23

Hurtha und ich kehrten gegen Mittag ins Insula zurück, nachdem wir den Platz am Zentralzylinder verlassen hatten. Wir hatten das Haus gerade betreten, als wir auf Feiqa stießen.

»Herr«, sagte sie eifrig, erhob sich auf die Füße und kam uns entgegen, bis die Kette um den Fuß sie aufhielt. Sie kniete erneut nieder.

»Wo ist Boabissia?« fragte ich. »Wieso bist du nicht oben festgemacht?«

»Das war ich auch«, antwortete Feiqa. »Aber die Herrin ist zurückgekehrt und hat mich geholt. Sie hat etwas gefunden, das sie in große Aufregung versetzte. Ich mußte sie begleiten, damit ich mir das Haus merkte, und soll euch sofort dorthin führen.«

»Darum bist du also hier angekettet?«

»Vielleicht, Herr«, sagte sie. »Aber vielleicht hat die Herrin es ihrer Sklavin auch nur bequem machen wollen.«

Ich lächelte. Boabissia gehörte nicht zu den Personen, die sich um die Bequemlichkeit ihrer Sklaven Gedanken machten. Sie glaubte vielmehr, daß man Sklaven mit großer Strenge gegenübertreten und sie mit Unbarmherzigkeit behandeln sollte.

»Warum hat sie nicht auf uns gewartet?«

»Sie konnte nicht warten«, sagte Feiqa. »Sie war in großer Eile, zu jenem Haus zurückzukehren.«

»Worum geht es eigentlich?«

»Sie glaubt, sie hat das Haus ihrer Familie gefunden, sie glaubt, daß ungeheurer Reichtum auf sie wartet, daß sie ihr Erbe beanspruchen kann.«

»War es ein schönes Haus?« fragte ich.

»Man kann es sicher als schönes Haus bezeichnen. Der Hof war fast ein richtiger Garten, mit Springbrunnen und Bäumen. Das Haus dahinter war groß und wunderschön. Der Besitzer muß sehr reich sein.«

»Wie ist sie darauf gekommen, daß es das Haus ihrer Familie ist?«

»Das kleine Schild neben der Klingelschnur«, sagte Feiqa. »Darauf stand der Buchstabe Tau. Wie auf ihrem Anhänger.«

»War es die gleiche Schreibweise?« wollte ich wissen.

»Es war sehr ähnlich.«

»Ob es genau das gleiche war, will ich wissen!«

»Nein, Herr.«

»Aber sehr ähnlich.«

Feiqa nickte.

»Es könnte also durchaus ein Hinweis auf ihre Abstammung sein«, sagte ich. Goreaner sind gewöhnlich sehr gewissenhaft, was Dinge wie Wappen, Familienembleme und dergleichen angeht. Manchmal läßt man derartige Siegel sogar amtlich registrieren, damit allein die betreffende Familie sie verwenden darf.

»Es ist durchaus möglich, Herr«, sagte Feiqa.

»Sollte es stimmen, würden wir uns für Boabissia und ihr Glück freuen.«

»Und es war ein schönes Haus?« fragte Hurtha.

»Ja, Herr.«

»Das wird Boabissia gefallen«, sagte er. »Sie ist seit jeher ein verwöhntes, habgieriges kleines Ding gewesen. Reichtum dürfte sie nicht stören.«

»Die Familie könnte mächtig und einflußreich sein«, vermutete ich.

»Dagegen wird sie auch nichts haben.«

»Wo ist das Haus?« fragte ich.

»Nicht weit von hier, Herr.«

»Das ist bemerkenswert«, stellte ich fest.

»In diesem Stadtteil gibt es einige schöne Häuser. Wir haben gestern doch welche gesehen«, sagte Hurtha.

»Stimmt.« Wie viele Städte hat Ar die unterschiedlichsten Viertel, die sich in überraschender Nähe zueinander befinden. Die in der Nähe befindliche Straße von Turia zum Beispiel war eine der schönsten Straßen Ars. Doch nur ein paar Ehn davon entfernt befand sich Ludmillas Freudenhausgasse.

»Wo ist der Schlüssel für deine Fesseln?«

»Dort drüben«, sagte Feiqa. Er hing in bequemer Reichweite für Mieter oder Besucher an einem Haken neben der Tür, die zu Achiates Wohnung führte.

Ich trat zu Feiqa und befreite sie.

