Ich verstehe das nicht«, protestierte Elayne. Man hatte ihr keinen Stuhl angeboten. Tatsächlich hatte man ihr, als sie sich hinsetzen wollte, kurz beschieden, sie solle stehen bleiben. Fünf Augenpaare waren auf sie gerichtet, fünf Frauen mit angespannten, grimmigen Gesichtern. »Ihr verhaltet Euch, als hätten wir etwas Schreckliches getan, obwohl wir die Schale der Winde gefunden haben!« Zumindest stand dies unmittelbar bevor, wie sie hoffte. Die Nachricht, mit der Nalesean eilig zurückgekehrt war, war nicht allzu eindeutig. Mat hatte verkündet, er hatte sie gefunden. Oder etwas sehr Ähnliches, hatte Nalesean eingeräumt. Je länger er sprach, desto stärker schwankte er zwischen vollkommener Gewißheit und Zweifeln. Birgitte war zur Beobachtung von Reannes Haus zurückgeblieben. Sie schwitzte anscheinend und langweilte sich. Auf jeden Fall waren die Dinge in Bewegung geraten. Elayne fragte sich, wie Nynaeve vorankam. Hoffentlich besser als sie selbst. Dies hatte sie sicherlich niemals erwartet, wenn sie ihren Erfolg verkündete.
»Ihr habt ein Geheimnis gefährdet, das seit über zweitausend Jahren von jeder Frau, welche die Stola trägt, streng bewahrt wurde.« Merilille saß starr aufgerichtet da und schien sich am Rande eines Schlaganfalls zu befinden. »Ihr müßt verrückt gewesen sein! Nur Wahnsinn könnte dies entschuldigen!«
»Welches Geheimnis?« fragte Elayne.
Vandene, die neben Merilille saß, richtete verärgert ihre hellgrünen Seidenröcke. »Dafür ist noch genug Zeit wenn Ihr wirklich erhoben worden seid, Kind. Ich dachte, Ihr hättet ein wenig Verstand.« Adeleas, in dunkelgrauem Tuch mit tiefbraunen Verzierungen, nickte und spiegelte so Vandenes Mißfallen wider.
»Man kann dem Kind nicht vorwerfen, ein Geheimnis enthüllt zu haben, das es nicht kennt«, bemerkte Careane Fransi zu Elaynes Linken und regte sich in ihrem grüngoldenen Lehnstuhl. Sie war nicht stämmig, hatte aber fast so breite Schultern und dicke Arme wie die meisten Männer.
»Das Burggesetz gestattet keine Entschuldigungen«, warf Sareitha schnell in recht überheblichem Tonfall ein, wobei ihr normalerweise wißbegieriger Blick streng wirkte. »Wenn erst bloße Entschuldigungen gestattet sind, wird das Gesetz selbst seine Gültigkeit verlieren.« Ihr hochlehniger Stuhl stand zu Elaynes Rechten. Nur sie trug ihre Stola, aber Merililles Wohnraum war wie ein Gericht angeordnet worden, obwohl niemand es so nannte. Jedenfalls bis jetzt nicht. Merilille, Adeleas und Vandene stellten sich Elayne wie Richter entgegen, Sareithas Stuhl stand dort, wo sich der Sitz des Anklägers befände, und Careanes Stuhl am Platz des Verteidigers, und die Domani-Grüne nickte nachdenklich, während die tairenische Braune, die ihre Anklägerin gewesen wäre, fortfuhr. »Sie hat ihre Schuld selbst zugegeben. Ich empfehle, daß das Kind auf den Palast beschränkt werden sollte, bis wir abreisen, und harte Arbeit leistet, damit ihr Geist und ihre Hände beschäftigt sind. Weiterhin empfehle ich in regelmäßigen Abständen eine kräftige Anzahl Hiebe, um sie daran zu erinnern, nicht hinter dem Rücken von Schwestern zu handeln. Und dasselbe für Nynaeve, sobald sie ausfindig gemacht werden kann.«
Elayne schluckte. Auf den Palast beschränkt? Vielleicht mußten sie dies nicht als Gerichtsverhandlung bezeichnen, damit es eine war. Sareitha hatte vielleicht noch nicht die alterslosen Züge erworben, aber das Gewicht des Alters der anderen Frauen erdrückte Elayne. Adeleas und Vandene, deren Haar fast vollkommen weiß war - und selbst ihre alterslosen Gesichter spiegelten das Alter wider. Merililles Haar war glänzend schwarz, und doch hätte es Elayne nicht überrascht zu erfahren, daß sie die Stola genauso lang oder länger als die meisten Aes Sedai trug. Das gleiche könnte für Careane gelten. Keine von ihnen beherrschte die Macht so gut wie sie selbst, aber ... all diese Erfahrungen als Aes Sedair all dieses Wissen, dieses Ansehen. Eine starke Erinnerung daran, daß sie erst achtzehn war und noch vor einem Jahr Novizinnen-Weiß trug.
