

»Möchtest du zwei meiner Gedichte hören?« fragte Hurtha.

»Natürlich«, erwiderte Mincon. Er war ein guter Freund. »Bara!« befahl er Tula.

»Bara!« befahl ich Feiqa. Die Sklavinnen legten sich sofort auf den Bauch, die Köpfe nach links gewandt, die Handgelenke im Rücken gekreuzt, die Fußgelenke übereinandergelegt. Es ist eine weitverbreitete Position zum Fesseln. Allerdings verzichteten wir darauf. Es genügte, daß sie die Position eingenommen hatten. Hurtha ließ die Seile zu Boden fallen. Nun hatte er die Hände zum Gestikulieren frei, ein wichtiges zusätzliches Element bei der Deklamation von Dichtkunst.

»Willst du zwei Gedichte hören?« fragte er den Offizier am Tisch.

»Was?«

Ich betrat das Schreibgemach.

Загрузка...