36 Klingen

Min wußte nicht, ob sie stöhnen oder schreien oder sich hinsetzen und weinen sollte. Caraline sah Rand mit geweiteten Augen an und befand sich anscheinend im gleichen Dilemma.

Toram rieb sich lachend die Hände. »Hört alle zu«, rief er. »Ihr werdet einen Wettkampf sehen. Macht Platz! Macht Platz!« Er scheuchte Leute aus der Zeltmitte zur Seite.

»Schafhirte«, grollte Min, »du bist nicht einfältig. Du besitzt überhaupt kein Gehirn!«

»So würde ich es nicht ausdrücken«, sagte Caraline sehr trocken, »aber ich schlage vor, daß Ihr jetzt geht. Welche ... Tricks ... auch immer Ihr anzuwenden gedenkt - in diesem Zelt befinden sich sieben Aes Sedai, von denen vier, die auf ihrem Weg nach Tar Valon kürzlich aus dem Süden eingetroffen sind, der Roten Ajah angehören. Sollte eine von ihnen auch nur den geringsten Verdacht hegen, fürchte ich sehr, daß niemals geschehen wird, was sich aus dem heutigen Tag ergeben könnte. Also geht jetzt besser.«

»Ich werde keine ... Tricks ... anwenden.« Rand löste seinen Schwertgürtel und reichte ihn Min. »Wenn ich Euch und Darlin in gewisser Weise beeinflußt habe, kann ich Toram vielleicht auf andere Art beeinflussen.« Die Menge drängte zurück und eröffnete eine zwanzig Schritt weite Fläche zwischen zwei der großen Zeltmittelstangen. Einige sahen Rand an, und viele stießen sich in die Rippen und lachten verstohlen. Den Aes Sedai wurden natürlich Ehrenplätze eingeräumt -Cadsuane und ihre beiden Freundinnen auf der einen und vier alterslosen Frauen mit der Stola der Roten Ajah auf der anderen Seite. Cadsuane und ihre Begleiterinnen betrachteten Rand mit offener Mißbilligung und fast so verärgert, wie eine Aes Sedai es nur zu zeigen vermochte, aber die Roten Schwestern schienen eher über ihre Mitschwestern besorgt. Zumindest gelang es ihnen, obwohl sie einander unmittelbar gegenüber standen, die Gegenwart jeglicher anderer Schwestern zu vergessen. Niemand konnte so blind sein, ohne sich zu bemühen.

»Hört mir zu, Cousin.« Caralines leise Stimme knisterte fast vor Eindringlichkeit. Sie stand sehr nahe und verrenkte sich fast den Hals, um zu ihm hochzublicken. Sie reichte ihm kaum bis zur Brust, wirkte aber bereit, ihn zu ohrfeigen. »Wenn Ihr keinen Eurer speziellen Tricks anwendet«, fuhr Caraline fort, »kann er Euch, selbst mit Übungsschwertern, ernsthaft verletzen, und er wird es tun. Er mochte es noch nie, wenn jemand anderer anrührt, wovon er glaubt, daß es ihm gehört, und er hegt den Verdacht, daß jeder hübsche, junge Mann, der mit mir spricht, mein Geliebter: wäre. Als wir Kinder waren, stieß er einen Freund - einen Freund! - die Treppe hinab und brach ihm das Rückgrat, weil Derowin sein Pony geritten hatte, ohne ihn zu fragen. Geht, Cousin. Niemand wird Euch dafür verachten. Niemand erwartet von einem Jungen, sich einem Klingenmeister zu steiler». Jaisi ... oder wie auch immer Euer wahrer Name lautet ... helft mir, ihn zu überzeugen!«

Min öffnete den Mund, doch Rand legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Ich bin, wer ich bin«, sagte er lächelnd. »Und ich glaube nicht, daß ich vor ihm davonlaufen könnte. Er ist also ein Klingenmeister.« Er knöpfte seine Jacke auf und betrat die freigeräumte Fläche.

»Warum müssen sie so stur sein, wenn man es am wenigsten will?« flüsterte Caraline enttäuscht. Min konnte nur zustimmend nicken.

Toram hatte sich bis auf Hemd und Hose ausgezogen und trug zwei Übungsschwerter bei sich, deren Klingen aus Bündeln zusammengebundener, dünner Latten bestanden. Er wölbte eine Augenbraue, als er Rand mit seiner offenstehenden Jacke sah. »Ihr werdet darin beeinträchtigt sein, Cousin.« Rand zuckte die Achseln.

Toram warf Rand ohne Vorwarnung eines der Schwerter zu. Rand fing es am langen Heft aus der Luft auf.

»Diese Handschuhe werden einen festen Griff um das Schwert verhindern.«

Rand nahm das Heft in beide Hände und wandte sich leicht seitwärts, die Klinge gesenkt und den linken Fuß vorgestellt.

Toram spreizte die Hände, als wollte er ausdrücken, er hatte alles in seiner Macht Stehende getan. »Nun, zumindest weiß er, wie man sich aufstellt«, sagte er lachend und stürmte beim letzten Wort vorwärts, wobei er das Übungsschwert mit aller Kraft auf Rands Kopf sausen ließ.

Zusammengebundene Latten trafen mit lautem Klappern aufeinander. Rand hatte nichts außer seinem Schwert bewegt. Toram starrte ihn einen Moment an, und Rand erwiderte seinen Blick ruhig. Dann begannen sie zu tanzen.

Nur so konnte Min diese gleitenden, schwebenden Bewegungen bezeichnen, bei denen die hölzernen Klingen zuckten und sich wanden. Sie hatte Rand mit den Besten, die er finden konnte, mit dem Schwert üben sehen, manchmal mit zwei oder drei oder vier Männern zugleich, aber das war im Vergleich hierzu nichts gewesen. So wunderschön und so leicht zu vergessen, daß Blut hätte fließen können, wenn diese Latten Stahl gewesen wären. Nur daß keine der Klingen, ob nun aus Stahl oder Latten, Haut berührte.

Sie tänzelten vor und zurück, umkreisten einander, die Schwerter mal erforschend, mal zuschlagend, während Rand angriff oder sich verteidigte, und jede Bewegung wurde von jenem lauten Klappern begleitet.