»Führ uns hin!« befahl ich.

Das Haus befand sich im Viertel der Straße der Brandeisen.

»Die Mauer ist beeindruckend«, bemerkte Hurtha. »Und das Tor ist stark.«

Ich entdeckte das Schild neben der Klingelschnur. Die Gravur hatte in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Buchstaben auf Boabissias Anhänger. Und plötzlich fiel mir wieder ein, woran mich die kleine Kupferscheibe die ganze Zeit über erinnert hatte. Allerdings gab es mindestens zwei Abweichungen. Das war gut. Das Tau auf dem Schild neben der Klingelschnur hatte ich vor langer Zeit an einer anderen Straße Ars gesehen – und mehr als einmal auf den Sardarmärkten.

»Stimmt etwas nicht?« fragte Feiqa.

»Boabissia ist bereits eingetreten?«

»Ich glaube schon«, antwortete Feiqa.

Ich zog an der Klingelschnur. Drinnen ertönte eine Glocke. Einen Augenblick später kam schon der Diener an die Tür.

»Das haben die Alar bei dir als Säugling gefunden, um den Hals gebunden, in den Trümmern einer Karawane?« Er stand dicht vor ihr. Die Kupferscheibe, die noch immer an einer Schnur um Boabissias Hals hing, hielt er dabei ins Licht.

»Ja«, antwortete Boabissia.

»Sie war also um deinen Hals gebunden?«

»Ja, und ich habe sie nie abgelegt«, bestätigte Boabissia.

»Ich verstehe«, sagte er. »Darf ich sie abnehmen?«

»Aber natürlich.« Der Mann knüpfte behutsam die Schnur auf. Boabissia lächelte Hurtha und mich an. Als man uns zu dem Mann geführt hatte, war sie bereits da gewesen. Feiqa hatte ich in der Nähe des Tores an einen Ring angekettet. Sie hatte sich hinknien müssen. Dort war es schön sonnig. Natürlich mußte sie den Kopf senken. Ich nahm an, daß man Sklaven in diesem Haus nicht verwöhnte. Der Mann hatte uns freundlich begrüßt und sich als Tenalion vorgestellt. Es hatte beinahe den Anschein, als hätte er uns erwartet, denn er schien nicht überrascht gewesen zu sein, uns zu sehen. Wir hatten auch keine Schwierigkeiten gehabt, zu ihm vorgelassen zu werden, und das, obwohl er ein wichtiger Mann zu sein schien. Es war ein büroähnlicher großer Raum. Es gab einen wuchtigen Schreibtisch, auf dem viele Papiere lagen. Tenalion war ein vornehm aussehender Bursche. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.

Er untersuchte die Kupferscheibe.

»Ich glaube, sie könnte einen Hinweis auf meine Herkunft geben«, sagte Boabissia.

»Schon möglich«, erwiderte Tenalion. »Aber woher soll ich wissen, daß du sie nicht gefunden, gekauft oder gar gestohlen hast?«

»Ich versichere dir, das habe ich nicht«, protestierte Boabissia. »Sie gehört mir. Ich trug sie schon als kleines Kind. Ich habe sie mein ganzes Leben lang getragen.«

Er sah sich die Scheibe an.

»Befindet sich an deinem Haus nicht der gleiche Buchstabe?«

»Er ist ähnlich«, räumte er ein.

»Aber nicht gleich«, sagte ich.

Boabissia warf mir einen wütenden Blick zu.

Tenalion sah mich an und lächelte. »Der Buchstabe hat vor vielen Jahren tatsächlich so ausgesehen. Bevor man die Ausführung leicht veränderte.«

»Aber das ist doch richtig!« rief Boabissia aus. »Ich habe es schließlich vor Jahren bekommen.«

»Genau!« Er lächelte.

»Das konnte ich nicht wissen«, fuhr sie aufgeregt fort. »Hätte ich es gefälscht, dann in der modernen Fassung, da ich den Unterschied nicht kannte, und du hättest sofort entdeckt, daß es eine Fälschung ist.«

»Das ist wahr.«

»Seht ihr!« rief uns Boabissia triumphierend zu.

Ich nickte.

