Berge stiegen rund um Galina Casban auf, oder eher hohe Hügel hinter voraus liegenden schneebedeckten Gipfeln, hinter denen wiederum höhere Gipfel lagen, aber sie sah in Wahrheit nichts von alledem. Die Steine des Hangs schmerzten an ihren bloßen Füßen. Sie keuchte, und ihre Lungen litten bereits. Die Sonne brannte über ihr wie schon scheinbar endlose Tage lang, brannte den Schweiß in Strömen aus ihr heraus. Alles andere als einen Fuß vor den anderen zu setzen, schien zuviel für sie. Seltsam, daß ihr Mund trotz all des aus ihr hervorströmenden Schweißes trocken war.
Sie war noch keine neunzig Jahre Aes Sedai, ihr langes, schwarzes Haar noch von Grau unberührt, aber sie war seit fast zwanzig Jahren das Oberhaupt der Roten Ajah - von den anderen Roten Schwestern inoffiziell die Höchste genannt und von Roten als dem Amyrlin-Sitz gleichgestellt angesehen -, und nur während fünf dieser Jahre, in denen sie die Stola trug, hatte sie in Wahrheit der Schwarzen Ajah angehört. Nicht unter Ausschluß ihrer Pflichten als Rote, sondern darüber hinaus. Ihr Platz im Höchsten Konzil der Schwarzen Ajah befand sich neben Alviarin selbst, und sie war eine der einzigen Drei, die den Namen der Frau kannten, die ihre verdeckten Treffen leitete. Sie konnte bei jenen Treffen jeden Namen aussprechen - auch den eines Königs - und wissen, daß der Name einem Toten gehörte. Es war geschehen, bei einem König und einer Königin. Sie hatte geholfen, zwei Amyrlins zugrunde zu richten, hatte zweimal geholfen, die mächtigste Frau der Welt in eine schreiende Wahnsinnige zu verwandeln, die bestrebt war, alles zu erzählen, was sie wußte, hatte geholfen, es so aussehen zu lassen, als wäre eine von ihnen im Schlaf gestorben, und hatte dafür gesorgt, daß die andere abgesetzt und gedämpft wurde. Solche Dinge waren eine Pflicht, wie auch die Notwendigkeit, Männer, welche die Macht lenken konnten, auszurotten, Handlungen, an denen sie über den Umstand hinaus, daß diese Aufgaben gut ausgeführt wurden, keine Freude hatte, aber es hatte ihr durchaus Vergnügen bereitet, den Zirkel zu leiten, der Siuan Sanche gedämpft hatte. All diese Dinge bedeuteten gewiß, daß Galina Casban selbst zu den Mächtigsten der Welt gehörte, zu den Allermächtigsten. Sicher war es so. Es mußte so sein.
Ihre Beine zitterten wie ungespannte Federn, und sie fiel schwer hin, konnte sich mit den fest hinter ihrem Rücken gefesselten Armen und Ellbogen nicht abfangen. Das einst weiße Seidenhemd, das einzige ihr verbliebene Kleidungsstück, riß erneut, als sie auf den losen Steinen entlangglitt, die über ihre Striemen schabten. Ein Baum hielt sie auf. Das Gesicht auf den Boden gepreßt, begann sie zu schluchzen. »Wie?« stöhnte sie mit belegter Stimme. »Wie kann mir dies geschehen?«
Nach einiger Zeit erkannte sie, daß sie nicht wieder hochgezogen worden war. Ungeachtet dessen, wie häufig sie hinfiel, hatte man ihr niemals zuvor auch nur einen Moment Aufschub gestattet. Sie blinzelte die Tränen fort und hob den Kopf.
Aielfrauen bedeckten den Hang, mehrere Hundert von ihnen standen mit ihren Speeren unter den kahlen Bäumen verstreut, und die Schleier, mit denen sie jeden Moment ihr Antlitz verbergen konnten, hingen über ihren Brüsten. Galina verspürte das Bedürfnis zu lachen. Töchter des Speers. Sie nannten diese gräßlichen Frauen Töchter des Speers. Sie wünschte, sie könnte lachen. Zumindest waren keine Männer anwesend, eine geringe Gnade. Männer ließen ihre Haut kribbeln, und wenn sie jetzt ein Mann sehen könnte, nicht einmal halbwegs bekleidet...
Ihr Blick suchte angespannt Therava, aber die meisten der ungefähr siebzig Weisen Frauen standen zusammen und beobachteten etwas, das weiter den Hügel hinauf geschah, wobei sie ihr die Sicht versperrten. Stimmengemurmel drang zu ihr. Vielleicht berieten die Weisen Frauen etwas. Weise Frauen. Sie hatten sie mit unmenschlicher Tüchtigkeit die richtigen Namen gelehrt. Sie konnten die Verachtung riechen, wie sehr sie diese auch zu verbergen versuchte. Natürlich brauchte man nichts zu verbergen, was aus einem herausgebrannt wurde.
Die meisten der Weisen Frauen schauten fort, aber nicht alle. Das Schimmern Saidars umgab eine junge, rothaarige Frau mit einem hübschen Mund, die Galina mit großen, aufmerksamen blauen Augen beobachtete. Vielleicht als Zeichen ihrer eigenen Verachtung hatten sie die Schwächste unter ihnen auserkoren, sie diesen Morgen abzuschirmen. Micara war nicht wirklich schwach im Gebrauch der Macht - keine von ihnen war es -, aber obwohl Micara sich sehr bemühte, hätte Galina ihren Schild ohne große Anstrengung durchbrechen können. Ein Muskel an Galinas Wange zuckte unkontrolliert. Das geschah stets, wenn sie an einen weiteren Fluchtversuch dachte. Der erste war schon schlimm genug verlaufen. Der zweite... Sie erschauderte und kämpfte gegen ein weiteres aufkommendes Schluchzen an. Sie würde keinen Versuch mehr unternehmen, bis sie sich nicht eines vollkommenen Erfolges sicher sein konnte. Sehr sicher. Vollkommen sicher.