Careane machte keinerlei Anstalten, Sareithas Vorschlägen zu widersprechen. Vielleicht sollte sie sich am besten selbst verteidigen. »Dieses Geheimnis, von dem Ihr sprecht, hat offensichtlich etwas mit dem Zirkel zu tun, aber...«
»Die Schwesternschaft geht Euch nichts an, Kind«, unterbrach Merilille sie scharf. Sie atmete tief ein und glättete die silbergrauen Röcke mit den goldenen Schlitzen. »Ich schlage vor, daß wir das Urteil fällen«, sagte sie kalt.
»Ich stimme mit Euch überein und beuge mich Eurer Entscheidung«, sagte Adeleas. Sie sah Elayne enttäuscht an und schüttelte stirnrunzelnd den Kopf.
Vandene winkte ab. »Ich stimme überein und beuge mich. Aber ich schließe mich dem Sitz des Anklägers an.« Careanes Blick enthielt vielleicht ein wenig Mitleid.
Merilille öffnete den Mund.
Das schüchterne Klopfen an der Tür durchbrach die augenblickliche, bedrohliche Stille.
»Was, unter dem Licht, gibt es?« murrte Merilille ärgerlich. »Ich hatte Pol gesagt, daß niemand uns stören soll. Careane?«
Nicht die jüngste, aber die schwächste in der Macht, erhob sich Careane und glitt zur Tür. Sie bewegte sich trotz ihrer kräftigen Gestalt stets anmutig wie ein Schwan.
Es war Pol selbst, Merililles Dienerin, die hereinplatzte und nach rechts und links gerichtet Hofknickse vollführte. Eine schlanke, grauhaarige Frau, die normalerweise eine Würde an den Tag legte, die der ihrer Herrin gleichkam, runzelte sie jetzt besorgt die Stirn, was auch angemessen war, nachdem sie trotz Merililles Anweisungen hier eingedrungen war. Elayne war nicht mehr so froh gewesen, jemanden zu sehen, seit ... seit Mat Cauthon im Stein von Tear erschien. Ein entsetzlicher Gedanke. Wenn Aviendha nicht bald sagte, sie sei ihrem Toh ausreichend begegnet, könnte sie vielleicht einfach ausprobieren, ob ihre Qual beendet werden könnte, wenn sie den Mann bat, sie doch noch zu schlagen.
»Die Königin hat dies selbst gebracht«, verkündete Pol atemlos und streckte einen mit einem großen roten Wachsklumpen versiegelten Brief aus. »Sie sagte, wenn ich ihn Elayne nicht sofort brächte, würde sie ihn ihr selbst hineinbringen. Sie sagte, es ginge um die Mutter des Kindes.« Elayne hätte fast mit den Zähnen geknirscht. Die Dienerinnen der Schwestern hatten alle bereits die Art ihrer Herrinnen angenommen, über Nynaeve und sie zu reden, wenn auch selten dort, wo sie es hören konnten.
Sie riß den Brief wütend an sich, bevor Merilille es ihr erlaubte - wenn sie es ihr erlaubt hätte - und brach das Siegel mit dem Daumen.
Meine Lady Elayne!
Ich grüße die Tochter-Erbin von Andor mit erfreulichen Neuigkeiten. Ich habe vor kurzem erfahren, daß Eure Mutter, Königin Morgase, lebt, derzeit Gast Pedron Nialls in Amador ist und sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder mit Euch vereint zu sein, damit Ihr gemeinsam im Triumph nach Andor zurückkehren könnt.
Ich biete Euch Begleitung zum Schutz vor den Altara zur Zeit heimsuchenden Straßenräubern an, damit Ihr unversehrt und schnell bei Eurer Mutter eintrefft. Verzeiht diese wenigen, armseligen Worte, hastig hingeschmiert, aber ich weiß, daß Ihr die wunderbare Nachricht so bald wie möglich erfahren wollt. Bis ich Euch Eurer Mutter übergeben kann.