»Er ist eifersüchtig«, sagte Boabissia zu dem Hausherrn. »Er läuft bald grün an vor Neid. Er will, daß man mir mein Erbe vorenthält, meine rechtmäßige Stellung!«

»Dein Erbe?« fragte Tenalion. »Deine rechtmäßige Stellung?«

»Ja. Das, was mir zusteht. Ich bin entschlossen, es auch zu bekommen.«

»Ich verstehe«, sagte Tenalion. »Ich werde die Unterlagen einsehen. Keine Angst, wenn alles übereinstimmt, wovon ich zweifellos ausgehe, sollst du dein – wie hast du es ausgedrückt? – dein Erbe und deine rechtmäßige Stellung erhalten.«

»Ich will nicht mehr, als mir zusteht«, erklärte Boabissia.

»Ich werde die Unterlagen einsehen«, sagte er. »Und wenn es in meiner Macht liegt, sorge ich dafür, daß du genau das bekommst, was du verdienst, nicht mehr und nicht weniger.«

»Danke«, sagte sie und warf mir einen wütenden Blick zu.

»Und was genau soll dir deiner Meinung nach zustehen?« fragte er.

»Erkennst du mich denn nicht?«

»Ich verstehe nicht.«

»Ich könnte deine seit langem verschollene Tochter sein!«

»Meines Wissens nach habe ich keine Töchter«, erklärte Tenalion, »weder verschollene noch andere. Aber ich habe Söhne.«

»Sieh mich an!« verlangte Boabissia.

»Ja, und?«

»Gibt es da keine Familienähnlichkeit?« fragte sie. Ich erkannte nichts dergleichen. Zugegeben, manchmal unterscheiden sich Blutsverwandte beträchtlich voneinander.

»Wovon sprichst du?«

»Vielleicht bist du mein Onkel, wenn du schon nicht mein Vater bist.«

»Ach so, das meinst du.«

»Könnte ich nicht deine Nichte sein?«

»Ein reizvoller Gedanke.«

»Sieh mich an. Sieh mich genau an. Was glaubst du?«

»Du bist wohlgestaltet.«

»Wohlgestaltet?«

»Ich glaube, jetzt begreife ich, warum du hergekommen bist.«

»Ich suche nach meiner Herkunft.«

»Und vielleicht ein kleines bißchen mehr?« spekulierte er.

»Schon möglich«, erwiderte sie. »Es war eine große Karawane. Zweifellos läßt meine Anwesenheit als Säugling darauf schließen, daß meine Familie großen Einfluß besaß. Vielleicht war sie sogar Eigentümerin der Karawane. Du bist offensichtlich reich. Das ist ein schönes Haus, geräumig, mit einem großartigen Garten. Der Buchstabe auf der Kupferscheibe scheint für dich eine Bedeutung zu haben. Das hast du jedenfalls zugegeben.«

Tenalion nickte.

»Im Einklang mit deiner Ehre – da ich dich für einen Ehrenmann halte – würdest du mir mein Erbe doch bestimmt nicht verweigern.« Das war eine ziemlich häßliche Bemerkung. Es ist selten klug, die Ehre eines Goreaners anzuzweifeln oder zu versuchen, ihn diesbezüglich beeinflussen zu wollen.

»Nein«, erwiderte er noch immer freundlich, offensichtlich ohne sich beleidigt zu fühlen. »Ich wäre der letzte, der dir dein Erbe vorenthielte.«

»Gut«, sagte sie ziemlich hochmütig und warf den Kopf in den Nacken. Mit ihrer Art konnte Boabissia einem manchmal ziemlich auf die Nerven gehen.

»Ich glaube, man könnte mich als reichen Mann bezeichnen«, meinte Tenalion. »Und es ist auch sicher richtig, wenn man sagt, daß ich in dieser Stadt eine gewisse Stellung bekleide und eine gewisse Macht innehabe.«

»Den Eindruck habe ich durchaus«, sagte Boabissia.

»Glaubst du tatsächlich, daß wir irgendwie verwandt sind?«

»Ja«, erwiderte Boabissia. »Das beweist der Anhänger. Ich bitte dich, deine Unterlagen zu befragen.«

»Solltest du tatsächlich ein Mitglied meines Geschlechts oder einer engen Nebenlinie sein, würdest du zweifellos über Nacht zu einer der berühmtesten, wohlhabendsten und mächtigsten Frauen von ganz Ar!«

»Das wäre nicht unmöglich«, sagte Boabissia stolz.