Die Menge der Weisen Frauen teilte sich und wandte sich dann um, um Therava mit ihren Blicken zu folgen, während die Frau mit dem Adlergesicht auf Galina zuschritt. Galina keuchte und versuchte aufzustehen. Die Hände gefesselt, die Muskeln schlaff, gelang es ihr nur, sich auf die Knie aufzurichten, bis Therava sich über sie beugte, wobei ihre Halsketten aus Elfenbein und Gold leise klimperten. Therava ergriff eine Handvoll von Galinas Haar und zwang ihren Kopf scharf nach hinten. Sie drehte Galinas Hals schmerzhaft so weit, daß diese der Weisen Frau ins Gesicht sehen konnte. Therava war um einiges stärker in der Macht als sie, was für verhältnismäßig wenige Frauen galt, aber nicht das ließ Galina zittern. Kalte tiefblaue Augen stachen in ihre, hielten sie fester als Theravas grobe Hand. Sie schienen ihre Seele genauso leicht bloßzulegen, wie Therava mit ihr umging. Sie hatte bisher nicht gebettelt, nicht als sie sie den ganzen Tag ohne Wasser umhergehen ließen, nicht als sie sie zwangen, Schritt zu halten, während sie stundenlang liefen, nicht einmal als ihre Gerten sie aufheulen ließen. Theravas grausames, hartes Gesicht, das ungeduldig auf sie herabsah, erweckte in ihr jedoch den Wunsch zu betteln. Manchmal wachte sie nachts auf, zwischen den vier Pfosten ausgestreckt, an denen sie sie festbanden, erwachte wimmernd aus Träumen, daß ihr ganzes Leben unter Theravas Aufsicht ablaufen würde.
»Sie bricht bereits zusammen«, sagte die Weise Frau mit felsenharter Stimme. »Tränkt sie und bringt sie mit.« Während sie sich ab wandte und ihre Stola richtete, war Galina Casban bereits vergessen, bis sie sich wieder an sie erinnern müßte. Für Therava war Galina Casban unwichtiger als ein streunender Hund.
Galina versuchte nicht aufzustehen. Sie war inzwischen schon oft genug ›getränkt‹ worden. Es war die einzige Art, wie sie sie trinken ließen. Es lechzte sie nach Wasser, und sie widerstand nicht, als eine kräftige Tochter des Speers sie am Haar packte, wie Therava es getan hatte, und ihren Kopf zurückzog. Sie öffnete nur den Mund, so weit sie konnte. Eine weitere Tochter des Speers, mit einer runzligen Narbe über Nase und Wange, neigte einen Wasserschlauch und ließ langsam ein kleines Rinnsal in Galinas wartenden Mund tröpfeln. Das Wasser war schal und warm. Es war köstlich. Sie schluckte krampfartig, unbeholfen, öffnete den Mund weit. Fast genauso sehr lechzte sie danach, ihr Gesicht unter diesen dünnen Strahl zu halten, das Wasser die Wangen und die Stirn hinablaufen zu lassen. Statt dessen hielt sie ihren Kopf starr, damit jeder Tropfen in ihre Kehle gelangte. Wasser zu verschwenden, wäre Anlaß für weitere Schläge. So hatten sie sie in Sichtweite eines sechs Schritte breiten Flusses verprügelt, weil sie einen Mundvoll Wasser über ihr Kinn hatte laufen lassen.
Als der Wasserschlauch schließlich fortgenommen wurde, riß die kräftige Tochter des Speers sie an ihren gefesselten Ellbogen hoch. Galina stöhnte. Die Weisen Frauen schlangen die Röcke über ihre Arme und offenbarten ihre Beine so bis ein gutes Stück über weichen, kniehohen Stiefeln. Sie konnten doch nicht wieder zu laufen beginnen. Nicht wieder! Nicht in diesen Bergen.
Die Weisen Frauen eilten so leichtfüßig vorwärts, als befänden sie sich auf ebenem Boden. Eine unsichtbare Tochter des Speers fuhr Galina mit einer Gerte über die Rückseite ihrer Oberschenkel, und sie nahm einen stolpernden Lauf auf, halb von der kräftigen Tochter des Speers gezogen. Die Gerte traf ihre Beine, wann immer sie nachgaben. Wenn dieser Lauf den Rest des Tages andauerte, würden sie sich abwechseln, wobei eine Frau die Gerte führte und die andere zog. Galina mühte sich Hänge hoch und glitt sie fast hinab. Ein lohfarbener Rotluchs, mit Streifen in Braunschattierungen und schwerer als ein Mann, fauchte sie von einem Felssims über ihnen an. Ein Weibchen, ohne Pinsel an den Ohren und ohne die breiten Wangen. Galina wollte ihr zurufen zu fliehen, bevor Therava sie einfing. Die Aiel lief unbeteiligt an dem fauchenden Tier vorbei, und Galina weinte vor Eifersucht auf die Freiheit der Katze.
Sie würde letztendlich natürlich gerettet werden. Das wußte sie. Die Burg würde nicht zulassen, daß eine Schwester in Gefangenschaft blieb. Elaida würde nicht zulassen, daß eine Schwester gefangengehalten wurde. Alviarin würde gewiß Rettung schicken. Jemand, irgend jemand, würde sie vor diesen Ungeheuern, besonders vor Therava, retten. Für diese Rettung würde sie alles versprechen. Und sie würde diese Versprechen sogar halten. Sie war von den Drei Eiden losgesagt worden, nachdem sie sich der Schwarzen Ajah angeschlossen hatte, hatte sie durch eine neue Dreiheit ersetzt, aber in diesem Moment glaubte sie wirklich, daß sie ihr Wort halten würde, wenn es ihr die Rettung brächte. Jedes Versprechen gegenüber jedermann, der sie befreien würde. Sogar gegenüber einem Mann.
Als die niedrigen Zelte auftauchten, in ihren dunklen Farben an den Berghängen ebenso unauffällig, wie die Katze unauffällig gewesen war, mußte Galina von zwei Töchtern des Speers gestützt werden, die sie vorwärtszogen. Rufe erklangen von allen Seiten, frohe Begrüßungen, aber Galina wurde weiterhin hinter den Weisen Frauen hergezogen, tiefer in das Lager hinein, noch immer laufend und stolpernd.
Plötzlich wurde sie ohne Vorwarnung losgelassen.
Sie fiel aufs Gesicht und lag dann mit der Nase im Staub und sog durch den geöffneten Mund gierig Luft ein. Sie hustete, weil ihr ein Stück trockenes Laub in die Kehle geraten war, aber sie war nicht zu schwach, den Kopf zu wenden. Das Blut pochte in ihren Ohren, aber dennoch drangen Stimmen zu ihr hindurch und ergaben allmählich einen Sinn.