Caraline ergriff fest Mins Arm, ohne ihren Blick von dem Wettkampf zu wenden. »Er ist also auch ein Klingenmeister«, flüsterte sie. »Er muß es sein. Seht ihn Euch an!«

Min schaute hin und drückte Rands Schwertgürtel und in der Scheide steckende Klinge, als wären sie er. Wunderschöne Bewegungen, und was auch immer Rand dachte - Toram wünschte bereits, seine Klinge bestünde aus Stahl. Kalter Zorn brannte auf seinem Gesicht, und er drängte immer härter vorwärts. Dennoch berührte keine der Klingen etwas anderes als die jeweils andere, aber jetzt wich Rand zurück und verteidigte sich mit dem Schwert heftig, während Toram vorwärts drängte, angriff, die Augen vor eisigem Zorn glitzernd.

Außerhalb der freien Fläche schrie jemand, ein Aufheulen äußersten Entsetzens, und plötzlich wurde das Zelt aufwärts gerissen und verschwand in einem den Himmel verhüllenden, dichten Grau. Nebel wogte von allen Seiten heran, von fernen Schreien und Gebrüll erfüllt. Dünne Nebelschwaden wehten in den von dem Zelt hinterlassenen Leerraum. Alle blickten erstaunt. Fast alle.

Torams Lattenklinge traf Rand mit dem Geräusch brechender Knochen an der Seite und warf ihn um. »Ihr seid tot, Cousin«, höhnte Toram, hob sein Schwert hoch über den Kopf, um erneut zuzuschlagen - und erstarrte und sah gebannt zu, wie sich ein Teil des schweren, grauen Nebels über ihnen ... verdichtete. Ein Nebeltentakel, was es vielleicht war, ein dicker Arm mit drei Gliedmaßen, griff herab, schloß sich um die stämmige Rote Schwester und riß sie in die Luft, bevor jemand die Möglichkeit hatte, sich zu regen.

Cadsuane überwand den Schock als erste. Sie hob die Arme, warf ihre Stola zurück und ballte die Hände zu Fäusten. Eine Feuerkugel schoß aus beiden Handflächen empor und traf den Nebel. Über ihnen brach jäh etwas in Flammen aus, ein sofort wieder verschwindender, gewaltiger Klumpen, und die Rote Schwester gelangte erneut in Sicht und fiel mit dem Gesicht nach unten nahe der Stelle auf die Teppiche, wo Rand kniete und sich die Seite hielt. Zumindest wäre sie auf dem Gesicht gelandet, wenn ihr Kopf nicht verdreht gewesen wäre, so daß ihre toten Augen in den Nebel hinaufstarrten.

Jegliche noch im Zelt verbliebene Fassung schwand dahin. Der Schatten hatte Gestalt angenommen. Schreiende Menschen flohen in alle Richtungen und stießen Tische um, und Adlige drängten sich an Dienern und Diener an Adligen vorbei. Min kämpfte sich mit Fäusten und Ellbogen und Rands Schwert als Knüppel zu Rand vor.

»Bist du verletzt?« fragte sie und half ihm aufzustehen. Sie war überrascht, Caraline auf seiner anderen Seite zu sehen, die ihm ebenfalls half. Zudem wirkte Caraline überrascht.

Er nahm die Hand unter seiner Jacke hervor, und seine Finger waren, dem Licht sei Dank, nicht blutverschmiert. Die so empfindliche, erst halbwegs verheilte Narbe war nicht wieder aufgebrochen. »Ich denke, wir sollten besser gehen«, sagte er und nahm seinen Schwertgürtel. »Wir müssen von hier fort.« Die Höhlung frischer Luft war jetzt merklich kleiner. Fast alle anderen waren geflohen. Draußen im Nebel stiegen Schreie auf, die meisten jäh unterbrochen, aber stets durch neuerliche Schreie ersetzt.

»Ich bin einverstanden, Tomas«, sagte Darlin. Das Schwert in der Hand pflanzte er sich, mit dem Rücken zu Caraline, zwischen ihr und dem Nebel auf. »Die Frage ist, in welche Richtung? Und wie weit müssen wir fliehen?«

»Dies ist sein Werk«, spie Toram aus. »Al'Thors Werk.« Er schleuderte sein Übungsschwert zu Boden, stolzierte zu seiner abgelegten Jacke und zog sie ruhig an. Was auch immer er sein mochte - er war kein Feigling. »Jeraal?« rief er in den Nebel, während er seinen Schwertgürtel schloß. »Jeraal, das Licht verdamme Euch, Mann, wo steckt Ihr? Jeraal!« Mordeth - Fain -antwortete nicht, und Toram rief weiter.

Außer ihnen waren nur noch Cadsuane und ihre beiden Begleiterinnen geblieben, deren Gesichter einen ruhigen Ausdruck zeigten, deren Hände aber nervös über ihre Stolen strichen. Cadsuane selbst wirkte, als wollte sie nur einen Spaziergang machen. »Ich glaube, wir sollten nach Norden gehen«, sagte sie. »In dieser Richtung ist der Hang näher, und wenn wir hinaufsteigen, können wir vielleicht einen Überblick über das Geschehen gewinnen. Hört auf zu schreien, Toram! Euer Mann ist entweder tot, oder er kann Euch nicht hören.« Toram sah sie an und stellte sein Rufen ein. Cadsuane schien es nicht zu bemerken, und es schien sie auch nicht zu kümmern, solange er still war. »Also dann nach Norden. Wir drei werden uns allem entgegenstellen, was Euer Stahl nicht bewältigen kann.« Sie sah Rand während dieser Worte an, und er nickte kaum merklich, bevor er seinen Gürtel schloß und das Schwert zog. Min bemühte sich um Haltung und wechselte Blicke mit Caraline, deren Augen geweitet waren. Die Aes Sedai wußte, wer er war, und sie würde verhindern, daß sonst noch jemand es erfuhr.

»Ich wünschte, wir hätten unsere Behüter nicht in der Stadt zurückgelassen«, sagte die schlanke Gelbe Schwester. Winzige Silberglöckchen in ihrem dunklen Haar klangen, als sie den Kopf zurückwarf. Sie gebärdete sich fast ebenso herrisch wie Cadsuane, daß man zunächst nicht bemerkte, wie hübsch sie war, nur daß diese Kopfbewegung ... nun ... ein wenig gereizt schien. »Ich wünschte, ich hätte Roshan bei mir.«

»Ein Zirkel, Cadsuane?« fragte die Graue. Sie wandte den Kopf hin und her, um in den Nebel zu spähen, und wirkte mit ihrer scharfgeschnittenen Nase und den neugierigen Augen dabei wie ein gedrungener Spatz. Kein ängstlicher Spatz, sondern ein entschieden angriffslustiger. »Sollen wir uns verbinden?«

»Nein, Niande«, erwiderte Cadsuane seufzend. »Wenn Ihr etwas seht, müßt Ihr in der Lage sein, es unverzüglich anzugreifen. Samitsu, hört auf, Euch um Roshan zu sorgen. Wir haben hier drei gute Schwerter, zwei davon mit dem Zeichen des Reihers, wie ich sehe. Sie werden genügen.«

Toram verzog das Gesicht, als er den auf Rands gezogener Klinge eingravierten Reiher sah. Wenn es ein Lächeln sein sollte, enthielt es jedoch keinerlei Heiterkeit. Auch seine gezogene Klinge war mit dem Reiher gekennzeichnet. Darlins Klinge entbehrte dieses Zeichen, aber er sah Rand und sein Schwert abschätzend an und nickte dann mit tieferem Respekt, als er ihn Tomas Trakand, aus einem niederen Zweig des Hauses, gewährt hatte.