»Vielleicht stehen wir tatsächlich in einer Beziehung zueinander«, meinte Tenalion geheimnisvoll.

»Die Kupferscheibe beweist es!«

»Ich glaube, du könntest recht haben.«

»Sieh in deinen Unterlagen nach!«

»Soll ich es wirklich tun? Ist das dein ausdrücklicher Wunsch?«

»Ja. Ich verlange es sogar!«

»Gut. Wie du willst. Es wird nicht lange dauern.« Er griff nach einer kleinen Glocke, die auf dem Schreibtisch stand.

»Laß uns gehen, Boabissia«, sagte ich. »Wir könnten morgen wiederkommen.«

»Schweig!« fauchte sie.

Tenalion ließ die Glocke ertönen, einen Augenblick später trat ein Diener ein. Er hörte aufmerksam zu, was sein Herr wünschte, und verließ den Raum. Tenalion setzte sich an den Schreibtisch und legte die kleine Kupferscheibe auf die rechte Seite.

Boabissia sah Hurtha und mich an. Sie konnte ihre Erregung kaum bezähmen.

»Laß uns gehen, Boabissia«, schlug ich vor.

»Schweig!« wiederholte sie.

»Es dauert nicht lange«, sagte der Hausherr. »Wenn ihr jetzt wartet, braucht ihr morgen nicht noch einmal wiederzukommen.«

»Ihr könnt ja gehen«, sagte Boabissia.

»Warum sollten sie das tun?« fragte Tenalion verwirrt.

»Was weiß ich?« erwiderte Boabissia.

Nach kurzer Zeit kehrte der Diener mit einem großen, ziemlich staubigen, länglichen Buch zurück, das große Ähnlichkeit mit einem Hauptbuch hatte. Der Ledereinband war mit einer Schnur zugebunden. Von meinem Standpunkt aus war die Aufschrift auf dem Deckel nur schwer zu lesen, aber es schienen Daten und Zahlen zu sein. »Ältere Aufzeichnungen werden zusammen mit den Kopien neuerer Unterlagen hier aufbewahrt. Die Originale aktuelleren Datums verwahren wir zusammen mit Kopien der alten Listen im Haupthaus.«

Ich nickte. Auf diese Weise führte man zwei identische Bücher an verschiedenen Orten. Das war in der goreanischen Buchhaltung nicht ungewöhnlich, vor allem in bestimmten Geschäftszweigen.

»Ist denn das hier nicht dein Haupthaus?« fragte Boabissia.

»Wir befinden uns hier in meiner persönlichen Residenz«, erklärte Tenalion.

»Du hast noch ein anderes Haus?«

»Natürlich«, sagte er.

Boabissia warf mir einen erfreuten Blick zu.

»Dort finden meine Geschäfte statt.« Er löste die Schnur und blies den Staub vom Deckel. Die Seiten waren vergilbt.

»Bitte beeil dich!« drängte Boabissia.

Er schlug das Buch auf und zog aus einer kleinen Tasche im Einband eine gestanzte Kupferscheibe mitsamt Schnur, die von der Größe her Boabissias Anhänger entsprach; er legte die beiden nebeneinander.

»Seht nur!« rief Boabissia erfreut.

Die Scheibe trug einen Aufdruck, aber ich konnte ihn aus der Ferne nicht erkennen.

»Auf der Kupferscheibe steht etwas«, sagte Boabissia aufgeregt. »Zweifellos stimmen die Zeichen überein.«

»Nicht unbedingt«, sagte ich.

Tenalion fing an zu blättern.

»Schnell!« drängte Boabissia.

Dann hatte er anscheinend das Gesuchte gefunden. Er hielt Boabissias Anhänger in die Höhe, sah ihn an und verglich etwas mit einem Eintrag im Buch. Er vergewisserte sich noch einmal, dann stand er auf und trat auf Boabissia zu.

»Und?« fragte sie aufgeregt. »Und?«

»Du hattest recht, meine Liebe«, sagte Tenalion. »Zwischen uns besteht eine Beziehung, sogar eine enge Beziehung, ganz, wie du vermutet hast.«

»Seht ihr!« rief Boabissia triumphierend und hüpfte vor Freude beinahe auf und ab.

»Aber, meine Liebe«, fuhr er fort, »es ist nicht unbedingt die Beziehung, die du erwartest.«

»Was tust du da?« fragte sie. Und schrie plötzlich überrascht auf, als er ihr das Kleid vom Oberkörper riß.