»...habt Euch Zeit gelassen, Therava«, sagte die vertraut klingende Stimme einer Frau. »Neun Tage. Wir sind schon lange zurück.«
Neun Tage? Galina schüttelte den Kopf, wobei ihr Gesicht über den Boden schabte. Seit die Aiel ihr Pferd unter ihr weggeschossen hatten, verschmolz die Erinnerung alle Tage zu einer Mischung aus Durst und Laufen und Geschlagenwerden, aber es war gewiß länger her als neun Tage. Sicherlich Wochen. Ein Monat oder mehr.
»Bringt sie herein«, sagte die vertraute Stimme ungeduldig.
Hände zogen sie hoch, schoben sie vorwärts, beugten sie, damit sie durch den Eingang eines großen Zeltes mit ringsum hoch aufragenden Wänden gelangte. Sie wurde auf übereinanderlegte Teppiche geworfen, wobei der Rand eines rotblauen tairenischen Gewirrs bunte Blumen unter ihrer Nase überlappte. Sie hob mühsam den Kopf.
Zunächst sah sie nur Sevanna, die auf einem großen Kissen mit gelben Quasten vor ihr saß.
Sevanna mit ihrem Haar wie fein gesponnenes Gold und ihren klaren smaragdgrünen Augen. Die heimtückische Sevanna, die ihr Wort gegeben hatte, die Aufmerksamkeit ablenken zu wollen, indem sie in Cairhien einfiel, und ihr Versprechen dann gebrochen hatte, indem sie versucht hatte, al'Thor zu befreien. Sevanna, die sie zumindest aus Theravas Klauen befreien könnte.
Galina erhob sich auf die Knie und erkannte erst jetzt, daß sich auch noch andere Menschen in dem Zelt befanden - Therava saß auf einem Kissen zu Sevannas Rechten, die erste in einer gewundenen Reihe von Weisen Frauen, vierzehn Frauen, die alle die Macht lenken konnten. Die Hälfte von ihnen gehörte zu den Weisen Frauen, die sie mit solch verachtenswerter Leichtigkeit gefangengenommen hatten. Sie würde im Umgang mit Weisen Frauen niemals wieder so sorglos sein; niemals wieder. Kleine, blaßgesichtige Männer und Frauen in weißen Gewändern bewegten sich hinter den Weisen Frauen, boten schweigend Gold- oder Silbertabletts mit kleinen Bechern dar, und auf der anderen Seite des Zeltes, wo eine grauhaarige Frau in Aiel-Jacke und Hose in Braun und Grau zu Sevannas Linken saß, am Kopf einer Reihe von zwölf Aiel-Männern mit steinernen Gesichtern, taten weitere Menschen in weißen Gewändern denselben Dienst. Männer. Und sie trug nur ihr Hemd, das an mehreren Stellen zerrissen war. Galina biß die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Sie zwang sich zu einer aufrechten Haltung, um der Versuchung zu widerstehen, sich in den Teppichen zu verkriechen und sich vor diesen kalten männlichen Blicken zu verbergen.
»Anscheinend können Aes Sedai lügen«, bemerkte Sevanna, und alles Blut wich aus Galinas Gesicht. Die Frau konnte es nicht wissen, sie konnte es nicht wissen. »Ihr habt Versprechen gegeben, Galina Casban, und sie gebrochen. Dachtet Ihr etwa, Ihr könntet eine Weise Frau töten und dann aus der Reichweite unserer Speere gelangen?«
Einen Moment ließ Erleichterung Galinas Zunge erstarren. Sevanna wußte nichts von der Schwarzen Ajah. Wenn sie dem Licht nicht schon vor langer Zeit abgeschworen hätte, hätte sie ihm jetzt gedankt. Erleichterung und ein winziger Funke Entrüstung brachten sie zum Schweigen. Sie attackierten Aes Sedai und waren verärgert, wenn jemand von ihnen starb? Ein winziger Funke war alles, was sie aufbringen konnte. Was war schon Sevannas Verdrehung der Tatsachen gegenüber Tagen voller Schläge und Theravas Blicken? Ein gequälter, krächzender Laut der Heiterkeit entrang sich angesichts der Lächerlichkeit dieses Umstands in ihrer so trockenen Kehle.
»Seid dankbar, daß überhaupt noch jemand von Euch lebt«, gelang es ihr unter Lachen hervorzustoßen. »Es ist selbst jetzt noch nicht zu spät, Eure Fehler zu berichtigen, Sevanna.« Sie schluckte mühsam die klägliche Heiterkeit hinab, bevor sie zu Tränen würde. Sie war kurz davor. »Wenn ich zur Weißen Burg zurückkehre, werde ich mich trotz allem Vorgefallenen jener erinnern, die mir geholfen haben.« Sie hätte gern noch hinzugefügt »und jener, die anders handeln«, aber Theravas unerschütterlicher Blick machte ihr angst. Nach allem, was sie wußte, würde Therava vielleicht noch immer alles tun dürfen, was sie wollte. Es mußte eine Möglichkeit geben, Sevanna zu überreden, die Aufsicht über sie zu übernehmen. Das schmeckte bitter, aber alles war besser als Therava. Sevanna war ehrgeizig - und gierig. Während sie Galina stirnrunzelnd ansah, war ihr Blick auf ihre eigene Hand gefallen, und sie hatte kurz und mit bewunderndem Lächeln die Ringe mit den großen Smaragden und Feuertropfen betrachtet. Sie trug an der Hälfte ihrer Finger Ringe sowie Halsketten aus Perlen und Rubine und Diamanten über ihren Busen drapiert, die jeder Königin zur Ehre gereicht hätten. Man konnte Sevanna nicht trauen, aber vielleicht war sie käuflich. Therava hingegen war eine Naturgewalt. Genausogut konnte man versuchen, einen Strom oder eine Lawine zu bestechen. »Ich vertraue darauf, daß Ihr das Richtige tun werdet, Sevanna«, kam sie zum Schluß. »Die Weiße Burg belohnt Freundschaft großzügig.«
Einen langen Moment herrschte bis auf das Rascheln der weißen Gewänder, während die Diener die Tabletts darboten, Schweigen. Dann...
