20

»Du kommst aus Torcodino?« fragte der Mann.

»Ja.«

»Von deiner Sorte sind Tausende in der Stadt«, sagte er. »Aus Torcodino und anderen Städten.«

Das stimmte. Ich hatte Ar noch nie so voller Menschen gesehen.

»Wir brauchen hier nicht noch mehr von euch Flüchtlingen!« keifte eine der Sulsverkäuferinnen auf dem Teibarmarkt.

»Wir suchen Unterkunft«, sagte ich.

»Das ist schwierig«, sagte der Mann. »Was soll ich dir sagen?« Er warf Feiqa einen Blick zu, die sofort den Kopf senkte. Sie kniete hinter mir, das Gepäck noch immer auf dem Rücken. Als wir den freien Mann angesprochen hatten, war sie sofort auf die Knie gegangen, wie es sich gehörte.

»Ihr könntet es bei den Insula im Süden versuchen, unterhalb des Tarnplazas.«

Insula waren mehrstöckige Mietskasernen.

»Im Anbar-Distrikt?« fragte ich skeptisch.

»Oder bei den Insula im Metellan-Viertel.«

»Und was liegt östlich der Straße des Zentralzylinders?«

»Da wäre noch der Trevelyan-Distrikt.«

»Das hört sich nett an«, sagte Boabissia.

»Da müßten wir hoffen, die Nacht lebendig zu überstehen«, sagte ich.

»Du kennst die Stadt?« fragte der Mann.

»Ich bin schon mal hiergewesen.«

»Ihr seid doch beide kräftige Burschen«, meinte er. »Ich bezweifle, daß euch jemand belästigen würde.«

»Sollte man uns belästigen, haben sie hoffentlich Geld dabei«, sagte Hurtha.

»Wir haben nicht viel, was sich zu stehlen lohnt«, sagte ich dem Mann.

»Ihr habt eine freie Frau dabei«, erwiderte er. »An gewissen Orten bringt einem das viel Geld ein.«

»Ich habe keine Angst«, sagte Boabissia.

»Ein tapferes Mädchen«, sagte er.

»Ich kann auf mich selbst aufpassen.«

»Nun gut, ihre Dummheit könnte den Preis drücken.«

»Ich bin nicht dumm!« rief Boabissia.

»Verzeih mir«, erwiderte der Mann aus Ar. »Deine Bemerkung hat mich auf den Gedanken gebracht.«

Boabissia starrte ihn wütend an.

Er erwiderte den Blick; es war einer jener Blicke, die eine Frau gegen ihren Willen ausziehen und jede Linie ihres nackten Körpers begutachten.

»Sieh mich nicht so an!« fauchte Boabissia. »Ich bin frei!«

Er dachte gar nicht daran, wegzuschauen. »Du trägst keinen Schleier«, stellte er fest.

»Ich bin eine Alar!«

»Nein«, sagte Hurtha, »sie ist keine Alar.«

»Ich habe beim Wagenvolk gelebt.«

»Das stimmt.«

Wie bereits erwähnt, hatte Boabissia nur wenig Ähnlichkeit mit einer typischen Alar. Sie schien eher eine der anschmiegsamen, schönen Stadtfrauen zu sein, die für gewöhnlich auf dem Sklavenmarkt enden.

»In welchem Distrikt könnten wir es versuchen?«

»Ich habe bereits mehrere vorgeschlagen«, sagte der Bürger.

»Ar ist eine große Stadt.«

»Und ihr wollt eine vernünftige Unterkunft.«

»Ja.«

»Und seid bereit, einen Silbertarsk pro Übernachtung zu bezahlen.«

»Nein.« Das konnten wir uns nicht leisten.

»Dann werdet ihr kaum etwas finden.«

»Ich danke dir für deine Zeit, Bürger«, sagte ich.

»Stimmt es, daß in der Nähe von Torcodino eine große cosische Streitmacht lagert?« fragte er.