Die grauhaarige Grüne hatte eindeutig die Führung übernommen, und sie behielt sie trotz versuchten Widerstands von Darlin bei, der wie viele Tairener Aes Sedai anscheinend nicht sehr mochte, und von Toram, der einfach jedermann zu verabscheuen schien, der außer ihm Befehle gab. Das gleiche galt im übrigen für Caraline, aber Cadsuane ignorierte ihr Stirnrunzeln ebenso gründlich wie die geäußerten Beschwerden der Männer. Anders als diese, schien Caraline zu erkennen, daß Beschwerden nichts nützen würden. Und Rand ließ sich - Wunder über Wunder - sanftmütig zu Cadsuanes Rechten aufstellen, als sie rasch alle anwies. Nun, nicht wirklich sanftmütig - er sah sie von oben herab auf eine Art an, die Min, wenn sie an Cadsuanes Stelle gewesen wäre, dazu veranlaßt hätte, ihn zu schlagen; Cadsuane schüttelte jedoch nur den Kopf und murmelte etwas, das ihn erröten ließ -, aber er hielt zumindest den Mund. In dem Moment erwartete Min halbwegs, daß er seine wahre Identität preisgeben würde. Und sie erwartete beinahe, daß der Nebel aus Angst vor dem Wiedergeborenen Drachen verschwinden würde. Rand lächelte ihr zu, als sei Nebel bei diesem Wetter vollkommen normal, selbst ein Nebel, der Zelte und Menschen fortriß.

Sie bewegten sich in dem dichten Dunst in der Formation eines sechszackigen Sterns, Cadsuane an einer Spitze, je eine Aes Sedai an jeweils zwei anderen und je ein Mann mit einem Schwert an den drei übrigen Spitzen. Toram protestierte natürlich lauthals dagegen, die Nachhut bilden zu sollen, bis Cadsuane etwas von der Ehre der Nachhut murmelte. Das stellte ihn ruhig. Min hatte keinerlei Einwände gegen ihre Position mit Caraline in der Mitte des Sterns. Sie hielt in beiden Händen einen Dolch und fragte sich, ob sie von Nutzen sein würden. Es erleichterte sie gewissermaßen, den Dolch in Caralines Faust zittern zu sehen. Zumindest ihre Hände waren ruhig. Andererseits, dachte sie, hatte sie vielleicht zu große Angst, um zu zittern.

Der Nebel verbreitete winterliche Kälte. Graue Nebelschwaden schlossen sich umherwirbelnd um sie, so schwer, daß es schwierig war, die anderen deutlich zu sehen. Hören konnte man jedoch nur allzu gut. Schreie hallten durch die Undurchdringlichkeit heran, das Aufschreien von Männern und Frauen und das Wiehern von Pferden. Der Nebel schien die schrecklichen Laute zu dämpfen, ließ sie hohl klingen, so daß sie dankenswerterweise fern schienen. Vor ihnen wurde der Nebel dichter, aber plötzlich schossen Feuerkugeln aus Cadsuanes Händen und zischten durch das eisige Grau, so daß der Nebel in ein einziges, brüllendes Flammenmeer ausbrach. Brüllen hinter ihnen und vor dem Nebel aufscheinendes Licht wie Blitze vor Wolken zeugten davon, daß auch die beiden anderen Schwestern am Werk waren. Min verspürte nicht den Wunsch zurückzublicken. Was sie vor sich sah, genügte vollkommen.

Sie zogen an niedergetretenen, halbwegs von grauem Dunst verborgenen Zelten und an Körpern oder Körperteilen vorbei, die vom Nebel kaum verhüllt wurden. Ein Bein. Ein Arm. Der Oberkörper eines Mannes. Einmal der Kopf einer Frau, der sie von der Ecke eines umgestürzten Wagens anzugrinsen schien. Die Landschaft begann immer steiler anzusteigen. Min sah die ersten Lebenden neben ihnen und wünschte, sie hätte sie nicht gesehen. Ein Mann, der eine der roten Jacken trug, stolperte auf sie zu und winkte schwach mit dem linken Arm. Der andere Arm war fort, und nasse weiße Knochen waren zu sehen, wo die rechte Gesichtshälfte gewesen war. Etwas, das wie Worte klang, drang durch seine Zähne hervor, und er brach zusammen. Samitsu kniete sich kurz neben ihn und legte einen Finger an die blutigen Überreste seiner Stirn. Als sie sich wieder erhob, schüttelte sie den Kopf, und sie zogen weiter. Es ging beständig aufwärts, bis Min sich zu fragen begann, ob sie einen Berg anstatt einen Hügel erklommen.

Unmittelbar vor Darlin nahm der Nebel jäh Gestalt an, eine mannshohe Erscheinung, die aber nur aus Tentakeln und gähnenden Schlünden voller scharfer Zähne bestand. Der Hohe Herr war vielleicht kein Schwertmeister, aber er war auch nicht langsam. Seine Klinge schnitt mitten durch die sich noch immer bildende Gestalt, vollführte eine Drehung und schlitzte sie dann von oben bis unten auf. Vier Nebelwolken, dichter als der umgebende Dunst, sanken zu Boden. »Nun«, sagte er, »zumindest wissen wir jetzt, daß Stahl diese ... Wesen zerschneiden kann.«

Aber die dicken Nebelklumpen verschmolzen miteinander und begannen erneut aufzusteigen.

Cadsuane streckte eine Hand aus. Feuertropfen fielen von ihren Fingerspitzen, und ein heller Flammenblitz verbrannte den sich verdichtenden Nebel. »Aber anscheinend nur zerschneiden«, murmelte sie.