»Ihr seid Da'tsang«, sagte Sevanna. Galina blinzelte. Sie war eine Verachtete? Gewiß hatten sie ihre Verachtung deutlich gezeigt, aber warum...?
»Ihr seid Da'tsang«, wiederholte die Weise Frau mit dem rundlichen Gesicht, die sie nicht kannte, und eine Frau, die eine Handbreit größer als Therava war, wiederholte ebenfalls: »Ihr seid
Da'tsang.«
Theravas falkenähnliches Gesicht hätte aus Holz geschnitzt sein können, aber ihre auf Galina gerichteten Augen funkelten anklagend. Galina fühlte sich auf dem Fleck festgenagelt und konnte keinen Muskel mehr rühren. Ein hypnotisierter Vogel, der eine Schlange näher gleiten sieht. Niemand hatte ihr dieses Gefühl jemals vermittelt Niemand.
»Drei Weise Frauen haben gesprochen.« Sevannas zufriedenes Lächeln war fast angenehm. Theravas Gesicht war starr. Der Frau gefiel nicht, was auch immer gerade geschehen war. Etwas war geschehen, auch wenn Galina nicht wußte, was es zu bedenken hatte. Nur daß es sie anscheinend von Therava erlöst hatte. Das war im Moment mehr als ausreichend. Mehr als genug.
Als Töchter des Speers ihre Fesseln durchschnitten und sie in ein schwarzes Tuchgewand steckten, war sie so dankbar, daß es sie fast nicht kümmerte, daß sie vor jenen Männern mit den frostigen Blicken zunächst die Überreste ihres Hemdes fortrissen. Das dicke Tuch war heiß und kratzte über ihre Striemen, und sie hieß es genauso willkommen, als wäre es Seide. Obwohl Micara sie noch immer abschirmte, hätte sie lachen mögen, als die Töchter des Speers sie aus dem Zelt führten. Es dauerte nicht lange, bis sie den Wunsch verspürte, vollständig zu verschwinden. Sie begann sich zu fragen, ob es etwas nutzen würde, wenn sie Sevanna auf Knien bäte. Sie hätte es getan, wenn sie zu der Frau hätte gelangen können, nur daß Micara deutlich machte, daß sie nirgendwohin gehen würde, wohin sie nicht gehen sollte, oder ein Wort äußern würde, wenn sie nicht angesprochen wurde.
Sevanna beobachtete mit verschränkten Armen, wie die Aes Sedai, die Da'tsang, den Hang hinunterstolperte, neben einer Tochter des Speers stehenblieb, die mit einer Gerte auf den Fersen hockte, und den wie einen Kopf geformten Stein fallen ließ, den sie in Händen getragen hatte. Die schwarze Kapuze drehte sich einen Moment in Sevannas Richtung, aber dann beugte sich die
Da'tsang schnell herab, um einen weiteren großen Stein aufzunehmen und sich dann wieder fünfzig Schritte bis zu der Stelle aufwärts zu mühen, wo Micara mit einer anderen Tochter des Speers wartete. Dort ließ sie auch diesen Stein fallen, nahm einen weiteren auf und stieg wieder hinab. Da'tsang wurden stets mit sinnlosen Arbeiten beschämt. Wenn es nicht nötig war, würde es der Frau nicht erlaubt sein, auch nur einen Becher Wasser zu tragen, sondern sinnlose Plackerei würde ihre Stunden erfüllen, bis sie vor Scham in Tränen ausbrach. Die Sonne war noch nicht lange auf ihrem höchsten Punkt angelangt, und viele weitere Tage der Mühen lagen vor ihr.
»Ich glaube nicht, daß sie sich selbst für schuldig erklärt hätte«, sagte Rhiale an Sevannas Schulter. »Efalin und die anderen sind sich nicht allzu sicher, daß sie offen zugegeben hat, Desaine getötet zu haben.«
»Sie gehört mir, Sevanna.« Therava preßte die Kiefer zusammen. Sie hatte die Frau zwar gefangengenommen, aber Da'tsang gehörten niemandem. »Ich hatte vor, sie in seidene Gai'schain-Gewänder zu kleiden«, murrte sie. »Welchen Sinn hat diese Behandlung, Sevanna? Ich hatte erwartet, dagegen Einspruch erheben zu müssen, daß ihr die Kehle durchschnitten würde, aber nicht das.«
Rhiale warf den Kopf zurück und gewährte Sevanna einen Seitenblick. »Sevanna will sie brechen. Wir haben lange darüber gesprochen, was wir tun sollten, wenn wir eine Aes Sedai gefangennähmen. Sevanna will eine zahme Aes Sedai aus ihr machen, die Weiß trägt und ihr dient. Aber jede Aes Sedai in Schwarz wird ebenso genügen.«
Verärgert über Rhiales Tonfall richtete Sevanna ihre Stola. Er hatte nicht spöttisch, aber doch des Umstands allzu bewußt geklungen, daß sie die Fähigkeit der Aes Sedai, die Macht zu lenken, irgendwie so benutzen wollte, als wäre es Sevannas eigene Fähigkeit. Es wäre vielleicht möglich. Zwei Gai'schain gingen mit einer großen messingbeschlagenen Kiste an den drei Weisen Frauen vorbei. Die kleinen, blaßgesichtigen Eheleute waren in den Ländern der Baummörder Adlige gewesen. Beide neigten demütiger die Köpfe, als jede Aiel in Weiß es jemals vermocht hätte. In ihren dunklen Augen lag Anspannung - mehr aus Angst vor einem harten Wort als vor der Gerte. Feuchtländer konnten wie Pferde gezähmt werden.
»Die Frau ist bereits gezähmt«, grollte Therava. »Ich habe ihr in die Augen gesehen. Sie ist ein in der Hand flatternder Vogel, der Angst vor dem Fliegen hat.«
»In neun Tagen?« fragte Rhiale ungläubig, und Sevanna schüttelte heftig den Kopf.
»Sie ist eine Aes Sedai, Therava. Ihr habt ihr Gesicht vor Zorn weiß werden sehen, als ich sie anklagte. Ihr habt sie lachen gehört, als sie von der Tötung Weiser Frauen sprach.« Sie stieß einen zornigen Laut aus.