Im Licht versiegelt, Jaichim Carridin Sie zerknüllte das Papier in der Faust. Wie konnte er es wagen? Der Schmerz über den Tod ihrer Mutter, auch wenn sie deren Leichnam nicht hatte begraben können, begann erst allmählich zu verblassen, und Carridin wagte es, sie auf diese Weise zu verhöhnen? Sie umarmte die Wahre Quelle, schleuderte die widerwärtigen Lügen von sich und lenkte die Macht. Feuer entflammte mitten in der Luft, so heiß, daß nur Aschestaub auf die blaugoldenen Bodenfliesen regnete. Das für Jaichim Carridin. Und was diese ... Frauen betraf! Der Stolz von tausend Jahren andoranischer Königinnen stählte ihr Rückgrat.
Merilille sprang auf. »Man hat Euch nicht erlaubt, die Macht zu lenken! Ihr werdet sie loslassen...!«
»Verlaßt uns, Pol«, sagte Elayne. »Jetzt.« Die Dienerin starrte sie an, aber Elaynes Mutter hatte sie den Befehlston gut gelehrt, die vom Thron herabklingende Stimme einer Königin. Pol vollführte flüchtig einen Hofknicks und war bereits wieder in Bewegung, bevor sie es erkannte, und dann zögerte sie nur kurz, bevor sie hinauseilte und die Tür hinter sich schloß. Was auch immer geschehen würde, ging eindeutig nur Aes Sedai an.
»Was ist in Euch gefahren, Kind?« Reiner Zorn überwog Merililles wiedergewonnene Ruhe. »Laßt die Quelle sofort los, oder ich schwöre, daß ich Euch auf der Stelle selbst verprügeln werde!«
»Ich bin eine Aes Sedai.« Die Worte klangen eiskalt, und Elayne meinte es auch so. Carridins Lügen und diese Frauen. Merilille drohte, sie zu verprügeln? Sie würden ihren rechtmäßigen Platz als Schwester anerkennen. Sie und Nynaeve hatten die Schale gefunden! Jedenfalls so gut wie, und die Vorkehrungen für ihren Gebrauch waren im Gange. »Ihr schlagt vor, mich dafür zu bestrafen, daß ich ein Geheimnis gefährdet habe, das offensichtlich nur Schwestern bekannt ist, aber niemand hat sich die Mühe gemacht, mir dieses Geheimnis mitzuteilen, als ich die Stola erhielt. Ihr schlagt vor, mich wie eine Novizin oder eine Aufgenommene zu bestrafen, aber ich bin eine Aes Sedai. Ich wurde von Egwene al'Vere, der Amyrlin, der Ihr zu dienen vorgebt, zur Stola erhoben. Wenn Ihr leugnet, daß Nynaeve und ich Aes Sedai sind, dann verleugnet Ihr den Amyrlin-Sitz, der mich ausgeschickt hat, die Schale der Winde zu finden, was wir ja auch getan haben. Das werde ich nicht zulassen! Ich ziehe Euch zur Rechenschaft, Merilille Ceandevin. Unterwerft Euch dem Willen des Amyrlin-Sitzes, oder ich werde Euch als aufrührerische Verräterin anklagen!«
Merililles Augen traten hervor und ihr Mund stand offen, aber neben Careane und Sareitha, die an ihrer Ungläubigkeit zu ersticken schienen, wirkte sie noch gefaßt. Vandene war anscheinend nur geringfügig überrascht und preßte unter leicht geweiteten Augen nachdenklich einen Finger auf die Lippen, während Adeleas sich vorbeugte und Elayne betrachtete, als sähe sie sie zum erstenmal.
Elayne schwebte durch das Lenken der Macht zu einem der hohen Lehnstühle, setzte sich hin und richtete ihre Rocke. »Ihr dürft Euch setzen, Merilille.« Sie sprach noch immer im Befehlston - anscheinend war dies die einzige Möglichkeit, sie zum Zuhören zu bewegen -, aber sie war bestürzt, als Merilille tatsächlich wieder auf ihren Stuhl sank und sie anstarrte.