»Ja«, sagte er. »Du bist wohlgeformt.«

Boabissia starrte ihn fassungslos an, wagte unter seinem durchdringenden Blick aber nicht, sich wieder zu bedecken.

»Es ist die Beziehung zwischen Herr und Sklavin!«

»Nein!« schrie sie in panischem Entsetzen.

»Zieh dich aus!« verlangte er.

»Gehorch ihm, sofort!« befahl ich.

Mit zitternden Fingern schob sie das Kleid über die Hüften, ließ es zu Boden fallen und blieb so stehen.

»Die Sandalen auch«, sagte ich. »Schnell!«

Verängstigt gehorchte sie. Wenn ein Goreaner einer Frau befiehlt, sich auszuziehen, dann meint er sofort, noch in diesem Augenblick. Boabissia stand verwirrt und zitternd da. Ihre Kleidung lag zu ihren Füßen wie ein winziger Tümpel aus Stoff.

»Was geht hier eigentlich vor?« fragte Hurtha.

»Nicht eingreifen!« bat ich leise. »Es ist, wie ich befürchtet habe.«

»Hier«, sagte Tenalion. Er zeigte auf das Buch und die beiden Kupferscheiben. Ich trat zum Tisch und ergriff die Scheibe, die er dem Buch entnommen hatte. Sie enthielt keine Nummer, aber das ›Tau‹ war mit dem auf Boabissias Anhänger identisch. Ich legte einen Finger ungefähr auf die Stelle des betreffenden Eintrags, schlug das Buch zu und betrachtete den Deckel. Die Jahreszahl reichte zweiundzwanzig Jahre zurück; die beiden Zahlengruppen trennte ein Bindestrich. Ich las die Nummer auf Boabissias Anhänger. Sie paßte genau. Ich schlug das Buch wieder auf.

»Verstehst du?« fragte Tenalion.

»Ja.« Am Anfang einer der Eintragungen stand eine Nummer, die mit der auf Boabissias Anhänger übereinstimmte.

»Die Karawane, in der man dich fand, war eine Sklavenkarawane«, erklärte Tenalion.

Boabissia starrte ihn fassungslos an. Dann richtete sie den Blick auf Hurtha.

»Als sie dich fanden, war ich ein kleiner Junge«, sagte Hurtha. »Ich wußte nicht, um welche Karawane es sich handelte. Ich glaube, es wußte keiner der Alar. Es ist einfach zuviel zerstört worden.«

»Es war keine offiziell gekennzeichnete Sklavenkarawane«, sagte Tenalion. »Zum Beispiel verzichteten wir auf die blaugelbe Seide. Wir hatten gehofft, auf diese Weise die Fracht aus Hunderten wunderschöner Frauen geheimhalten zu können, die die Habgier und die Lust eines jeden Räubers erregt hätte. Doch wie es scheint, ist unsere Strategie gescheitert.«

Hurtha nickte.

»War noch viel übrig, als die Alar kamen?«

»Nein«, sagte Hurtha. »Ich glaube nicht.«

»Das überrascht mich nicht«, sagte Tenalion. »Die Frauen sind vermutlich verschleppt worden. Zweifellos haben sie ihre Entführer gut unterhalten, bevor man sie auf Hunderten von Märkten verkaufte.«

»Ich war doch noch ein Säugling«, flüsterte Boabissia.

»Vermutlich hat man dich auch aus diesem Grund zurückgelassen.«

»Ich hätte sterben können!«

»Vielleicht haben sie dich nicht gefunden. Andererseits war es ihnen vielleicht auch gleichgültig.«

»Es war ihnen gleichgültig?« rief sie.

»Natürlich«, sagte er ungerührt. »Damals wie heute warst du eine Sklavin.«

Boabissia erschauderte.

»Bedeck deine Brüste nicht! Laß die Arme an den Seiten.«

Sie schluchzte auf.

»Es war meine Karawane«, sagte Tenalion. »Ich habe damals einen großen Verlust erlitten. Ich habe fünf Jahre gebraucht, um diesen Rückschlag zu überwinden.«

»Deine Karawane?« flüsterte Boabissia.

