12

»Die Stadt wird erobert! Die Stadt fällt!«

Ich blieb still liegen. Kein Waffengeklirr war zu hören. Oder Laufschritte. Es gab keine Schmerzensschreie oder gar Todesschreie von Männern, die man in ihren Decken erschlug.

In der Ferne wurden Alarmstäbe geschlagen.

Ein oberflächlicher Betrachter wäre zu dem Schluß gekommen, daß ich die Augen geschlossen hielt. Doch sie waren geöffnet. In einer solchen Situation ist es wichtig, über das volle Sichtfeld zu verfügen. In diesem ersten Augenblick schien ich noch tief zu schlafen, doch in Wirklichkeit war jeder meiner Sinne angespannt und hellwach. Dort stand das Fuhrwerk. Da waren die Überreste des Feuers zu sehen. Ich entdeckte keinerlei Bewegungen in meiner unmittelbaren Umgebung.

Der Ruf des Mannes war ebenfalls verstummt.

Oftmals ist es das erste sich schnell bewegende Objekt, das – zumeist völlig zu recht – vom Angreifer als das gefährlichste eingestuft wird und seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit einnimmt. Diejenigen, die sich haben überraschen lassen, die fluchen oder für den Augenblick wie gelähmt sind, können erst einmal unbeachtet bleiben. Solche Angelegenheiten unterliegen einer finsteren Mathematik, es sind vertrackte Gleichungen, die Reaktionszeiten gegen die Schnelligkeit von Klingen aufrechnen. Man läßt sich auf ein ungewisses Spiel ein. Ist der Augenblick, den man abwartet, diese flüchtige Zeitspanne furchtsamer Erkundung, in der man hofft, den Feind überzeugen zu können, daß man in diesem Moment keine Gefahr darstellt, ein Augenblick des Gewinns oder des Verlustes? Spielt er dem Gegner eine Gelegenheit in die Hände, oder kann man sie selbst ergreifen? Viel hängt von der Situation ab. Wird man von bekannten Stimmen geweckt, steht man für gewöhnlich rasch auf. Man nimmt die Verteidigungsstellung ein. Weiß man nicht, was um einen herum vorgeht, ist es klüger, dies erst einmal in Erfahrung zu bringen, bevor man aufspringt und dem Feind, der unter Umständen unmittelbar neben einem steht, ins gezückte Schwert läuft. Meine rechte Hand ruhte auf dem Schwertgriff, die linke auf der Scheide, deren Bänder ums Handgelenk geschlungen waren, um das Ziehen zu erleichtern. Ohne jeden Zweifel schien ich noch zu schlafen. Aber in der Nähe blieb alles still, kein Kampfeslärm ertönte.

Ich setzte mich schnell auf, befreite mich von der Decke. Doch ich verzichtete vorerst darauf, das Schwert zu ziehen, da ich keine unmittelbare Notwendigkeit dafür sah. Ich schlang es mir an den Riemen über die linke Schulter. In dieser Position kann man die Scheide schneller abstreifen, als wenn man die Lederbänder quer über den Körper führt.

»Hurtha«, sagte ich, »aufwachen!« Ich berührte ihn an der Schulter.

»Was ist? Es ist doch noch früh am Morgen!« stöhnte der Alar.

»Hier geht etwas Seltsames vor. Steh auf! Man hat die Alarmstangen geschlagen.«

»Ich höre nichts«, sagte er, setzte sich aber auf.

Es stimmte: Die Alarmstangen schwiegen.

»Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Ein Mann rief, die Stadt sei erobert worden. Ich höre ihn nicht mehr. Außerdem wurde die Alarmstange geschlagen. Da bin ich mir sicher.«

»Es ist noch so früh«, klagte Hurtha.

»Steh auf!«

Ich blickte zu Boabissia hinüber. Ihre Augen waren geöffnet. Sie sah mich ängstlich an.

»Hast du die Alarmstange gehört?« fragte ich.

»Ja.«

»Steh auf, Hurtha.« Er war wieder unter die Decke gekrochen.

»Es ist noch zu früh.« Das stimmte nicht. In dem Lager waren schon mehrere Leute aufgestanden.