Rechts vor ihnen erschien in dem umherwirbelnden Grau plötzlich eine Frau, die Seidenrök-ke im Lauf gerafft, und fiel halbwegs den Hügel herab auf sie zu. »Dem Licht sei Dank!« rief sie. »Dem Licht sei Dank! Ich dachte, ich wäre allein!« Unmittelbar hinter ihr zog sich der Nebel zusammen, ein nur aus Zähnen und Klauen bestehender Alptraum, und ragte über ihr auf. Min war sich sicher, daß Rand gewartet hätte, wenn sie ein Mann gewesen wäre.

Er hob die Hand, bevor Cadsuane sich regen konnte, und ein Balken von flüssigem weißem Feuer, das heller als die Sonne war, schoß über den Kopf der Frau hinweg. Das Wesen verschwand einfach. Einen Moment war an seiner Stelle klare Luft zu sehen wie auch entlang der Linie, die der Balken gebrannt hatte, bis sich der Nebel wieder zu verdichten begann. Die Frau war einen Moment am Fleck erstarrt. Dann wandte sie sich aus voller Kehle schreiend um und lief vor ihnen davon, noch immer hügelabwärts, floh vor dem, was sie mehr fürchtete als Alpträume im Nebel.

»Ihr!« brüllte Toram so laut, daß Min mit erhobenen Dolchen zu ihm herumfuhr. Er stand mit auf Rand gerichteter Schwertspitze da. »Ihr seid er! Ich hatte recht! Dies ist Euer Werk! Ihr werdet mich nicht fangen, al'Thor!« Er setzte sich plötzlich seitwärts ab und kletterte panisch den Hügel hinauf. »Ihr werdet mich nicht fangen!«

»Kommt zurück!« rief Darlin ihm nach. »Wir müssen zusammenbleiben! Wir müssen...« Er brach ab und sah Rand an. »Ihr seid al'Thor. Das Licht verdamme mich, Ihr seid es!« Er vollführte eine halbherzige Bewegung, als wollte er sich zwischen Rand und Caraline stellen, aber zumindest lief er nicht davon.

Cadsuane ging ruhig am Hang entlang zu Rand, und schlug ihm so fest ins Gesicht, daß sein Kopf zur Seite ruckte. Min hielt entsetzt den Atem an. »Das werdet Ihr nicht wieder tun«, sagte Cadsuane. Ihre Stimme klang nicht zornig, nur eisenhart. »Hört Ihr mich? Kein Baalsfeuer. Niemals wieder.«

Rand rieb sich überrascht die Wange. »Ihr hattet unrecht, Cadsuane. Er ist echt. Ich bin mir dessen sicher. Ich weiß, daß er real ist.« Noch überraschender war, daß er klang, als wollte er sie nur zu gern überzeugen.

Mins Herz flog ihm zu. Er hatte erwähnt, Stimmen zu hören. Das mußte er meinen. Sie hob ihre rechte Hand in seine Richtung, vergaß für einen Moment, daß sie einen Dolch hielt, und öffnete den Mund, um ihn zu trösten. Obwohl sie sich keineswegs sicher war, daß sie dieses besondere Wort jemals wieder in harmlosem Sinn gebrauchen könnte. Sie öffnete den Mund -und Padan Fain schien aus den Nebeln hinter Rand zu springen, während Stahl in seiner Faust glitzerte.

»Hinter dir!« schrie Min und gestikulierte mit dem Dolch in ihrer ausgestreckten Hand, während sie den Dolch in ihrer linken warf. Alles schien gleichzeitig zu geschehen, im frostigen Nebel nur halbwegs erkennbar.

Rand wandte sich um und drehte sich, und Fain drehte sich ebenfalls, um auf ihn zuzuspringen. Durch diese Drehung verfehlte Mins Dolch sein Ziel, aber Fains Dolch traf Rand in die linke Seite. Er schien fast nur seine Jacke zu zerschneiden, und doch schrie Rand auf. Er schrie auf - ein Laut, bei dem sich Min das Herz zusammenzog -, umklammerte seine Seite, fiel gegen Cadsuane, klammerte sich an sie, um sich aufrecht zu halten, und zog sie mit zu Boden.

»Geht mir aus dem Weg!« schrie eine der anderen Schwestern - Samitsu, dachte Min -, und plötzlich wurden Min die Füße weggerissen. Sie stöhnte, als sie zusammen mit Caraline, die ein atemloses »Blut und Feuer!« fauchte, schwer auf den Hang prallte.

»Aus dem Weg!« schrie Samitsu erneut, als Darlin mit seinem Schwert auf Fain zusprang. Der knochendürre Mann bewegte sich mit erschreckender Schnelligkeit, warf sich nieder und rollte aus Darlins Reichweite. Seltsamerweise gackerte er vor Lachen, während er aufsprang und davonlief und fast augenblicklich von der Undurchdringlichkeit verschluckt wurde.

Min richtete sich zitternd auf.

Caraline war weitaus energischer. »Ich sage Euch jetzt Folgendes, Aes Sedai«, begann sie mit kalter Stimme, während sie heftig ihre Röcke abklopfte. »So lasse ich mich nicht behandeln. Ich bin Caraline Damodred, Hochsitz des Hauses...«

Min hörte auf zu lauschen. Cadsuane saß auf dem Hang über ihnen und hielt Rands Kopf auf ihrem Schoß. Es war nur ein Schnitt gewesen. Fains Dolch konnte nicht mehr berührt haben als... Min warf sich mit einem Aufschrei vorwärts. Aes Sedai oder nicht - sie schob die Frau von Rand fort und barg seinen Kopf in ihren Armen. Seine Augen waren geschlossen, der Atem kam stoßweise, sein Gesicht fühlte sich heiß an.

»Helft ihm!« schrie sie Cadsuane wie ein Echo der fernen Schreie im Nebel an. »Helft ihm!« Ein Teil von ihr erkannte, daß es nicht viel Sinn ergab, nachdem sie die Aes Sedai fortgedrängt hatte, aber sein Gesicht schien ihre Hand zu verbrennen und ihren Verstand.

»Samitsu, schnell«, sagte Cadsuane, erhob sich und richtete ihre Stola. »Mein Talent des Heilens genügt bei seinem Zustand nicht.« Sie legte eine Hand auf Mins Kopf. »Kind, ich werde den Jungen kaum sterben lassen, solange ich ihm keine Manieren beigebracht habe. Hört auf zu weinen.«

Es war seltsam. Min war überzeugt, daß die Frau bei ihr keine Macht angewandt hatte, und doch glaubte sie ihr. Ihm Manieren beibringen. Das würde ein schöner Kampf. Sie ließ Rands Kopf los, wenn auch widerwillig, und zog sich auf Knien zurück. Sehr seltsam. Sie hatte nicht einmal bemerkt, daß sie geweint hatte, und doch genügte Cadsuanes Versicherung, den Tränenfluß einzudämmen. Sie rieb sich mit dem Handballen über die Wangen, während sich Samitsu neben Rand kniete und ihre Fingerspitzen an seine Stirn legte. Min fragte sich, warum sie seinen Kopf nicht in beide Hände nahm, wie Moiraine es getan hatte.