»Und Ihr habt gehört, wie sie uns bedrohte. Es wird lange dauern, sie zu brechen, aber diese Aes Sedai wird darum betteln, gehorchen zu dürfen, und wenn es ein Jahr dauert.« Wenn sie das erst tat... Aes Sedai konnten natürlich nicht lügen. Sie hatte erwartet, daß Galina gegen ihre Anklage angehen würde. Wenn sie erst zu gehorchen geschworen hätte...
»Wenn Ihr erreichen wollt, daß Euch eine Aes Sedai gehorcht«, sagte die Stimme eines Mannes hinter ihr, »könnte dies vielleicht helfen.«
Sevanna fuhr ungläubig herum und sah Caddar und hinter ihm die Frau - Maisia, die Aes Sedai -, beide in dunkle Seide und edle Spitze gekleidet wie schon vor sechs Tagen, jeder mit einem unpassenderweise an einem Riemen von einer Schulter herabhängenden, ausgebeulten Sack. Caddar streckte mit einer dunklen Hand eine glatte, über einen Fuß lange Rute aus.
»Wie seid Ihr hierhergekommen?« fragte Sevanna und preßte dann verärgert die Lippen zusammen. Er war offensichtlich so gekommen wie schon zuvor. Sie war nur überrascht, daß er mitten im Lager auftauchte. Sie riß ihm die weiße Rute aus der Hand, und wie immer trat er außer Reichweite ihres Armes. »Warum seid Ihr gekommen?« fragte sie. »Was ist dies?« Die Rute war ein wenig schmaler als ihr Handgelenk und bis auf wenige, an einem Ende eingekerbte, seltsam fließende Symbole glatt. Sie fühlte sich nicht ganz wie Elfenbein und nicht ganz wie Glas an. Sie fühlte sich sehr kühl an.
»Man könnte sie eine Eidesrute nennen«, antwortete Caddar und setzte eine Miene auf, die einem Lächeln ähnlich war. »Ich habe sie erst gestern bekommen, und ich dachte augenblicklich an Euch.«
Sevanna verschränkte ihre Hände fest um die Rute, um sich daran zu hindern, sie von sich zu schleudern.
Jedermann wußte, was die Eidesrute der Aes Sedai bewirkte. Um nicht darüber nachdenken und noch viel weniger darüber sprechen zu müssen, steckte sie die Rute hinter ihren Gürtel und nahm die Hände fort.
Rhiale betrachtete die Rute an Sevannas Taille stirnrunzelnd und hob dann langsam den Blick zu Sevannas Gesicht. Therava richtete mit klingenden Armbändern ihre Stola und lächelte verbissen. Niemand von ihnen würde die Gelegenheit erhalten, die Rute zu berühren, und vielleicht würde nicht einmal eine der Weisen Frauen diese Gelegenheit bekommen. Aber da war noch immer Galina Casban. Sie würde eines Tages zerbrechen.
Maisia mit den rabenähnlichen Augen, die ein paar Schritte hinter Caddar stand, lächelte fast ebenso verbissen wie Therava. Sie hatte gesehen und verstanden. Sie war für eine Feuchtländerin aufmerksam.
»Kommt mit«, wies Sevanna Caddar an. »Wir werden in meinem Zelt Tee trinken.« Sie würde gewiß kein Wasser mit ihm teilen. Sie raffte ihre Röcke und stieg den Hang hinauf.
Auch Caddar war zu ihrer Überraschung aufmerksam. »Ihr müßt nur Eure Aes Sedai« - er schritt auf seinen langen Beinen leicht neben ihr aus und grinste Rhiale und Therava plötzlich an -»oder eine andere Frau, welche die Macht lenken kann, die Rute halten und die Versprechen äußern lassen, die Ihr hören wollt, während jemand derweil ein wenig Geist webt. Ihr könnt sie auch benutzen, um sie zu befreien, aber das ist schmerzhafter. Zumindest habe ich es so verstanden.«
Sevanna berührte die Rute leicht. Eher Glas als Elfenbein und sehr kühl. »Sie wirkt nur bei Frauen?« Sie betrat vor ihm gebückt das Zelt. Die Weisen Frauen und die Anführer der Kriegergemeinschaften waren gegangen, aber das Dutzend Baummörder-Gai'shain war geblieben und kniete geduldig auf einer Seite des Zeltes. Niemand hatte jemals zuvor ein Dutzend Gaischain beschäftigt, und sie besaß noch weitere. Man würde sich jedoch einen neuen Namen für sie überlegen müssen, da sie das Weiß niemals ablegen würden.
»Frauen, welche die Macht lenken können, Sevanna«, erklärte Caddar, während er ihr ins Zelt folgte. Der Mann klang unglaublich anmaßend. Seine dunklen Augen schimmerten vor offener Belustigung. »Ihr werdet warten müssen, bis Ihr al'Thor habt, bevor ich Euch gebe, was ihn unter Kontrolle halten wird.«
Er nahm den Sack von seiner Schulter und setzte sich hin, natürlich auf kein in ihrer Nähe befindliches Kissen. Maisia fürchtete keine Klinge in ihren Rippen. Sie lehnte nahe Sevanna auf einem Ellbogen. Sevanna sah sie von der Seite an und öffnete dann beiläufig ihre Bluse etwas weiter. Sie hatte den Busen der Frau nicht so rundlich in Erinnerung. Auch ihr Gesicht erschien ihr jetzt hübscher. Sevanna versagte es sich, mit den Zähnen zu knirschen.
»Wenn Ihr natürlich einen anderen Mann meint...«, fuhr Caddar fort. »Es gibt einen sogenannten Bindungsstuhl. Menschen zu binden, die nicht die Macht lenken können, ist schwieriger als bei Machtlenkern. Vielleicht hat ein Bindungsstuhl die Zerstörung überstanden, aber Ihr werdet warten müssen, bis ich ihn finde.«
Sevanna berührte die Rute erneut und befahl dann einem der Gai'schain ungeduldig, Tee zu bringen. Sie konnte warten. Caddar war ein Narr. Früher oder später würde er ihr alles geben, was sie von ihm haben wollte. Und jetzt konnte die Rute Maisia von ihm lösen. Dann würde die Frau ihn gewiß nicht mehr beschützen. Er würde für seine Unverschämtheiten Schwarz tragen. Sevanna nahm einen kleinen grünen Porzellanbecher von dem Tablett, das der Gai'schain ihr hinhielt, und reichte es der Aes Sedai eigenhändig. »Er ist mit Pfefferminze gewürzt, Maisia. Er wird Euch erfrischen.«
Die Frau lächelte, aber diese schwarzen Augen... Nun, was einer Aes Sedai angetan werden konnte, konnte auch zwei Aes Sedai angetan werden. Oder mehr.