Elayne blieb äußerlich ruhig und kühl, aber innerlich brodelte der Zorn. Nein, er kochte. Geheimnisse. Sie hatte schon immer gedacht die Aes Sedai bewahrten zu viele Geheimnisse, selbst voreinander. Besonders voreinander. Tatsächlich bewahrte sie auch selbst welche, aber nur, wenn es nötig war und nicht vor jenen, die davon wissen mußten. Und diese Frauen hatten erwogen, sie zu bestrafen! »Ihr habt Eure Amtsgewalt von der Burg erhalten, Merilille. Nynaeve und ich haben sie vom Amyrlin-Sitz erhalten. Unsere Amtsgewalt hebt Eure auf. Von jetzt an werdet Ihr Eure Anweisungen von Nynaeve oder mir erhalten. Natürlich werden wir sorgfältig jedem Rat lauschen, den Ihr uns vielleicht erteilen wollt.« Sie hatte schon vorher gedacht, Merililles Augen seien hervorgetreten...
»Unmöglich!« platzte die Graue heraus. »Ihr seid...« »Merilille!« sagte Elayne streng und beugte sich vor. »Verleugnet Ihr die Autorität Eurer Amyrlin noch immer? Wagt Ihr es noch immer?« Merilille bewegte lautlos die Lippen. Sie schüttelte heftig den Kopf. Elayne verspürte einen Schauder des Frohlokkens. All das Gerede über Merilille und daß sie angewiesen würde, war natürlich Unsinn, aber Merilille würde sie anerkennen. Thom und ihre Mutter hatten beide gesagt, man müsse viel fordern, um wenig zu bekommen. Dennoch genügte es nicht, ihren Zorn zu dämpfen. Sie erwog halbwegs, selbst Schläge auszuteilen und auszuprobieren, wie weit sie dies weitertreiben konnte. Aber das würde alles verderben. Sie würden sich dann nur zu schnell ihres Alters erinnern und daran, vor wie kurzer Zeit Elayne erst ihr Novizinnengewand abgelegt hatte. Sie könnten sie sogar als törichtes Kind einschätzen. Dieser Gedanke nährte ihren Zorn erneut. Aber sie begnügte sich mit den Worten: »Während Ihr in Ruhe darüber nachdenkt was Ihr mir als Aes Sedai noch erzählen solltet, Merilille, werden Adeleas und Vandene mich in dieses Geheimnis einweihen, das ich gefährdet habe. Wollt Ihr mir erzählen, die Burg habe die ganze Zeit von dieser Schwesternschaft gewußt?« Die arme Reanne und ihre Hoffnungen, der Aufmerksamkeit der Aes Sedai zu entgehen.
»Vermutlich in dem Grad, wie sie sich dazu überwinden konnten, sich Schwestern zu nähern«, erwiderte Vandene vorsichtig. Sie betrachtete Elayne so aufmerksam, wie auch ihre Schwester es jetzt tat. Obwohl sie eine Grüne war, verhielt sie sich in vielerlei Hinsicht genauso wie Adeleas. Careane und Sareitha wirkten benommen und ließen ungläubige Blicke von einer stummen, mit geröteten Wangen dasitzenden Merilille zu Elayne und zurück wandern.
»Selbst während der Trolloc-Kriege haben Frauen die Prüfungen nicht bestanden; ihnen fehlte die Stärke oder sie wurden aus einem der üblichen Gründe aus der Burg verwiesen.« Adeleas hatte einen belehrenden Tonfall angenommen. Das taten Braune häufig, wenn sie etwas erklärten. »Es ist unter den gegebenen Umständen kaum überraschend, daß einige von ihnen sich fürchteten, allein in die Welt hinauszugehen. Immerhin blieb ihnen noch die Möglichkeit, nach Barashta zu flüchten, wie die damals hier bestehende Stadt genannt wurde. Obwohl sich der Hauptteil Barashtas natürlich dort befand, wo jetzt der Rahad ist. Kein Stein von Barashta ist geblieben. Die Trolloc-Kriege haben Eharon bis vor kurzem nicht wirklich betroffen, aber letztendlich fiel Barashta genauso vollständig wie Barsine oder Shaemal oder...«
»Die Schwesternschaft«, unterbrach Vandene sie sanft. Adeleas blinzelte ihr zu und nickte dann. »Die Schwesternschaft blieb auch nach dem Fall Barashtas genauso bestehen wie zuvor und nahm Wilde und aus der Burg verwiesene Frauen auf.« Elayne runzelte die Stirn. Herrin Anan hatte gesagt die Schwesternschaft nehme auch Wilde auf, aber Reannes größte Sorge war anscheinend gewesen, ihr und Nynaeve zu beweisen, daß sie es nicht täten.