Plötzlich verkrampfte Rand sich, keuchte und schlug so fest um sich, daß er die Gelbe mit einem Arm umwarf. Sobald sie ihn nicht mehr berührte, beruhigte er sich. Min kroch näher heran. Er atmete leichter, aber er hatte die Augen noch immer geschlossen. Min berührte seine Wange. Sie war kühler als zuvor, aber immer noch zu warm. Und blaß.

»Etwas stimmt nicht«, sagte Samitsu verdrießlich, während sie sich aufsetzte. Sie zog Rands Jacke zur Seite und riß eine große Lücke in sein blutgetränktes Hemd.

Der Schnitt von Fains Dolch, der nicht länger als ihre Hand und nicht tief war, verlief genau über der alten runden Narbe. Min konnte sogar in dem schwachen Licht erkennen, daß die Ränder des Schnittes angeschwollen und entzündet waren, als sei die Wunde tagelang nicht versorgt worden. Sie blutete nicht mehr, aber sie hätte verschwunden sein sollen. Das bewirkte die Heilung: Wunden schlossen sich unmittelbar vor jedermanns Augen.

»Dies«, verkündete Samitsu in belehrendem Tonfall, wobei sie leicht die Narbe berührte, »erweckt den Anschein einer Zyste, die aber voller Bösem anstatt voller Eiter ist. Und dies...« - Sie strich mit dem Finger die Wunde entlang -, »scheint voll eines anderen Übels.« Plötzlich sah sie die über ihr stehende Grüne stirnrunzelnd an, und ihre Stimme wurde störrisch und abwehrend. »Wenn ich die entsprechenden Worte kennen würde, Cadsuane, würde ich sie gebrauchen. Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen. Niemals. Aber soviel kann ich Euch sagen: Er wäre jetzt bereits tot, wenn ich einen Augenblick langsamer gehandelt hätte oder Ihr es nicht zuerst versucht hättet. Wie es aussieht...« Die Gelbe Schwester schien mit einem Seufzen zusammenzusacken. »Wie es aussieht, glaube ich, daß er dennoch sterben wird.«

Min schüttelte den Kopf, versuchte, die Möglichkeit abzuwehren, aber sie konnte ihre Zunge anscheinend nicht zum Sprechen bewegen. Sie hörte Caraline ein Gebet sprechen. Die Frau stand da und umklammerte mit beiden Händen einen von Darlins Jackenärmeln. Darlin wiederum blickte stirnrunzelnd auf Rand hinab, als versuche er, einen Sinn in dem zu finden, was er sah.

Cadsuane beugte sich hinab und tätschelte Samitsus Schulter. »Ihr seid die beste lebende Heilende, vielleicht die beste, die es jemals gegeben hat«, sagte sie ruhig. »Niemand kann sich darin mit Euch messen.« Samitsu stand auf und nickte, und bevor sie sich noch ganz erhoben hatte, zeigte sie bereits wieder die Gelassenheit der Aes Sedai. Cadsuane, die stirnrunzelnd und mit in die Hüften gestemmten Händen auf Rand hinabsah, zeigte sie nicht. »Pah! Ich werde Euch nicht gestatten zu sterben, Junge«, grollte sie und klang, als wäre es sein Fehler. Dieses Mal berührte sie Mins Kopf nicht sanft, sondern pochte mit dem Knöchel darauf. »Steht auf, Kind. Ihr seid nicht verzärtelt - das kann jeder Narr erkennen -, also hört auf, es vorzugeben. Darlin, Ihr werdet ihn tragen. Die Verbände müssen warten. Dieser Nebel verläßt uns nicht, als sollten wir ihn so bald wie möglich verlassen.«

Darlin zögerte. Vielleicht war es Cadsuanes gebieterisches Stirnrunzeln, vielleicht auch die halb zu seinem Gesicht erhobene Hand Caralines, aber er steckte jäh sein Schwert in die Scheide, murmelte leise vor sich hin und hob Rand auf seine Schulter, so daß dessen Arme und Beine herabbaumelten.

Min nahm die mit dem Reiher versehene Klinge und ließ sie vorsichtig in die an Rands Taille hängende Scheide gleiten. »Er wird sie brauchen«, belehrte sie Darlin, und kurz darauf nickte er. Er hatte mit dieser Reaktion Glück. Min hatte all ihr Vertrauen auf die Grüne Schwester konzentriert, und sie würde nicht zulassen, daß jemand etwas anderes darüber dachte.

»Seid vorsichtig, Darlin«, sagte Caraline mit ihrer kehligen Stimme, nachdem Cadsuane die Marschordnung geregelt hatte. »Achtet darauf, daß Ihr hinter mir bleibt, und ich werde Euch beschützen.«

Darlin lachte, bis er keuchen mußte, und kicherte noch immer, als sie erneut durch den kalten Nebel und die fernen Schreie aufzusteigen begannen, wobei er in der Mitte eines von den Frauen gebildeten Kreises ging.

Min erkannte, daß sie nur ein Paar zusätzliche Augen war, genau wie Caraline auf der anderen Seite von Cadsuane, und sie wußte, daß der Dolch, den sie gezogen hatte, nichts gegen die Nebelgestalten ausrichten konnte, aber Padan Fain könnte dort draußen noch leben. Sie würde ihn nicht wieder verfehlen. Caraline hatte ihren Dolch ebenfalls gezogen, und den Blicken nach zu urteilen, die sie dem unter Rands Gewicht den Berg hinaufstolpernden Darlin über die Schulter zuwarf, beabsichtigte sie den Wiedergeborenen Drachen vielleicht ebenfalls zu beschützen. Aber andererseits ging es vielleicht auch gar nicht um ihn. Eine Frau konnte für dieses Lachen fast alles verzeihen.