»Was ist mit den Reisekammern?« fragte Sevanna schroff.
Caddar winkte den Gai'schain fort und tätschelte den neben ihm liegenden Sack. »Ich habe so viele Nar'baha mitgebracht - so wurden sie genannt -, wie ich auftreiben konnte. Genug, um Euch alle bei Einbruch der Nacht zu befördern, wenn Ihr es eilig habt. Und ich hätte es an Eurer Stelle eilig. Al'Thor will Euch anscheinend vernichten. Zwei Clans kommen von Süden heran, und zwei weitere nähern sich von Norden mit ihren Weisen Frauen, die alle bereit sind, die Macht zu lenken. Ihre Befehle lauten zu bleiben, bis auch die letzte von Euch tot oder gefangen ist.«
Therava schnaubte. »Das ist gewiß ein Grund, etwas zu unternehmen, Feuchtländer, aber kein Grund davonzulaufen. Selbst vier Clans können Brudermörders Dolch nicht an einem Tag leerfegen.«
»Habe ich es nicht erwähnt?« Caddar lächelte unangenehm. »Al'Thor hat offenbar auch einige Aes Sedai an sich gebunden, und diese haben die Weisen Frauen gelehrt, zumindest über kurze Entfernungen ohne Nar'baha zu reisen, zwanzig oder dreißig Meilen weit. Anscheinend wurde es erst kürzlich wiederentdeckt. Sie könnten - nun, heute hier sein. Alle vier Clans.«
Vielleicht log er, aber das Risiko... Sevanna konnte sich nur zu gut vorstellen, in Sorileas Gewalt zu sein. Sie unterdrückte ein Schaudern und schickte dann Rhiale aus, die anderen Weisen Frauen zu benachrichtigen. Ihre Stimme verriet nichts.
Caddar griff in seine Tasche und zog einen grauen Steinwürfel heraus, kleiner als der Gegenstand, den sie verwandt hatte, um ihn zu rufen, und weitaus einfacher, aber mit einer in eine Seite eingelassenen hellroten Scheibe. »Dies ist ein Nar'baha«, sagte er. »Er benutzt Saidin, so daß niemand von Euch etwas sehen wird, und er hat Grenzen. Wenn eine Frau ihn berührt, wirkt er tagelang nicht mehr, und er hat noch andere Beschränkungen. Einmal eröffnet, bleibt das Wegetor eine bestimmte Zeit bestehen, ausreichend lange, damit wenige Tausend hindurchgelangen können, wenn sie keine Zeit verschwenden, und danach braucht der Nar'baha drei Tage, um sich zu erholen. Ich habe genügend in Reserve, um uns dorthin zu befördern, wo wir heute hingelangen müssen, aber...«
Therava beugte sich so angestrengt vor, daß sie fast vornüber zu kippen schien, aber Sevanna hörte kaum zu. Sie bezweifelte Caddar s Worte nicht. Er würde es nicht wagen, sie zu betrügen, nicht, solange es ihn nach dem Gold verlangte, das die Shaido ihm geben würden. Aber Kleinigkeiten fielen ihr auf. Maisia schien ihn über ihren Teebecher hinweg prüfend zu betrachten. Warum? Und wenn solche Eile geboten war -warum klang seine Stimme nicht dringlich? Er würde sie nicht betrügen, aber sie würde dennoch Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.
Maeric betrachtete stirnrunzelnd den Steinwürfel, den der Feuchtländer ihm gegeben hatte, und sah dann zu der Öffnung, die erschienen war, als er auf den roten Fleck gedrückt hatte. Eine Öffnung mitten in der Luft, fünf Schritte breit und drei Schritte hoch. Jenseits lagen gewellte Hügel, nicht allzu niedrig, die mit braunem Gras bedeckt waren. Er hantierte nicht gern mit der Einen Macht, besonders nicht mit ihrem männlichen Teil. Sevanna trat mit dem Feuchtländer und einer dunklen Frau durch eine weitere, kleinere Öffnung, den Weisen Frauen folgend, die Sevanna und Rhiale auserwählt hatten. Nur eine Handvoll Weise Frauen blieben bei den Moshaine Shaido zurück. Maeric konnte Sevanna durch dieses zweite Tor mit Bendhuin sprechen sehen. Die Grüne Salze-Septime würde sich auch mit wenigen Weisen Frauen zurechtfinden. Dessen war sich Maeric sicher.
Dyrele berührte seinen Arm. »Ehemann«, murmelte sie, »Sevanna sagte, es würde nur kurze Zeit geöffnet bleiben.«
Maeric nickte. Dyrele behielt stets das Wesentliche im Auge. Er verschleierte sich, lief vorwärts und sprang durch die von ihm gestaltete Öffnung. Was auch immer Sevanna und der Feuchtländer sagten - er würde keine seiner Moshaine hindurchschicken, bevor er wußte, daß es sicher war.
Er landete schwer auf einem mit totem Gras bestandenen Hang und rollte fast kopfüber den Hügel hinab, bevor er sich fangen konnte. Er schaute einen Moment zu der Öffnung zurück. Sie befand sich auf dieser Seite mehr als einen Fuß über dem Boden.
»Frau!« rief er. »Da ist eine Stufe!«
Schwarzaugen sprangen hindurch, verschleiert und mit bereitgehaltenen Speeren, und Töchter des Speers ebenfalls. Es wäre genauso unsinnig zu versuchen, Sand zu trinken, wie es sinnlos war, die Töchter des Speers davon abzuhalten, unter den ersten zu sein. Die übrigen Moshaine folgten im Laufschritt, Algai'd'siswai und Frauen und Kinder sprangen hindurch, Handwerker und Händler und Gai'schain, die meisten schwer beladene Packpferde und Maultiere hinter sich herziehend, insgesamt fast sechstausend Menschen. Seine Septime, seine Leute. Sie wären es immer noch, wenn er einst nach Rhuidean ginge. Sevanna konnte ihn nicht mehr lange daran hindern, Clanhäuptling zu werden.