Ich nickte.

»Haben sie die Stadt erobert?«

»Kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete ich.

»Aber die vielen Flüchtlinge!«

»Man hat sie aus der Stadt gewiesen, um die Verteidigung zu erleichtern.«

»Angeblich soll die Hauptstreitmacht von Cos auf Ar-Station vorrücken.«

»Das bezweifle ich.«

»Aber das ergäbe einen Sinn«, meinte der Bürger. »Die Cosianer wollen die Herrschaft über den Fluß und sein Einzugsgebiet erringen. Allein darum geht es. Und darum wird ihr Hauptvorstoß auch dort stattfinden. Vermutlich handelt es sich sowieso bloß um einen Raubzug.«

»Ar ist in Gefahr«, erklärte ich.

»Die würden es niemals wagen, sich uns in einer offenen Schlacht zu stellen.«

»Ar ist sogar in großer Gefahr.«

»Ar ist unbesiegbar«, erwiderte er.

»Die Hauptstreitmacht von Cos steht in der Nähe von Torcodino.«

»Hier wimmelt es nur so vor Gerüchten. Man weiß nicht, was man glauben soll.«

»Ich nehme einmal an, daß der Regent, der Hohe Rat und der Generalstab gut unterrichtet sind«, sagte ich.

»Zweifellos.«

»Wo ist Marlenus?«

»In den Voltai«, erwiderte der Bürger. »Auf einer Strafexpedition gegen Treve.« Das hatte ich auch schon gehört.

»Stimmt es eigentlich, daß er schon seit Monaten abwesend ist?«

»Ja.«

»Kommt dir das nicht seltsam vor?« fragte ich den Mann.

»Er tut, was er will«, erwiderte er. »Er ist der Ubar.«

»Stört es denn hier niemanden, daß er in möglicherweise gefährlichen Zeiten abwesend ist?«

»Gäbe es eine echte Gefahr, würde er schnell zurückkehren«, sagte der Bürger. »Er ist nicht zurückgekehrt. Also besteht auch keine echte Gefahr.«

»Bist du wirklich dieser Meinung?«

»Ja. Jeder unserer Jungs könnte es mit einem Dutzend Cosianern aufnehmen.«

»Ich bin der Meinung, Marlenus sollte zurückkehren. Vielleicht hat man in der Weite der Voltai den Kontakt zu ihm verloren.«

»Das wäre möglich«, meinte der Bürger. »Aber die Stadt braucht ihn nicht.«

»Ist der Ubar denn nicht beliebt?« wollte ich wissen.

»Er herrscht schon seit langer Zeit über Ar«, erklärte der Mann. »Vielleicht ist es an der Zeit für einen Wechsel.«

»Denken viele so?«

»Das hört man überall«, erwiderte er. »In den Tavernen, auf den Märkten, in den Bädern. Gnieus Lelius ist ein ausgezeichneter Regent. Marlenus ist zu kriegerisch. Die Stadt ist sicher. Wir werden nicht bedroht. Der Händel mit Cos interessiert uns nur am Rande.«

»Will Gnieus Lelius Ubar werden?«

»Nein. Dafür ist er zu bescheiden und demütig. Die Falten des purpurfarbenen Umhangs und die Last des Ubar-Medallions bedeuten ihm nichts. Er kümmert sich nur um eine reibungslose Regierung und um Frieden und Wohlstand.«