»Keine Frau blieb jemals lange«, fügte Adeleas hinzu. »Fünf Jahre, vielleicht zehn, damals vermutlich genauso wie heute. Wenn sie erst erkennen, daß ihre kleine Gruppe kein Ersatz für die Weiße Burg ist, gehen sie und werden Dorfheilerinnen oder Weise oder dergleichen, oder sie vergessen die Macht irgendwann, hören auf, sie zu lenken und üben ein Handwerk oder Gewerbe aus. Auf jeden Fall verschwinden sie gewissermaßen.« Elayne fragte sich, wie jemand die Eine Macht vergessen konnte. Der Drang, die Macht zu lenken, die Versuchungen der Quelle waren immer vorhanden, wenn man erst gelernt hatte, sie zu handhaben. Aes Sedai glaubten jedoch anscheinend, einige Frauen könnten dies einfach ablegen, wenn sie herausfanden, daß sie keine Aes Sedai sein würden.
Vandene übernahm erneut die Erklärung. Die Schwestern sprachen häufig beinahe abwechselnd, wobei jede ruhig dort fortfuhr, wo die andere aufgehört hatte. »Die Burg hat fast von Anfang an von der Schwesternschaft gewußt, vielleicht sogar wirklich von Anfang an. Zunächst waren zweifellos die Kriege wichtiger. Und obwohl sie sich eine Schwesternschaft nannten, haben sie einfach das getan, was wir von solchen Frauen erwarten. Sie blieben im verborgenen, hielten sogar den Umstand geheim, daß sie die Macht lenken konnten, und zogen keine wie auch immer geartete Aufmerksamkeit auf sich. Im Verlauf der Jahre begannen sie sogar - natürlich geheim und vorsichtig -, einander zu benachrichtigen, wenn eine von ihnen eine Frau aufspürte, die unrechtmäßigerweise die Stola zu tragen behauptete. Habt Ihr etwas gesagt?«
Elayne schüttelte den Kopf. »Careane, ist noch Tee in der Kanne?« Careane zuckte leicht zusammen. »Ich denke, Adeleas und Vandene würden vielleicht gern ihre Lippen benetzen.« Die Domani sah die noch immer benommene Merilille nicht einmal an, bevor sie zu dem Tisch trat, auf dem sich die silberne Teekanne und die Becher befanden. »Das erklärt noch nicht alles«, fuhr Elayne fort. »Warum ist das Wissen um sie ein solches Geheimnis? Warum wurden sie nicht schon vor langer Zeit zerstreut?«
»Nun, durch die Davongelaufenen natürlich.« Adeleas ließ es wie das Offensichtlichste auf der Welt klingen. »Es ist eine Tatsache, daß andere Versammlungen gesprengt wurden, sobald sie aufgefunden wurden - die letzte vor ungefähr zweihundert Jahren -, aber die Schwesternschaft ist nicht sehr groß und verhält sich ruhig. Die letzte Gruppe nannte sich Töchter des Schweigens, aber sie waren kaum schweigsam. Sie waren insgesamt nur dreiundzwanzig, Wilde, die sich zusammengeschlossen hatten und in gewisser Weise von zwei früheren Aufgenommenen ausgebildet wurden, aber sie...«
»Davongelaufene«, warf Elayne ein, während sie mit dankbarem Lächeln einen Becher von Careane entgegennahm, Sie hatte keinen für sich selbst erbeten, aber sie erkannte abwesend, daß die Frau sie zuerst bedacht hatte. Vandene und ihre Schwester hatten sich auf dem Weg nach Ebou Dar recht ausführlich über Davongelaufene unterhalten.
Adeleas blinzelte und hielt sich bei diesem Thema zurück. »Die Schwesternschaft hilft Davongelaufenen. Sie haben stets zwei oder drei Frauen in Tar Valon, die aufpassen. Einerseits nähern sie sich fast jeder ausgewiesenen Frau auf sehr umsichtige Weise, und andererseits gelingt es ihnen, jede Davongelaufene ungeachtet dessen aufzuspüren, ob sie eine Novizin oder eine Aufgenommene ist. Zumindest konnte seit den Trolloc-Kriegen keine die Insel ohne ihre Hilfe verlassen.«
»O ja«, sagte Vandene, als Adeleas innehielt, um ebenfalls einen Becher von Careane entgegenzunehmen. Er war zunächst Merilille angeboten worden, aber diese saß nur zusammengesunken und ins Leere blickend da. »Wenn es jemandem gelingt zu entkommen, wissen wir, wo wir nachsehen müssen, und sie endet fast immer wieder in der Burg und wünschte, sie wäre niemals geflohen. Jedenfalls solange die Schwesternschaft nicht weiß, daß wir von ihr wissen. Wenn das geschieht, werden die Zustände aus der Zeit vor dem Entstehen der Schwesternschaft zurückkehren, als eine der Burg entfliehende Frau überall hingehen konnte. Damals waren es mehr - Aes Sedai, Aufgenommene, Novizinnen und Davongelaufene -, und in manchen Jahren konnten zwei oder drei von ihnen gänzlich entkommen, in anderen Jahren drei von vier. Mit Hilfe der Schwesternschaft bringen wir mindestens neun von zehn zurück. Jetzt könnt Ihr vielleicht erkennen, warum die Burg die Schwesternschaft und ihr Geheimnis wie wertvolle Edelsteine bewahrt hat.«
Das konnte Elayne tatsächlich. Eine Frau war erst mit der Weißen Burg fertig, wenn die Weiße Burg mit ihr fertig war. Außerdem konnte es dem Ruf der Burg, unfehlbar zu sein, nicht schaden, wenn sie Davongelaufene immer einfing. Fast immer. Nun, jetzt wußte sie es.