Noch immer bildeten sich Gestalten im Nebel und erstarben durch Feuer, und einmal riß ein riesiges Ungetüm ein Pferd zu ihrer Rechten entzwei, bevor eine Aes Sedai es vernichten konnte. Min zeigte ihre Übelkeit danach recht geräuschvoll und schämte sich nicht im geringsten dafür. Menschen starben, aber zumindest waren diese Menschen aus freien Stücken hierhergekommen. Auch der geringste Soldat hätte gestern davonlaufen können, wenn er gewollt hätte, aber dieses Pferd nicht. Gestalten bildeten sich und wurden vernichtet, und Menschen starben, die scheinbar stets in der Ferne schrien, obwohl sie immer wieder an zerfetztem Aas vorüberstolperten, das vor einer Stunde noch ein Mensch gewesen war. Min fragte sich allmählich, ob sie jemals wieder Tageslicht sehen würden.

Mit schockierender Plötzlichkeit stolperte sie hinein, einen Moment von Grau umgeben, im nächsten die golden brennende Sonne an einem blauen Himmel hoch über ihr, so hell, daß sie ihre Augen beschatten mußte.

Und dort, vielleicht fünf Meilen über fast baumlose Hügel, erhob sich Cairhien massiv und rechtwinklig auf seinen Vorsprüngen. Irgendwie schien es unwirklich zu sein.

Sie schaute zum Rand des Nebels zurück und erschauderte. Er war eine sich wölbende Wand, die sich zwischen den Bäumen auf dem Hügelkamm erstreckte und viel zu gerade war, ohne Luftwirbel oder Verdünnungen. Hier einfach nur klare Luft und dort dichtes Grau. Rechts vor ihr wurde der Wipfel eines Baumes sichtbar, und sie erkannte, daß sich der Nebel zurückzog, vielleicht von der Sonne fortgebrannt. Aber viel zu langsam, als daß der Rückzug hätte natürlich sein können. Die anderen, sogar die Aes Sedai, betrachteten den Nebel genauso gebannt wie sie.

Zwanzig Schritte zu ihrer Linken kroch plötzlich ein Mann auf allen vieren an die frische Luft. Die Vorderseite seines Kopfes war rasiert, und dem beschädigten schwarzen Brustpanzer nach zu urteilen, den er trug, war er ein gewöhnlicher Soldat. Er blickte wild um sich, schien sie ›nicht zu sehen und kroch weiterhin, noch immer auf Händen und Knien, den Hügel hinab. Weiter rechts tauchten im Laufschritt zwei Männer und eine Frau auf. Die Vorderseite des Gewands der Frau wies farbige Streifen auf, aber es war schwer zu sagen, wie viele, da sie ihre Röcke so hoch wie möglich gerafft hatte, um schneller laufen zu können, und sie hielt bei jedem Schritt mit den Männern mit. Niemand von ihnen blickte zur Seite, sondern sie stürmten nur hügelabwärts, fielen hin, überschlugen sich, richteten sich wieder auf und liefen weiter.

Caraline betrachtete einen Moment die schmale Klinge ihres Dolches und steckte ihn dann mit einer heftigen Bewegung in die Scheide. »So schwindet mein Heer dahin«, seufzte sie.

Darlin, der noch immer den bewußtlosen Rand über seiner Schulter trug, sah sie an. »In Tear steht ein Heer für Euch bereit.«

Sie betrachtete den leblosen Rand. »Vielleicht«, sagte sie. Darlin wandte den Kopf mit besorgtem Stirnrunzeln Rand zu.

Cadsuane war ganz um Sachlichkeit bemüht. »Die Straße liegt in dieser Richtung«, sagte sie und deutete nach Westen. »Dort werden wir schneller vorankommen, als wenn wir querfeldein gehen. Ein leichter Spaziergang.«

Min hätte es nicht so bezeichnet. Die Sonne brannte nach der Kälte des Nebels auf sie herab. Schweiß lief ihr über den Körper und schien ihr die Kraft zu rauben. Ihre Beine gaben nach. Sie strauchelte über freiliegende Wurzeln und fiel flach aufs Gesicht. Sie stolperte über Steine und fiel hin. Sie stolperte über ihre eigenen Füße und fiel ebenfalls hin. Einmal gehorchten ihr ihre Füße einfach nicht mehr, und sie glitt auf dem Hosenboden gute vierzig Schritt einen Hügel hinab, wild um sich schlagend, bis sie sich an einem jungen Baum festhalten konnte. Caraline fiel genauso oft, wenn nicht häufiger, hin. Ihr Gewand war für diese Art Fortbewegung nicht geschaffen, und es dauerte nicht lange - nachdem sich ihr Rock nach einem kopfüber erfolgten Sturz um ihren Kopf schlang -, bis sie Min nach der Näherin fragte, die ihr Jacke und Hose angefertigt hatte. Darlin fiel nicht hin. Oh, er taumelte und stolperte genauso häufig wie sie, aber wann immer er im Fallen begriffen war, schien ihn etwas abzufangen und aufrecht zu halten. Zu Beginn sah er die Aes Sedai trotzig an, ganz der stolze tairenische Hohe Herr, der Rand weiterhin ohne jegliche fremde Hilfe tragen würde. Cadsuane und die anderen gaben vor, nichts zu merken. Sie fielen niemals hin. Sie schritten einfach den Hang hinab, unterhielten sich leise miteinander und fingen Darlin auf, bevor er stürzen konnte. Als sie die Straße erreichten, wirkte er sowohl dankbar als auch gehetzt.

Cadsuane, die in Sichtweite des Flusses mitten auf der Straße auf der festgetretenen Erde stand, hob eine Hand, um das erste Fahrzeug anzuhalten, das auftauchte, ein von zwei mottenzerfressenen Maultieren gezogener, klappriger Wagen, von einem abgezehrten Bauern in einer geflickten Jacke gelenkt, der jetzt heftig an den Zügeln zog. Wo glaubte der zahnlose Bursche hineingefahren zu sein? Drei alterslose Aes Sedai einschließlich ihrer Stolen, die vielleicht einen Augenblick vorher aus einer Kutsche gestiegen waren. Eine schweißgetränkte Cairhienerin, den Streifen auf ihrem Gewand nach von hohem Rang - oder vielleicht eine Bettlerin, die sich, dem Zustand des Gewandes nach zu urteilen, in die abgelegten Fetzen einer Adligen gekleidet hatte. Ein offensichtlicher tairenischer Adliger, von dessen Nase und spitzem Bart der Schweiß tropfte und der einen anderen Mann wie einen Getreidesack über der Schulter trug. Und sie selbst. Mit an den Knien durchgescheuerter Hose und einem Riß im Hosenboden, der, dem Licht sei Dank, von ihrer Jacke verdeckt wurde, obwohl ein Jackenärmel nur noch an wenigen Fäden hing. Min wollte nicht wissen, wie schmutzig und staubig sie wirklich war.