»Und du bist davon überzeugt, daß ihm Ars Wohl am Herzen liegt?«

»Aber natürlich.« Die Antwort beruhigte mich. Falls sich dieser Gnieus Lelius tatsächlich für das Wohl Ars einsetzte, mußte er handeln. Wenn er als Regent Fehler begangen hatte, dann lag das vermutlich an mangelnden Informationen, ungerechtfertigter Zuversicht oder an seiner Einfalt. So etwas findet man oft bei Idealisten, die von sanftem Gemüt, gedankenvoll und voller Vertrauen sind. Von Phrasen, Dichtungen und Träumen geblendet, sind sie davon überzeugt, daß sogar der wilde Larl im Innersten über ihre Güte verfügt. Sie nehmen die Realität einfach nicht wahr; wenn sie die Welt beschreiben sollen, wählen sie als Metapher eine Blume. Irgendwann entdecken diese Leute dann, daß sie in einer Welt harter Tatsachen leben; sie müssen voller Enttäuschung schließlich ihre Fehler einsehen, aber dann fahren sie die Ernte ihrer Dummheit ein und müssen zusehen, wie ihre Zivilisation untergeht, wie ihre Welt unter den scharfen Klingen der Macht und der Realität blutend fällt! Doch kann das der betroffenen Allgemeinheit ein Trost sein?

»Was ist mit Seremides, dem General?« fragte ich. »Hat er keine Absichten auf den Thron?«

»Undenkbar. Er ist so ergeben wie die Steine des Zentralzylinders.«

»Ich verstehe.« Meine Fragen beruhten natürlich nicht nur auf dem offensichtlichen Gedanken, daß der Mantel des Ubars für einen starken, ehrgeizigen Mann ein verlockendes Ziel darstellt, sondern vor allem auf der Tatsache, daß sich Ar in einer bedrohlichen Situation befand, ob es ihm nun bekannt war oder nicht. In solchen Zeiten ist es angesichts des Versagens und der Unfähigkeit ziviler Verwaltung schon öfter vorgekommen, daß Soldaten erkennen, was zu tun ist und um des blanken Überlebens willen die Macht ergreifen und versuchen, die nötige Disziplin und Ordnung durchzusetzen, ohne die die Katastrophe nicht abzuwenden wäre.

»Aber man erwartet doch sicher nicht, daß die Geschicke Ars auf unabsehbare Zeit von einer Regentschaft bestimmt werden.«

»Marlenus wird in Kürze zurückerwartet«, sagte der Bürger.

»Und angenommen, er kommt nicht? Was dann?«

»Da gibt es noch eine andere Möglichkeit«, meinte er. »Sogar eine recht bemerkenswerte.«

Ich sah ihn fragend an.

»Eine Ubara.«

»Eine Ubara?«

»Die Frau, die Marlenus’ Tochter war, bis er sie verstieß. Talena. Hast du je von ihr gehört?«

Ich nickte.

»Marlenus war sehr unzufrieden mit ihr. Irgendeine Geschichte in den Wäldern des Nordens. Er hat sie aus der Familie verstoßen, sie war nicht länger seine Tochter. Jahrelang hat sie zurückgezogen im Zentralzylinder gelebt. Jetzt, da Marlenus nicht da ist, trägt man sie dank der Großzügigkeit von Gnieus Lelius wieder in aller Öffentlichkeit in einer Sänfte durch die Straßen von Ar.«

»Das geschieht doch bestimmt nicht in Marlenus’ Sinn«, sagte ich.

Der Bürger zuckte mit den Schultern. »Marlenus ist nicht da.«

»Wie könnte sie Ubara werden?« fragte ich. »Marlenus hat sie verstoßen, sie ist nicht länger seine Tochter.«

»Ich bin kein Rechtsgelehrter«, sagte er. »Ich weiß es nicht.«

»Aber sie nennt doch bestimmt keinen Heimstein ihr eigen.«

»Gnieus Lelius hat ihr erlaubt, den Heimstein zu küssen. Es war eine öffentliche Zeremonie. Sie ist wieder Bürgerin von Ar.«