Sie erhob sich und war erstaunt, daß Adeleas, Vandene und Sareitha es ihr gleichtaten. Sogar Merilille stand auf. Alle sahen Elayne erwartungsvoll an, auch Merilille.
Vandene bemerkte ihre Überraschung und lächelte. »Noch etwas, was Ihr vielleicht nicht wißt. Wir Aes Sedai sind auf vielerlei Art ein streitsüchtiges Völkchen. Jede verteidigt eifersüchtig ihren Platz und ihre Privilegien, aber wenn uns jemand vorangestellt wird oder bereits über uns steht, neigen wir dazu, ihr überwiegend recht sanftmütig zu folgen. Wie sehr wir innerlich vielleicht auch über ihre Entscheidungen schimpfen.«
»Nun, das tun wir«, murmelte Adeleas zufrieden, als hätte sie gerade etwas entdeckt.
Merilille atmete tief ein und beschäftigte sich einen Moment damit, ihre Röcke zu glätten. »Vandene hat recht«, sagte sie schließlich. »Ihr steht selbst über uns, und ich muß zugeben, daß Ihr uns anscheinend auch vorangestellt wurdet. Wenn unserem Verhalten Strafe gebührt... Nun, Ihr werdet es uns wissen lassen, wenn dem so ist. Wohin sollen wir Euch folgen? Wenn ich mir die Frage erlauben darf?« Nichts davon klang sarkastisch. Wenn überhaupt etwas, dann war ihr Tonfall höflicher, als Elayne ihn bisher bei ihr erlebt hatte.
Sie dachte, jede jemals lebende Aes Sedai wäre stolz, wenn sie ihre Miene so gut unter Kontrolle hätte wie sie gerade. Sie wollte nur, daß sie als wahre Aes Sedai anerkannt wurde. Sie bekämpfte den kurzzeitigen Drang zu widersprechen, sie sei zu jung, zu unerfahren.
Sie atmete tief ein und lächelte herzlich. »Das erste, woran wir uns erinnern müssen, ist, daß wir alle Schwestern sind, in jeglicher Bedeutung des Wortes. Wir müssen zusammenarbeiten. Die Schale der Winde ist zu bedeutsam, als daß es weniger sein dürfte.« Sie hoffte, daß sie alle auch noch ebenso begeistert nicken würden, wenn sie ihnen erzählte, was Egwene beabsichtigte. »Vielleicht sollten wir uns wieder hinsetzen.« Alle warteten, bis sie saß, bevor sie selbst sich wieder niederließen. Elayne hoffte, daß Nynaeve auch nur annähernd so gut zurechtkam. Wenn sie dies herausfände, würde sie vor Schreck ohnmächtig werden. »Ich habe Euch auch etwas über die Schwesternschaft zu sagen.«
Sehr bald war es Merilille, die vor Schreck ohnmächtig zu werden schien, und selbst Adeleas und Vandene waren nicht weit davon entfernt. Aber sie sagten weiterhin: »Ja, Elayne« und »Wenn Ihr es sagt, Elayne«. Vielleicht würde von jetzt an alles reibungslos verlaufen.