»Ich bin ein Kaufmann«, sagte er. »Ich handle mit Sklaven, in der Hauptsache mit Sklavinnen.«

»Aber ich war doch noch ein kleines Kind!«

»Und als solches habe ich dich bekommen.«

»Es steht im Buch«, sagte ich. »Deine Sklavennummer entspricht der Nummer auf deinem Anhänger.« In den großen Städten ist es nicht ungewöhnlich, daß Töchter verkauft werden. Manche Frauen tun es immer wieder. Einige Familien würden eine Tochter eher verkaufen als sie großzuziehen. Im Gegensatz zu Söhnen tragen sie selten zum Familieneinkommen bei. Außerdem können sie nicht einmal den Familiennamen weitergeben. Das Überleben des Namens und die Erhaltung der väterlichen Linie sind den meisten Goreanern sehr wichtig.

»Steh gerade!« befahl Tenalion.

Boabissia gehorchte.

»Noch gerader! Zieh den Bauch ein! Die Schultern nach hinten!«

Sie gehorchte ängstlich.

»Falls du es wissen willst: Ich habe dich nicht gekauft. Obwohl deine Mutter eine freie Frau war, habe ich sie versklavt.«

»Erzähl mir von meiner Mutter, bitte!« flüsterte sie.

»Sie war ein hübsches Ding. Außerordentlich wohlgeformt. Wie du.« Er ging um sie herum. »Heb das Kinn!«

Tränen traten ihr in die Augen, aber sie widersetzte sich nicht. Er nickte zufrieden. »Obwohl du schöner bist. Sie war aus Ar, kam aber natürlich aus einer niederen Kaste.«

Boabissia schluchzte.

»Ich muß euch danken, daß ihr sie mir zurückgebracht habt.«

»Das war nicht unsere Absicht«, sagte ich. »Eigentlich ist sie selbst dafür verantwortlich. Sie sah dieses Haus, und da sie unbedingt ihre Herkunft erfahren wollte, ist sie aus eigenem Entschluß eingetreten.«

»Und ist deine Neugier nun befriedigt, meine Liebe? Du hast erfahren, was es zu erfahren gab, und du hast deinen Platz in der Gesellschaft gefunden.«

»Ja«, flüsterte sie.

»Aber wenn ich richtig verstanden habe, ist sie in eurer Begleitung nach Ar gekommen. Zuerst glaubte ich, es sei ein von euch veranlaßter Scherz gewesen, sie allein vorzuschicken.«

»Nein, nein«, versicherte ich ihm.

»Wie dem auch sei, ich muß euch danken, daß ihr für ihre Rückkehr gesorgt habt.«

»Das ist nicht nötig«, wehrte ich ab.

Wir sahen sie an.

»Was wird sie einbringen?« fragte ich.

»Der Markt erlebt zur Zeit eine Flaute. Das hat viel mit den Gerüchten um Torcodino, dem angeblichen Vorrücken der Cosianer und den vielen Flüchtlingen zu tun. Aber trotzdem bekomme ich vielleicht zwei Silbertarsk für sie.«

»Ein guter Preis für ein Mädchen«, sagte ich.

»Ich hätte nicht gedacht, daß Boabissia so wertvoll ist«, sagte Hurtha.

Sie sah den Alar überrascht an.

Es ist natürlich nichts Ungewöhnliches, daß ein Mann eine Frau nicht beachtet, bis er erfährt, was andere für sie bezahlen würden.

Boabissia sah schnell weg, sie wagte nicht, seinen Blick zu erwidern. Sie errötete, von den Haarspitzen bis zu den Zehen. »Bitte!« flehte sie.

»Sei still!« sagte ich.

Sie war schön, und ihr Leben hatte sich verändert. Nun mußte sie lernen, wie es war, eine Sklavin zu sein.

»Ich hatte immer geglaubt, die Karawane sei ein Totalverlust gewesen«, sagte Tenalion. »Doch ich habe ein Kleinkind verloren und eine wunderschöne Sklavin zurückbekommen.«

Sie unterdrückte ein erneutes Schluchzen.

»Eine Belohnung wäre mehr als angebracht«, sagte Tenalion.

»Das ist nicht nötig«, erwiderte ich.

»Ich bestehe darauf!« Er griff in die Schublade.

»Wenn du meinst«, willigte ich ein.

Boabissia starrte mich entsetzt an.

»Du bist mehr als großzügig«, sagte ich. Er überreichte mir einen Silbertarsk. Ich schob ihn in den Geldbeutel. Boabissia wimmerte.