»Gnieus Lelius scheint ein großzügiger, ehrenhafter Bursche zu sein.«

»Er ist ein Patron der Künste«, sagte der Bürger. »Er hat Parks und Museen gestiftet. Auf diese Weise hat er die Eliten für sich gewonnen. Meine Stimme hat er, weil er verschiedenen Klassen ihre Schulden erließ. Das hat meine finanziellen Bürden beträchtlich erleichtert. Die unteren Kasten lieben ihn, weil er auf eigene Kosten Brot und Paga verteilen läßt und Spiele und Rennen finanziert. Außerdem hat er neue Feiertage eingeführt. Er hat das Leben in Ar angenehmer und leichter gemacht. Das Volk ist größtenteils auf seiner Seite.«

»Bist du davon überzeugt, daß ihm das Wohl von Ar am Herzen liegt?«

»Natürlich.«

»Ist es schwer, ihm einen Besuch abzustatten?«

»Man geht nicht einfach zum Zentralzylinder und klopft an seine Tür«, antwortete er.

»Das kann ich mir auch nicht vorstellen.«

»Aber Gnieus Lelius hat es sich zur Aufgabe gemacht, für das Volk erreichbar zu sein. Das ist einer der Gründe, warum er so beliebt ist.«

»Also werden Bürger zum Regenten vorgelassen und können ihn nicht nur aus der Ferne sehen, bei offiziellen Spielen oder Prozessionen?«

»Aber natürlich.«

Das hörte ich gern. Ich hatte eilige Briefe für Gnieus Lelius und Seremides. Irgendwie mußte es mir gelingen, sie ihnen auszuhändigen. Ich hatte befürchtet, dies könnte mit großen Schwierigkeiten verbunden sein; ich wollte diese Briefe auf keinen Fall irgendwelchen Untergebenen überlassen. Wem konnte man schon vertrauen? Davon abgesehen verspürte ich keine Lust, mir den Weg durch die Korridore des Zentralzylinders freizukämpfen, nur um eine Privataudienz zu erringen.

»Man kann also tatsächlich mit ihm sprechen?« vergewisserte ich mich.

»Aber sicher.«

»Wann findet die nächste öffentliche Audienz statt?«

»In zwei Tagen.«

»Ist da Gerichtstag?«

»Viel besser«, sagte der Bürger. »Das ist einer der neuen Feiertage, der Tag der Großzügigkeit und der Bittsteller. Die Audienzen finden in der Nähe des Zentralzylinders statt, auf der Straße des Zentralzylinders.«

»Ich danke dir«, sagte ich.

»Willst du ihn denn sprechen?«

»Es könnte mich reizen, einen Blick auf ihn zu werfen.«

»Er ist ein charmanter Mann.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Viele unbedeutende Bitten werden erfüllt«, fuhr er fort. »Und auch einige der größeren. Bei den schwierigen Fällen hängt es natürlich von der Rechtmäßigkeit der Bitte ab.«

»Das ist verständlich.«

»Die Bittsteller müssen sich am Seil einfinden.«

»Was ist das?«

»Der Regent kann natürlich nicht jedem eine Audienz gewähren. Diejenigen, denen der Zutritt gewährt wurde, tragen das Gnieus Lelius-Großzügigkeitsband, das um ihre Taille geschlungen ist und dann an dem Seil, das zum Thronpodest führt, festgebunden wird. Nun ja, eigentlich ist es kein Seil, sondern eine Samtkordel. Das hilft, die Reihe gerade zu halten. Außerdem hat man so die Zahl der Bittsteller unter Kontrolle, da dies alles unter freiem Himmel geschieht.«

»Ich verstehe. Und wie bekommt man einen Platz am Seil?«

»Das ist manchmal eine häßliche Angelegenheit.«

»Schön!« rief Hurtha erfreut.

»Vermutlich sollte man früh da sein«, sagte ich.