»Dein Leben könnte in Gefahr sein«, belehrte ich ihn.

»Zu dieser Stunde?« fragte er entsetzt.

»Ja, der Feind könnte ganz in der Nähe sein.«

»Welcher Feind?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sag es mir, wenn du es in Erfahrung gebracht hast«, meinte er und drehte sich wieder auf die Seite.

»Ich mache keine Witze.«

»Das habe ich befürchtet«, murmelte er.

»Steh auf!«

»Man kann nicht kämpfen, bevor der Kampf angefangen hat, stimmt’s?« fragte er.

»Ich hoffe, daraus ist nicht zu schließen, daß es überhaupt nicht zu einem Kampf kommen kann.«

»Natürlich nicht«, sagte er. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß jetzt keine Lektion in Alarlogik folgen möge.

»Aha«, sagte ich.

»Hat der Kampf begonnen?« fragte er.

»Nein.«

»Dann kannst du auch nicht erwarten, daß ich zu kämpfen anfange«, sagte er.

»Natürlich nicht«, sagte ich zögernd.

»Weck mich, wenn der Kampf anfängt.«

»Willst du in deinem Bett erschlagen werden?«

»Darüber habe ich noch nie nachgedacht, aber jetzt, da ich es richtig bedenke, eigentlich nicht. Warum? Wer will mich im Bett erschlagen?«

»Ich zum Beispiel. Ich denke eben gerade darüber nach.«

»Nein, das wirst du nicht tun.«

»Warum nicht?« fragte ich mit ehrlicher Neugierde.

»Unter anderem deshalb, weil du zu großen Respekt vor der Dichtkunst hast.«

»Du mußt für den Kampf bereit sein!«

»Keine Sorge, ich bereite mich gerade vor«, sagte er und drehte sich auf die andere Seite.

»Wie denn?«

»Ich bewahre meine Kraft. Du bist dir sicher darüber im klaren, daß ein ausgeruhter Körper und ein klarer Verstand neben anderem die wichtigsten Freunde des Soldaten sind.«

»Schon möglich«, gestand ich ihm zu.

»Sie sind auch für die Dichtkunst wichtig, natürlich nur für die kernige, männliche Sorte, nicht für den verzagten Mist bloßer Dichterlinge und Verseschmiede.«

»Zweifellos«, antwortete ich. Aber da schlief Hurtha bereits schon wieder tief und fest. Er gehörte zu den wenigen mir bekannten Leuten, die die Fähigkeit besaßen, wie der Blitz einzuschlafen. Ohne jeden Zweifel hatte das mit einem reinen Gewissen zu tun. Die Alar sind bekannt dafür, schreckliches Chaos, entsetzliche Massaker mit abgeschlagenen Gliedmaßen und dergleichen anzurichten, um hinterher tief und friedlich zu schlafen. Sie verschwenden einfach keinen Gedanken an solche Dinge. Ich hoffte, daß der Feind – wenn es einen gab – nicht wie ein Sturm über das Lager herfiel. Und falls doch, würde Hurtha es vermutlich unbeschadet überstehen, da er das Ganze verschlief.

»Hast du die Alarmstange gehört?« fragte Mincon und trat auf mich zu, die Wolldecke über den Arm.

»Ja«, antwortete ich.

»Ich dachte schon, ich hätte es geträumt«, sagte er.

»Boabissia hat sie auch gehört.«

»Jetzt ist sie still.«

»Stimmt.«

»Im Lager herrscht Ruhe.«

Er hatte recht. Die Leute gingen ihren Beschäftigungen nach, falteten ihre Decken, gingen zur Latrine, errichteten ihre Morgenfeuer.

»Es war falscher Alarm«, sagte Mincon.

»Anscheinend.«

»Du bist nicht sicher?«

»Nein.«

»Was könnte geschehen sein?«

»Ich habe gehört, daß jemand rief, die Stadt sei eingenommen.«

»Das ist unmöglich«, sagte er. »Es gibt Hunderte von Pasang weit keine Feinde. Torcodino ist eine Garnison. Es ist uneinnehmbar. Es ist von verbündeten Heeren umgeben.«

»Man könnte es schaffen.«

»Man müßte ein Heer durch die Reihen des Feindes führen, um die Stadt einzunehmen«, sagte er.