Sie wartete nicht, bis jemand anderes handelte, sondern zog einen Dolch aus dem Ärmel - wobei sie die meisten der noch vorhandenen Fäden zerriß - und handhabte ihn, wie Thom Merrilin es ihr beigebracht hatte, das Heft durch die Finger schlangelnd, so daß die Klinge in der Sonne aufblitzte. »Wir brauchen eine Fahrt zum Sonnenpalast«, verkündete sie, und auch Rand selbst hätte es nicht besser machen können. Manchmal ersparte man sich eine Auseinandersetzung, indem man herrisch auftrat.

»Kind«, sagte Cadsuane tadelnd, »ich bin sicher, daß Kiruna und ihre Freundinnen alles in ihrer Macht Stehende tun würden, aber es ist keine Gelbe unter ihnen. Jedoch sind Samitsu und Corele wirklich zwei der Besten, die es jemals gegeben hat. Lady Arilyn hat uns freundlicherweise ihren Stadtpalast überlassen, so daß wir ihn...«

»Nein.« Min hatte keine Ahnung, woher sie den Mut nahm, jener Frau gegenüber dieses Wort zu äußern. Es sei denn... Sie sprachen immerhin über Rand. »Wenn er aufwacht...« Sie hielt inne, weil sie schlucken mußte. Er würde aufwachen. »Wenn er an einem fremden Ort und erneut von Aes Sedai umgeben aufwacht, weiß ich nicht, was er tun würde. Und Ihr wollt es sicher auch nicht wissen.« Sie hielt diesem kühlen Blick einen langen Augenblick stand, und dann nickte die Aes Sedai.

»Zum Sonnenpalast«, wies Cadsuane den Bauer an. »Und so schnell, wie Ihr diese Flohsäcke antreiben könnt.«

Es war natürlich selbst für eine Aes Sedai nicht ganz so einfach. Ander Toi transportierte eine Wagenladung Rüben, die er in der Stadt verkaufen wollte, und hatte nicht die Absicht, auch nur in die Nähe des Sonnenpalastes zu gelangen, wo der Wiedergeborene Drache, wie er ihnen erzählte, Menschen fraß, die von zehn Fuß großen Aielfrauen auf Spießen gebraten wurden. Er würde sich wegen keiner noch so großen Anzahl Aes Sedai näher als eine Meile an den Palast heranwagen. Aber Cadsuane warf ihm eine Geldbörse zu - seine Augen traten hervor, als er hineinsah - und beschied ihm, sie hätte soeben seine Rüben gekauft und ihn und seinen Wagen gemietet. Wenn ihm der Gedanke nicht gefiele, könne er die Geldbörse zurückgeben. Bei diesen Worten stemmte sie die Fäuste in die Hüften und nahm einen Gesichtsausdruck an, der besagte, daß er genausogut seinen Wagen auf der Stelle fressen könnte, wenn er die Geldbörse zurückzugeben versuchte. Ander Toi war ein vernünftiger Mann, wie sich herausstellte. Samitsu und Niande luden den Wagen ab, wobei die Rüben einfach durch die Luft flogen und dann abseits der Straße einen kleinen Stapel bildeten. Ihren frostigen Mienen nach zu urteilen, hatten sie niemals erwartet die Eine Macht einmal auf diese Weise benutzen zu müssen. Darlin, der noch immer mit Rand über den Schultern dastand, war erleichtert, daß sie ihn nicht zu dieser Arbeit aufgefordert hatten. Ander Toi saß mit weit geöffnetem Mund auf dem Kutschbock und betastete die Geldbörse, als frage er sich, ob das Geld wirklich genügte.

Als sie sich auf der Ladefläche des Wagens niedergelassen hatten, wobei sie alles Stroh, das unter den Rüben gelegen hatte, als Bettstatt für Rand zusammenschoben, sah Cadsuane Min über Rand hinweg an. Meister Toi ließ die Zügel knallen und die Maultiere in überraschender Geschwindigkeit laufen. Der Wagen schlingerte und holperte entsetzlich, da die Räder nicht nur wackelten, sondern offensichtlich auch nicht rund liefen. Min wünschte, sie hätte nur ein wenig Stroh für sich bewahrt, und amüsierte sich darüber, daß Samitsus und Niandes Gesichter immer angespannter wurden, je länger sie durchgeschüttelt wurden. Caraline lächelte recht offen über sie - der Hochsitz des Hauses Damodred machte sich nicht die Mühe, ihr Vergnügen darüber zu verbergen, daß die Aes Sedai einmal unbequem reisen mußten. Obwohl sie selbst, da sie sehr schmächtig war, stärker durchgerüttelt wurde als sie. Darlin, der sich an der Wagenseite festhielt, schien unbeeindruckt, wie hart er auch erschüttert wurde. Er runzelte beständig die Stirn und schaute von Caraline zu Rand. Cadsuane kümmerte es offensichtlich ebenfalls nicht, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen. »Ich erwarte, daß wir vor Einbruch der Nacht eintreffen, Meister Tol«, rief sie, wodurch sie noch stärker durchgeschüttelt, wenn auch nicht wesentlich schneller wurden. »Nun erzählt mir«, sagte sie an Min gewandt, »was genau beim letzten Mal geschehen ist, als der Junge von Aes Sedai umringt aufwachte.« Ihr Blick suchte Mins und hielt ihn fest.

Rand wollte das Geschehene nach Möglichkeit so lange wie möglich geheimhalten. Aber er lag im Sterben, und die einzige Chance, die Min für ihn sah, lag bei diesen drei Frauen. Vielleicht würde es nichts helfen, aber vielleicht würden sie ihn ein wenig besser verstehen, wenn sie es wüßten. »Sie haben ihn in eine Kiste gesperrt«, begann sie.

Sie war unschlüssig, wie sie fortfahren sollte, ohne in Tränen auszubrechen, aber irgendwie berichtete sie schließlich ohne Zittern in der Stimme von den Demütigungen und Schlägen, bis zu dem Moment, als Kiruna und die übrigen vor ihm niederknieten, um ihm Treue zu schwören. Darlin und Caraline wirkten benommen. Samitsu und Niande waren entsetzt, wenn auch nicht aus dem von Min vermuteten Grund, wie sich herausstellte.

»Er ... hat drei Schwestern gedämpft?« fragte Samitsu schrill. Sie schlug sich jäh eine Hand auf den Mund, drehte sich um, beugte sich über die Seitenwand des Wagens und erbrach sich geräuschvoll. Niande folgte ihr darin auf dem Fuße.