»Manche Leute sind bereits zur vierzehnten Ahn des Vortags da.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Nochmals vielen Dank, Bürger.«

»Du könntest es in Ludmillas Freudenhausgasse versuchen. Es liegt hinter der Straße von Turia.«

»Was denn?«

»Das Haus, das ich euch empfehle.«

»Ach so, ja richtig.«

»Weißt du, wo das ist?«

»Ich kenne die Straße von Turia, danke.« Der Name leitete sich von der Stadt in der südlichen Hemisphäre ab und ist zweifellos eine freundliche Geste von seiten Ars. Die Straßenseiten werden passenderweise von stattlichen Tur-Bäumen gesäumt. Es ist eine breite Allee mit Springbrunnen. Sie ist bekannt für ihre eleganten Läden.

»Es ist in der Nähe der Straße der Brandzeichen.«

»Genau.«

»Nochmals vielen Dank. Wir versuchen es dort.«

»Ich wünsche dir alles Gute.«

»Ich wünsche dir ebenfalls alles Gute.«

Er drehte sich um und ging. Die Frau, die in der Nähe auf einer Wolldecke vor ihrem Korb Suls saß, sah auf. »Wollt ihr Suls?«

»Nein.«

»Dann verschwindet.«

»Kommt«, sagte ich zu meinen Gefährten. Ich führte sie auf der Venaticus in östliche Richtung, bis wir zur Straße des Zentralzylinders kamen. Eigentlich wollte ich auf der Allee nach Süden gehen, bis wir zur Straße der Wagen kämen. Es gibt in Ar mehrere Straßen der Wagen, aber jene, die ich im Sinn hatte und die zur Straße der Brandeisen führte, wurde allgemein Straße der Wagen genannt. Straßen mit diesem Namen verlaufen gewöhnlich von Osten nach Westen; ich glaube, man nennt sie so, weil sie tagsüber für den Wagenverkehr geöffnet und breit genug sind, daß zwei Fuhrwerke oder Kutschen aneinander vorbeifahren können. Viele Straßen Ars sind so schmal, daß der Wagenverkehr am Tag eingeschränkt ist. Bei den Alleen und Prachtstraßen ist das natürlich anders, denn sie sind in der Regel erheblich breiter. Übrigens kommen viele Mädchen über die Straße der Wagen nach Ar, obwohl sie nur wenig von der Umgebung sehen, da sie an den Zentralbalken der blaugelben Sklavenwagen gekettet sind. Die Nummern auf den Anhängern an ihren Sklavenkragen sorgen dafür, daß man sie bei dem richtigen Haus auf der Straße der Brandeisen abliefert.

»Wie schön!« rief Boabissia aus.

»Die Straße des Zentralzylinders«, sagte ich. »Sie ist wirklich schön. Hier entlang.«

»Ich bin durstig«, sagte Hurtha und ging auf einen der vielen Springbrunnen zu. Wir schlossen uns ihm an.

Hurtha lehnte seine Axt gegen den Brunnen, tauchte den Kopf ins Wasser und kam prustend wieder hoch. Er schöpfte eine Handvoll Wasser und spritzte es sich ins Gesicht, dann trank er. Ich bediente mich ebenfalls. Boabissia trank geziert auch einen Schluck. Offenbar hatte sie in unserer Gesellschaft etwas von ihrer Weiblichkeit entdeckt. Zumindest verzichtete sie auf die peinlichen und lächerlichen Versuche, das Benehmen eines Alar-Kriegers nachzuahmen.

Sie richtete sich wieder auf. »Da kommt eine Sänfte, die von Soldaten eskortiert wird«, sagte sie.

Ein paar Leute versammelten sich, um zuzusehen, doch sie achteten darauf, den Soldaten und der Sänfte genug Platz zu lassen. Die Seidenvorhänge waren zugezogen. Lange Stangen hielten die Sänfte zwischen den beiden Tharlarion, die sie trugen. Die Gruppe bewegte sich auf den Zentralzylinder zu. Die Soldaten waren Taurentianer.

»Ist das eine Frauensänfte?« fragte Boabissia.

»Ja«, antwortete ich.

»Es sind doch die Palastwachen, oder?« wollte Hurtha wissen.