Kundschafter schwärmten sofort aus, während die Septime noch immer aus der Öffnung drang. Maeric senkte seinen Schleier und rief Befehle, woraufhin eine Wand von Algai'd'siswai auf die Anhöhen der umliegenden Hügel zustrebte, während sich alle Verbleibenden unterhalb verbargen. Man konnte nicht wissen, wer oder was jenseits dieser Hügel lag. Üppige Länder, hatte der Feuchtländer behauptet, aber dieser Teil wirkte auf ihn nicht üppig.
Das Vorwärtsstürmen seiner Septime wurde zu einem Fluß von Algai'd'siswai, denen er nicht wirklich vertraute, Männer, die ihren eigenen Clans entflohen waren, weil sie nicht glaubten, daß Rand al'Thor wahrhaftig der Car'a'carn war. Maeric war sich nicht sicher, was er selbst glaubte, aber ein Mann ließ Septime und Clan nicht im Stich. Diese Männer nannten sich Meradin, die Bruderlosen, ein passender Name, und er hatte zweihundert...
Die Öffnung wurde jäh zu einem senkrechten Silberschlitz, der zehn der Bruderlosen durchschnitt. Körperteile fielen auf den Hang, Arme, Beine. Der Rumpf eines Mannes schlitterte fast vor Maerics Füße.
Er starrte die Stelle an, wo sich die Öffnung befunden hatte, und drückte mit dem Daumen auf den roten Fleck. Er wußte, daß es sinnlos war, aber... Darin, sein ältester Sohn, war einer der Steinsoldaten, die als Nachhut gewartet hatten. Sie wären als letzte hindurchgekommen. Suraile, seine älteste Tochter, war bei dem Steinsoldaten geblieben, für den sie vielleicht ihren Speer aufgeben wollte.
Sein Blick begegnete dem Dyreles, so grün und wunderschön wie an dem Tag, an dem sie ihm den Kranz zu Füßen gelegt hatte - und gedroht hatte, ihm die Kehle durchzuschneiden, wenn er ihn nicht aufhöbe. »Wir können warten«, sagte er sanft. Der Feuchtländer hatte von drei Tagen gesprochen, aber vielleicht irrte er sich. Maeric drückte erneut mit dem Daumen auf den roten Fleck. Dyrele nickte ruhig. Er hoffte, daß sie einander nicht weinend in die Arme sinken müßten, wenn sie erst allein sein könnten.
Eine Tochter des Speers rutschte den Hang von oben herab, senkte eilig ihren Schleier und keuchte tatsächlich schwer. »Maeric«, sagte Naeise und wartete nicht einmal ab, bis er sie ansah, »im Osten stehen Speere, nur wenige Meilen entfernt und unmittelbar auf uns zustrebend. Ich glaube, es sind Reyn. Mindestens sieben- oder achttausend Reyn.«
Er konnte weitere Algai'd'siswai auf sich zulaufen sehen. Ein junger Bruder des Adlers, Cairdin, kam schlitternd zum Stehen und sprach, sobald Maeric ihn sah. »Ich grüße Euch, Maeric. Keine fünf Meilen nördlich stehen Speere und Feuchtländer auf Pferden. Vielleicht jeweils zehntausend. Ich glaube nicht, daß unsere Männer die Hügelkämme schon überschritten hatten, aber einige der Speere haben sich uns zugewandt.«
Maeric wußte es, bevor der grauhaarige Wassersucher namens Laerad den Mund öffnete. »Drei oder vier Meilen südlich kommen Speere über einen Hügel. Achttausend oder mehr. Einige von ihnen haben einen der Jungen gesehen.« Laerad verschwendete niemals Worte, und er würde niemals verraten, welcher Junge, der für Laerad tatsächlich jedermann ohne graues Haar sein konnte.
Maeric wußte auch, daß keine Zeit war, Worte zu verschwenden. »Hamal!« rief er. Es war auch keine Zeit für angemessene Höflichkeit gegenüber einem Schmied.
Der große Mann begriff, daß etwas nicht stimmte. Er kletterte den Hang hinauf und bewegte sich dabei wahrscheinlich schneller als jemals zuvor, seit er zum ersten Mal den Hammer aufgenommen hatte.
Maeric reichte ihm den Steinwürfel. »Ihr müßt auf den roten Fleck drücken und ihn gedrückt halten, egal was geschieht und egal wie lange es dauert, bis sich diese Öffnung bildet. Das ist der einzige Ausweg für Euch alle.« Hamal nickte, aber Maeric wartete nicht einmal darauf, daß er die Anweisung bestätigen würde. Hamal würde verstehen. Maeric berührte Dyreles Wange, ungeachtet dessen, wie viele Augen sie beobachteten. »Schatten meines Herzens, du mußt darauf vorbereitet sein, Weiß zu tragen.« Sie streckte die Hand nach ihrem Gürteldolch aus - sie war eine Tochter des Speers gewesen, als sie ihm den Kranz zu Füßen gelegt hatte -, aber er schüttelte energisch den Kopf. »Du mußt leben, Frau, Dachherrin, um zusammenzuhalten, was verbleibt.« Sie nickte und preßte die Finger an seine Wange. Er war überrascht. Sie war in der Öffentlichkeit stets sehr zurückhaltend gewesen.
Maeric hob seinen Schleier und stieß den Speer hoch über den Kopf. »Moshaine!« brüllte er. »Wir tanzen!«
Sie folgten ihm den Hang hinauf, Männer und Töchter des Speers, fast eintausend Menschen, wenn man die Bruderlosen mitzählte - vielleicht konnte man sie zur Septime dazurechnen -, den Hang hinauf und westwärts. In dieser Richtung lag der nächste und zahlenmäßig geringste Feind. Vielleicht könnten sie genug Zeit herausschinden, obwohl er es nicht wirklich glaubte. Er fragte sich, ob Sevanna hiervon gewußt hatte. Ach, die Welt war sehr merkwürdig geworden, seit Rand al'Thor gekommen war. Einige Dinge konnten sich jedoch nicht ändern. Er begann lachend zu singen.
»Reinigt die Speere, während die Sonne aufsteigt.
Reinigt die Speere, während die Sonne sinkt.
Reinigt die Speere; wer fürchtet zu sterben?