»Oder über den Feind hinweg.«

»Man müßte die Soldaten in die Stadt schmuggeln.«

Ich nickte.

»Unmöglich.«

»Mit ein paar vorher getroffenen Absprachen dürfte es möglich sein.«

»Du machst Witze.«

»Nein.«

»Das würden wir doch hören. Es gäbe laute Kämpfe.«

»Hier ist es still«, sagte ich. »Das heißt jedoch nicht, daß in einem anderen Stadtteil nicht gekämpft werden könnte, sogar in diesem Augenblick. Ein paar Häuserblocks entfernt könnten Männer sterben, ohne daß wir es bemerken. Auf den Straßen könnte Blut fließen.«

»Ich sehe keinen Rauch«, bemerkte Mincon. »Keine Anzeichen für irgendwelche Brände.«

»Das hat wenig zu sagen«, meinte ich. »Vielleicht will man die Stadt nicht zerstören, will die Mauern intakt halten, ihre Reichtümer bewahren.«

»Das wäre möglich.« Er lächelte.

Ich sah ihn überrascht an.

»Es gibt eine Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte er.

»Wie denn?«

»Steig auf den Kutschbock.«

Ich tat es, und er schloß sich mir an. Dann wies er in Richtung der umliegenden Gebäude.

»Siehst du den Zylinder dort?«

Ich nickte.

»Das ist der Zentralzylinder Torcodinos«, erklärte Mincon. »Das Hauptquartier der Verwaltung, der obersten Exekutive, sei es die des Administrators oder des Ubar.«

»Und?«

»Sieh dir das Dach an«, sagte er. »Kennst du die Flagge Torcodinos?«

»Nein.«

»Es ist auch gleichgültig, da dort in den letzten Monaten nicht die Flagge Torcodinos, sondern die von Cos geweht hat.«

»Aber sie ist nicht da«, sagte ich. »Ich kenne die Flagge von Cos. Ich habe sie schon oft gesehen.«

»Ist das nicht erstaunlich?« fragte er.

»Du bist kein einfacher Kutscher«, stellte ich fest.

»Was siehst du dort?«

»Eine Fahne. Sieht aus wie eine Regimentsfahne.«

»Beschreib sie!«

»Sie ist silbern«, sagte ich. »Sie ist weit weg, ich kann sie nur schwer erkennen. Die Sonne spiegelt sich darauf.«

»Es ist die Regimentsfahne des Silbertarns«, sagte er. »Sie hängt an einem silbernen Flaggenstab. In der Nähe der Spitze befindet sich eine rechteckige Platte, die eine Inschrift trägt. Über der Platte ist ein silberner Tarn mit ausgestreckten Schwingen zu sehen, der sie in den Krallen hält.«

»Das kannst du auf diese Entfernung erkennen?«

»Nein«, antwortete er. »Aber ich kenne die Fahne. Ich habe sie schon früher gesehen.«

Ich sah ihn an.

»Du bist ein wirklich aufmerksamer Bursche«, sagte er. »Die Stadt ist in der Tat erobert worden. Und wenn ich mich nicht irre, dann weißt du auch, wie es geschehen ist.«

»Über die Aquädukte«, sagte ich.

»Ganz genau. Man hat sie mehr als hundert Pasang von hier entfernt betreten, einen Aquädukt am Issus, den anderen inmitten der Hügel von Eteocles. In Zweierreihen durchwateten Soldaten das Wasser, manchmal sogar dicht über den Köpfen der cosischen Armee.«

»Genial«, sagte ich.

»Die Wächter einer bestimmten Einheit wurden mit Gold bestochen. In der Stadt lebende Partisanen haben den Männern einer anderen Einheit die Kehlen durchgeschnitten.«

»Wem gehört die Fahne?« fragte ich.

»Es ist das Banner meines Hauptmanns«, sagte er. »Dietrich von Tarnburg.«

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