»Vermutlich«, sagte ich. »Auf jeden Fall gehören sie zur selben Sorte wie die Palastwachen. Sie heißen Taurentianer.«

»Sie machen einen tüchtigen Eindruck.«

»Das sind sie auch, verlaß dich drauf.« Die Blicke der Soldaten ruhten vorwiegend auf der Menschenmenge. Es bestand wenig Zweifel, daß solche Männer eine tüchtige Wache bildeten. Nun wurde die Sänfte nicht von Sklaven, sondern von Tharlarion transportiert, wofür es mehrere Gründe geben konnte. Da war die einfache Zurschaustellung von Reichtum, da gute Tharlarion meistens teurer als Sklaven sind. Aber vielleicht schätzte man die Passagierin als zu kostbar ein, um sie der Nähe von Trägersklaven auszusetzen. Schließlich waren es Männer. Vielleicht hielt man sie auch einfach für zu schön, um sie den Händen von Sklaven zu überlassen. Konnte nicht immer etwas geschehen, wenn die Schönheit die Sänfte voller Anmut bestieg oder sie verließ? Eine sorglose Bewegung des Schleiers, die ein Stück Hals enthüllte, das unwillkürliche Anheben des Gewands der Verhüllung, das den Männern einen flüchtigen Blick auf ein nacktes Fußgelenk erlaubte?

»Wessen Sänfte ist das?« fragte ich einen Passanten.

»Weißt du das nicht?«

»Nein. Wir sind erst heute in Ar eingetroffen.«

»Aus Torcodino?«

»Ja.«

»Das ist die Sänfte der Frau, die vielleicht die Ubara von Ar wird.«

»Talena«, sagte ein anderer Mann.

»Was ist?« fragte Boabissia.

»Nichts«, erwiderte ich und sah der Sänfte hinterher. »Wie kann diese Talena die Ubara von Ar werden? Soviel ich weiß, hat Marlenus sie doch verstoßen.«

»Man kann ihr einen rechtmäßigen Anspruch auf die Thronfolge besorgen«, sagte der Passant. »Darüber wurde diskutiert.«

»Aber doch nicht als Angehörige von Marlenus’ Geschlecht.«

»Nein, das nicht. Aber man muß nicht zu Marlenus’ Linie gehören, um in Ar zu herrschen. Minus Tentius Hinrabius und Cernus haben beide Ar beherrscht, und keiner entstammte seiner Linie.«

»Das ist wahr«, sagte ich.

»Sie ist eine freie Bürgerin«, erklärte der Mann. »Also könnte man ihr den Anspruch verleihen.«

»Warum denn nicht Gnieus Lelius oder Seremides?«

»Erfreulicherweise ist keiner von beiden ehrgeizig.«

»Aber warum gerade sie?« wollte ich wissen. »Warum nicht irgend jemand anders?«

»Sie gehörte einst zur königlichen Familie. Sie war die Tochter des Marlenus.«

»Ich verstehe«, sagte ich und drehte mich wieder zur Sänfte um, konnte sie aber nicht mehr sehen.

»In welche Richtung müssen wir?« fragte Hurtha.

»Dort entlang.« Wir konnten auf der Straße des Zentralzylinders nach Süden gehen, etwa vier oder fünf Pasang, nach links auf die Straße der Wagen abbiegen und dort bis zur Straße von Turia bleiben. Irgendwo in der Nähe befand sich Ludmillas Freudenhausgasse. Auf der Straße von Turia würde ich noch einmal nach der Richtung fragen müssen, bezweifelte aber keinen Augenblick lang, daß wir das Viertel schnell finden würden.

»Wie heißt die Straße?« fragte Boabissia.

»Ludmillas Freudenhausgasse.«

»Der Name gefällt mir nicht«, sagte Boabissia.

»Ich finde nicht, daß es schlecht klingt«, sagte ich.

»Allerdings nicht«, meinte Hurtha.

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