Reinigt die Speere; niemand, den ich kenne!«
Die Moshaine Shaido zogen singend in ihren Todestanz.
Graendal beobachtete stirnrunzelnd, wie sich das Wegetor hinter den letzten der Jumai Shaido und vielen Weisen Frauen schloß. Anders als bei den anderen, hatte Sammael sein Netz nicht einfach so gewoben, daß es schließlich zerfallen mußte. Zumindest vermutete sie, daß er es bis zuletzt bestehen ließ. Die Schließung des Wegetors unmittelbar hinter den letzten braun und grau gekleideten Männern wäre sonst zu zufällig gewesen. Sammael warf den Sack lachend beiseite, hielt aber noch immer einige jener nutzlosen Steinstücke fest. Sie hatte ihren eigenen leeren Sack schon lange abgelegt. Die Sonne ging hinter den Bergen im Westen als rot glühende Halbkugel unter.
»An einem jener Tage«, sagte sie trocken, »werdet Ihr wider Willen zu gerissen sein. Vermutet Ihr, daß einer von ihnen verstanden hat?«
»Keiner«, sagte er schlicht, aber er rieb sich weiterhin die Hände und betrachtete die Stelle, an der das Wegetor gewesen war. Oder vielleicht etwas Dahinterliegendes. Er hielt noch immer die Spiegelmaske aufrecht, die ihm die Illusion zusätzlicher Größe vermittelte. Sie hatte ihre Maske fallenlassen, sobald sich das Wegetor geschlossen hatte.
»Nun, es ist Euch gewiß gelungen, sie in Panik zu versetzen.« Um sie herum lag der Beweis: wenige noch stehende niedrige Zelte, Decken, ein Kochtopf, eine Stoffpuppe und alle Arten verstreuten Abfalls. »Wo habt Ihr sie hingeschickt? Vermutlich irgendwo vor al'Thors Heer?«
»Einige«, sagte er wie abwesend. »Ausreichend viele.« Seine nachdenkliche Selbstprüfung verging jäh, wie auch seine Verkleidung. Die Narbe auf seinem Gesicht schien jetzt besonders fahl. »Ausreichend viele, um Schwierigkeiten zu bereiten, besonders wenn ihre Weisen Frauen die Macht lenken, aber nicht so viele, daß jemand mich verdächtigen wird. Die übrigen sind von Illian bis Ghealdan verstreut. Und wie und warum? Vielleicht hat al'Thor es aus eigenen Gründen getan, aber ich hätte sicherlich nicht die meisten von ihnen verschwendet, wenn es mein Werk gewesen wäre, nicht wahr?« Er lachte erneut, von seinem eigenen Scharfsinn beeindruckt.
Graendal richtete das Mieder ihres Gewandes, um ihre Bestürzung zu verbergen. Es war bemerkenswert dumm, auf diese Weise zu wetteifern - sie hatte sich das schon tausendmal gesagt und sich nicht einmal daran gehalten -, bemerkenswert dumm, und jetzt fühlte sich das Gewand an, als würde es abfallen, was jedoch nichts mit ihrer Bestürzung zu tun hatte. Er wußte nicht, daß Sevanna jede Shaido-Frau mitgenommen hatte, welche die Macht lenken konnte. War es letztendlich an der Zeit, ihn fallenzulassen? Wenn sie sich auf Demandreds Gnade verließ...
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte er: »Ihr seid so fest an mich gebunden wie mein Gürtel, Graendal.« Ein Wegetor eröffnete sich und offenbarte seine Privaträume in Illian. »Die Wahrheit ist nicht mehr wichtig, wenn sie es überhaupt jemals war. Ihr steigt mit mir empor oder fallt mit mir. Der Dunkle König belohnt Erfolg, und es hat ihn niemals gekümmert, wie er erreicht wurde.«
»Wie Ihr meint«, antwortete sie. Demandred ließ keine Gnade walten. Und Semirhage... »Ich steige mit Euch auf oder falle mit Euch.« Dennoch - etwas würde ersonnen werden müssen. Der Dunkle König belohnte Erfolg, aber sie würde nicht mit hinabgezogen werden, wenn Sammael versagte. Sie eröffnete ein Wegetor zu ihrem Palast in Arad Doman, zu dem langen, mit Säulen bestandenen Raum, wo sie ihre Lieblinge im Teich herumtollen sehen konnte. »Aber was ist, wenn al'Thor Euch selbst jagt? Was dann?«
»Al'Thor jagt niemanden«, erwiderte Sammael lachend. »Ich brauche nur abzuwarten.« Er betrat, noch immer lachend, sein Wegetor und schloß er hinter sich.
Der Myrddraal trat aus den tieferen Schatten und wurde sichtbar. Die Wegetore hatten in seinen Augen Spuren hinterlassen - drei Flecke leuchtenden Nebels. Er konnte einen Strang nicht vom anderen unterscheiden, aber er konnte Saidin dem Geruch nach von Saidar unterscheiden. Saidin roch wie die scharfe Klinge eines Dolches, wie die Spitze eines Doms. Saidar roch sanft, aber wie etwas, das fester würde, je härter es gedrängt würde. Kein anderer Myrddraal konnte diesen Unterschied riechen. Shaidar Haran war nicht wie andere Myrddraal.
Shaidar Haran hob einen abgelegten Speer auf und benutzte ihn, um den von Sammael beiseite geworfenen Sack umzustülpen und dann die Steinstücke zu untersuchen, die herausfielen. Vieles geschah außerhalb des Plans. Würden diese Ereignisse das Chaos noch mehren, oder...
Zornige schwarze Flammen züngelten von Harans Hand, der Hand des Dieners des Schatten, auf das Speerheft hinab. Der hölzerne Schaft war im Handumdrehen verkohlt und verbogen, und die Speerspitze fiel ab. Der Myrddraal ließ den geschwärzten Stock fallen und wischte sich Ruß von der Handfläche. Wenn Sammael dem Chaos diente, war alles gut. Wenn nicht...
Plötzlicher Schmerz kroch seinen Nacken hinauf. Leichte Schwäche vereinnahmte seine Glieder. Es war ein zu langer Weg von Shayol Ghul. Dieses Band mußte irgendwie getrennt werden. Der Myrddraal wandte sich knurrend um und suchte den Rand des Schattens, den er brauchte. Der Tag kam. Er würde kommen.