Er griff nach der Glocke und läutete zweimal.

»In Anbetracht der besonderen Umstände wirst du sie doch sicher nicht als entflohene Sklavin behandeln.«

»Nein«, antwortete Tenalion. »Zumindest nicht im Augenblick.« Er sah sie an. »Die üblichen Strafen für eine entflohene Sklavin sind dir doch bestimmt vertraut, meine Liebe, oder?«

Sie nickte wie betäubt.

»Ausgezeichnet.«

»Falls ich so unverschämt sein darf, ich fände es angebracht, sie in den ersten Tagen ihrer Erziehung mit einer gewissen Nachsicht zu behandeln«, sagte ich. »Du mußt wissen, sie hat sich viele Jahre für eine freie Frau gehalten.«

»Gut zu wissen.«

»Und sie hat sich nicht nur dafür gehalten, sondern auch so benommen.«

»Das ist eine sehr ernste Angelegenheit, meine Liebe«, sagte Tenalion. In diesem Augenblick trat ein geschmeidiger, muskulöser Mann ein. Der Hausherr wies auf Boabissia, und der Mann zog ihr die Hände auf den Rücken und ließ die mitgebrachten Eisenfesseln zuschnappen.

»Aber sie wußte ja nicht Bescheid«, erklärte ich.

Boabissia rüttelte schwach an den Handschellen.

»Sie kam doch unverschleiert herein«, sagte er.

»Das ist richtig. Aber die Alar verschleiern sich nicht.«

»Sie hielt sich für eine Alar?«

»Sie war es gewöhnt, sich mit ihren Augen zu betrachten.«

Tenalion schüttelte den Kopf. »Aber ihr Körper hätte ihr doch verraten müssen, daß sie keine Alar ist. Sie ist nicht groß und derb. Sie ist ausgesprochen weiblich. Das ist der Körper einer Frau aus der Stadt.«

»Das stimmt«, sagte ich.

»Und wie war ihre Einstellung Sklavinnen gegenüber?« wollte er wissen.

»Sie fühlte sich ihnen unendlich überlegen«, erklärte ich. »Sie verachtete sie. Sie brachte ihnen nur Haß entgegen. Es bereitete ihr Vergnügen, sie schlecht zu behandeln.«

Tenalion nickte. »Ich verstehe.« Er sah Boabissia nachdenklich an. »Du darfst knien, meine Liebe.« Sie gehorchte.

»Hast du nie den Verdacht gehabt, du könntest eine Sklavin sein?«

»Das hätte ich mir niemals träumen lassen«, flüsterte sie.

»Ein bemerkenswerter Fall«, stellte Tenalion fest. »Eine Frau, die von Geburt an eine legale Sklavin war, es aber erst vor ein paar Ehn erfahren hat.«

Sie senkte den Kopf.

Der Diener legte ihr eine Sklavenleine um den Hals. Sie blickte furchterfüllt auf.

»Du bist hergekommen, weil du deine Herkunft herausfinden wolltest«, sagte Tenalion. »Die kennst du jetzt. Du wolltest dein Erbe antreten, wolltest Reichtümer. Ich hoffe, du bist zufrieden, denn dein Erbe sind die Sklavenleine und der Kragen.«

Plötzlich brach sie in Tränen aus. »Bitte«, schluchzte sie. »Ich habe es doch nicht gewußt!«

»Mit welchem Hochmut und welcher Habgier bist du hier eingetreten, mit welchem Mißtrauen!« sagte er.

»Es tut mir leid! Verzeih mir! Ich flehe dich an!«

»Wie beharrlich du warst!«

»Verzeih mir!«

»Welche Angst du hattest, man könnte dir dein Erbe vorenthalten! Und ich habe dir versprochen, daß du genau das bekommst, was dir zusteht.«

»Bitte!« Sie zitterte am ganzen Leib, nackt vor ihrem Herrn.

»Du wirst das Erbe antreten und noch tausendfach mehr bekommen, das versichere ich dir.« Er sah sie an. »Es hat lange gedauert, meine Liebe. Aber jetzt bist du zu Hause!«

Sie senkte schluchzend den Kopf. Sie war ihrem Herrn zurückgebracht worden.

»Du weißt, was du mit ihr zu tun hast«, sagte Tenalion zu dem Diener.

»Ja.«

»Dann tu es!«

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