Die Sänfte schwankte durch die Menge von Feiernden entlang des Kais, als Moghedien die Frau erblickte. Ein Diener in Grün und Weiß half ihr an einer der Bootsanlegestellen aus einer Kutsche. Eine weiße Federmaske bedeckte ihr Gesicht vollkommener als Moghediens Maske das ihre, aber sie hätte diesen entschlossenen Schritt, diese Frau, aus jedem Blickwinkel bei jedem Licht erkannt. Das geschnitzte Gitterwerk, das die in der geschlossenen Sänfte als Fenster diente, hinderte sie gewiß ebenfalls nicht daran. Zwei Burschen mit Schwertern an der Hüfte kletterten vom Kutschendach herab und folgten der maskierten Frau.
Moghedien schlug mit der Faust gegen die Seite der Sänfte und schrie: »Halt!« Die Träger hielten so jäh an, daß sie fast nach vorn fiel.
Die Menge drängte vorüber, wobei einige ihre Träger mit Flüchen bedachten, weil sie den Weg versperrten, und andere eher humorvolle Bemerkungen machten. Hier unten am Fluß war die Menge weniger dicht, so daß sie durch die Lücken hinweg weiterhin beobachten konnte. Das Boot, das gerade ablegte, war recht auffällig. Das Dach der niedrigen Kabine im hinteren Teil des Bootes war rot bemalt. Sie bemerkte diese Vorliebe an keinem der anderen Boote, die an dem langen Kai warteten.
Sie benetzte zitternd ihre Lippen. Moridins Anweisungen waren sehr genau gewesen und der Preis für Versagen qualvoll deutlich gemacht worden. Aber eine kleine Verzögerung würde nichts schaden. Jedenfalls dann nicht, wenn er niemals davon erfuhr.
Sie öffnete schwungvoll die Tür, stieg aus und sah sich hastig um. Dort, dieses Gasthaus, von dem aus man die Docks überblicken konnte. Und den Fluß. Sie hob ihre Röcke an und eilte davon, ohne die geringste Befürchtung zu hegen, daß jemand ihre Sänfte mieten könnte. Bis sie das sie umgebende Zwangsgewebe löste, würden die Träger jedermann, der fragte, sagen, sie seien besetzt, und dort stehenbleiben, bis sie Hungers starben. Ein Pfad eröffnete sich vor ihr, da Männer und Frauen in Federmasken beiseite sprangen, bevor sie sie erreichte, und sich schreiend die Körperstellen hielten, wo sie einen Stich gespürt zu haben glaubten. Was auch geschehen war, da keine Zeit war, so viele Geister mit komplizierten Geweben zu binden, aber ein aus Luft gewobener Nadelschauer tat hier denselben Dienst.
Die stämmige Wirtin des Ruderers Stolz sprang beim Anblick der ihren Schankraum in prächtiger scharlachroter, mit Goldfäden durchwirkter Seide und schwarzer Seide, die beinahe ebenso üppig glänzte wie das Gold, betretenden Moghedien fast ebenfalls beiseite. Moghediens Maske war ein gewaltiger Sprühregen pechschwarzer Federn mit einem scharfen, schwarzen Schnabel: ein Rabe. Das war Moridins Scherz, auf seinen Befehl hin trug sie die Maske und tatsächlich auch das Gewand. Seine Farben seien Schwarz und Rot, hatte er gesagt, und sie würde sie tragen, solange sie ihm diente. Sie war in Livree, wie geschmackvoll auch immer diese gearbeitet war, und sie hätte jedermann töten mögen, der sie sah.
Statt dessen spann sie hastig ein Gewebe um die Wirtin, das diese sich starr aufrichten und ihre Augen hervortreten ließ. Keine Zeit für Feinheiten. Auf Moghediens Befehl hin, ihr das Dach zu zeigen, rannte die Frau die geländerlose Treppe an der Seite des Raums hinauf. Es war unwahrscheinlich, daß einer der federgeschmückten Trinker etwas Ungewöhnliches am Verhalten der Wirtin bemerkte, dachte Moghedien mit leisem Lachen. Das Ruderers Stolz hatte wahrscheinlich niemals zuvor einen Gast ihrer Güte erlebt.
Auf dem Flachdach wog sie rasch die Gefahren ab, die es bergen würde, wenn sie die Wirtin leben ließe beziehungsweise sie tötete. Leichen gaben letztendlich auch einen Hinweis. Wenn man still in den Schatten verborgen bleiben wollte, tötete man nicht, wenn es nicht unbedingt sein mußte. Hastig paßte sie das Zwangsgewebe an und befahl der Frau, in ihr Zimmer hinabzugehen, sich schlafen zu legen und zu vergessen, daß sie sie jemals gesehen hatte. Durch die Eile war es möglich, daß die Wirtin den ganzen Tag vergessen oder im Geiste schwerfälliger aufwachen würde, als sie es bisher gewesen war - so vieles in Moghediens Leben wäre um so vieles leichter gewesen, wenn ihr Talent, Zwang auszuüben, besser entwickelt gewesen wäre -, aber immerhin eilte die Frau davon, gehorchte bereitwillig und ließ sie allein.
Als die Dachluke zum schmutzigen, weiß gefliesten Dach zufiel, keuchte Moghedien bei dem plötzlichen Gefühl, daß Finger ihren Geist streiften und ihre Seele ertasteten. Moridin tat dies manchmal. Eine Mahnung, sagte er, als brauchte sie noch mehr Mahnungen. Sie hätte sich fast nach ihm umgesehen. Sie bekam eine Gänsehaut, als wäre plötzlich ein eisiger Wind aufgekommen. Die Berührung schwand, und sie erzitterte erneut. Sie kam und ging und mahnte sie. Moridin selbst konnte jederzeit überall auftauchen. Schnell.
Sie eilte zu der niedrigen Mauer, die das Dach umgab, und suchte den sich unter ihr ausbreitenden Fluß ab. Eine Menge Boote aller Größen wurden zwischen größeren vor Anker liegenden oder segelbespannten Schiffen entlang gerudert. Die meisten der Kabinen von der Art, wie sie sie suchte, bestanden aus einfachem Holz, aber da sah sie ein gelbes Dach und dort ein blaues und da, mitten auf dem Fluß und schnell südwärts gleitend... Rot. Es mußte das richtige sein. Sie durfte keine Zeit mehr verlieren.
Sie hob die Hände, aber als ihnen Baalsfeuer entsprang, blitzte etwas um sie herum auf, und sie zuckte zusammen. Moridin war gekommen. Er war da, und er würde... Sie sah den davonflatternden Tauben nach. Tauben! Sie hätte sich beinahe auf das Dach erbrochen. Ein Blick zum Fluß machte sie wütend.
Weil sie zusammengezuckt war, hatte das Baalsfeuer, das die Kabine und den Passagier hatte durchschneiden sollen, das Boot diagonal in der Mitte durchschnitten, ungefähr dort, wo die Ruderer und Leibwächter gestanden hatten. Weil die Ruderer aus dem Muster getilgt worden waren, bevor das Baalsfeuer auftraf, befanden sich die beiden Hälften des Bootes jetzt wieder gut hundert Schritt weiter hinten auf dem Fluß. Aber vielleicht war dies doch keine völlige Katastrophe. Weil das Stück aus der Mitte des Bootes im gleichen Moment verschwunden war, als die Ruderer starben, hatte das Boot minutenlang voll Wasser laufen können. Die beiden Teile des Bootes sanken in einem schäumenden Luftblasen-Wirbel schnell außer Sicht, noch während sie den Blick hinwandte, und rissen ihren Passagier mit in die Tiefe.
Plötzlich wurde ihr bewußt, was sie getan hatte. Sie hatte sich stets im Finstern bewegt, sich stets verborgen gehalten, hatte stets... Jede Frau in der Stadt, welche die Macht lenken konnte, würde jetzt wissen, daß jemand viel Saidar herangezogen hatte, wenn sie auch nicht wissen würden wofür, und jeder Beobachter hatte jenen Streifen flüssigen weißen Feuers durch den Nachmittag schneiden sehen. Angst verlieh ihr Flügel. Nicht Angst. Entsetzen.
Sie raffte ihre Röcke, hastete die Treppe hinab, eilte durch den Schankraum, wobei sie gegen Tische stieß und Menschen ins Taumeln brachte, die ihr aus dem Weg zu gelangen versuchten, rannte auf die Straße, zu erschrocken, um nachzudenken, und schlug sich mit den Händen einen Weg durch die Menge.
»Lauft!« schrie sie und warf sich in die Sänfte. Ihre Röcke verfingen sich in der Tür. Sie riß sie frei. »Lauft!«
Die Träger rannten sofort los, so daß sie geschüttelt wurde, aber es kümmerte sie nicht. Sie hielt sich mit in das geschnitzte Gitterwerk verschränkten Fingern fest und zitterte unkontrolliert. Er hatte dies nicht verboten. Er würde ihr vielleicht vergeben oder ihre selbständig ausgeführte Tat sogar vergessen, wenn sie seine Anweisungen schnell und wirkungsvoll ausführte. Das war ihre einzige Hoffnung. Sie würde Falion und Ispan kriechen lassen!