Und Cadsuane... Cadsuane berührte Rands bleiches Gesicht und strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. »Hab keine Angst, Junge«, sagte sie weich. »Sie haben meine und Eure Aufgabe erschwert, aber ich werde dich nicht stärker verletzten als nötig.« Min erstarrte innerlich.

Die Wächter an den Stadttoren schrien hinter dem vorüberrollenden Wagen her, aber Cadsuane befahl Meister Tol, nicht anzuhalten, woraufhin er die Maultiere noch härter antrieb. Die Menschen auf den Straßen sprangen aus dem Weg, um nicht überfahren zu werden, und der Wagen ließ Schreie und Flüche, umgestürzte Sänften und von der Straße abgekommene Kutschen hinter sich. Schließlich ging es die breite Rampe zum Sonnenpalast hinauf, aus dem dermaßen viele Wächter in Lord Dobraines Farben hervordrangen, als wollten sie ganze Horden der Finsternis bekämpfen. Während Meister Tol aus voller Kehle schrie, daß die Aes Sedai ihn hierzu gezwungen hatten, erblickten die Soldaten Min. Dann sahen sie Rand. Min hatte geglaubt, sie habe sich schon vorher in einem Wirbelsturm befunden, aber sie hatte sich geirrt.

Zwei Dutzend Männer versuchten gleichzeitig, in den Wagen zu greifen und Rand herauszuheben, und jene, denen es gelang, ihn zu erreichen, behandelten ihn so sanft wie einen Säugling, vier Mann auf jeder Seite, die Arme unter ihn geschoben. Cadsuane mußte wohl tausendmal wiederholt haben, daß er nicht tot war, während sie in den Palast und Gänge entlang eilten, die Min länger erschienen, als sie sie in Erinnerung hatte, und immer mehr cairhienische Soldaten versammelten sich hinter ihnen. Adlige erschienen in jeder Tür und in jedem Quergang und beobachteten mit blutleeren Gesichtern, wie Rand vorübergetragen wurde. Min hatte Caraline und Darlin aus den Augen verloren. Sie konnte sich nicht erinnern, sie seit dem Wagen noch gesehen zu haben, wünschte ihnen Glück und vergaß sie. Rand war das einzige, was sie kümmerte. Das einzige auf der Welt.

Nandera stand bei den Far Dareis Mai, die die Türen zu Rands Räumen mit den vergoldeten Aufgehenden Sonnen bewachten. Als die ergrauende Tochter des Speers Rand sah, zerbrach ihre steinerne Aes Sedai-Haltung. »Was ist passiert?« krächzte sie mit geweiteten Augen. »Was ist geschehen?« Einige der anderen Töchter des Speers begannen zu wehklagen, leise, die Haare zu Berge stehen lassende Laute.

»Seid still!« brüllte Cadsuane und schlug heftig die Hände zusammen. »Ihr, Mädchen. Er muß ins Bett. Los!« Nandera sprang herbei. Rand wurde entkleidet und im Handumdrehen in sein Bett verbracht, Samitsu und Niande beide in seiner Nähe. Die Cairhienerin wurde hinausgescheucht, und Nandera wiederholte an der Tür Cadsuanes Anweisungen, daß Rand von niemandem gestört werden dürfe, was alles so schnell geschah, daß sich Min benommen fühlte. Sie hoffte, eines Tages die Auseinandersetzung zwischen Cadsuane und der Weisen Frau Sorilea mitzuerleben. Sie mußte kommen, und sie würde denkwürdig verlaufen.

Und doch - wenn Cadsuane glaubte, ihre Anweisungen würden wirklich jedermann fernhalten, so irrte sie sich. Bevor sie auch nur mit Hilfe der Macht einen Stuhl verrückt hatte, um sich neben Rands Bett zu setzen, schritten Kiruna und Bera stolz herein, die Herrscherin eines Hofes und die Herrscherin ihres Bauernhofs.

»Was habe ich da gehört über...?« begann Kiruna zornig. Dann sah sie Cadsuane. Und Bera sah Cadsuane. Zu Mins Überraschung blieben sie mit offenen Mündern stehen.

»Er ist in guten Händen«, sagte Cadsuane. »Es sei denn, eine von Euch besitzt plötzlich ein stärkeres Talent des Heilens, als ich es in Erinnerung habe?«

»Ja, Cadsuane«, sagten sie demütig. »Nein, Cadsuane.« Min schloß ebenfalls den Mund.

Samitsu rückte einen elfenbeinverzierten Stuhl an die Wand, breitete ihre dunkelgelben Röcke aus, setzte sich mit gefalteten Händen hin und beobachtete, wie sich Rands Brust unter dem Laken hob und senkte. Niande trat zu Rands Bücherregal und wählte ein Buch aus, bevor sie sich in die Nähe der Fenster setzte. Jetzt zu lesen! Kiruna und Bera wollten sich ebenfalls hinsetzen, blickten aber dann wahrhaftig zu Cadsuane und warteten auf ihr ungeduldiges Nicken, bevor sie sich auch hinsetzten.

»Warum tut Ihr nichts?« rief Min.

»Das könnte ich auch fragen«, sagte Amys, die gerade den Raum betrat. Die jugendliche, weißhaarige Weise Frau sah einen Moment Rand an, richtete ihre tiefbraune Stola und wandte sich dann an Kiruna und Bera. »Ihr könnt gehen«, sagte sie. »Und Kiruna, Sorilea wünscht Euch erneut zu sehen.«

Kirunas dunkles Gesicht wurde blaß, aber die beiden erhoben sich, vollführten einen Hofknicks und murmelten noch demütiger als zuvor bei Cadsuane: »Ja, Amys«, bevor sie den Raum mit verlegenen Blicken zur Grünen Schwester verließen.

»Interessant«, bemerkte Cadsuane, als sie fort waren. Ihre dunklen Augen suchten Amys' blaue Augen, und zumindest Cadsuane gefiel anscheinend, was sie sah. Immerhin lächelte sie. »Ich würde diese Sorilea gern kennenlernen. Ist sie eine starke Frau?« Sie betonte das Wort ›stark‹ besonders.

»Die stärkste Frau, die ich jemals erlebt habe«, sagte Amys schlicht. Man hätte niemals geglaubt, daß Rand bewußtlos vor ihr lag. »Ich kenne Euer Talent des Heilens nicht, Aes Sedai.

Ich vertraue darauf, daß Ihr getan habt, was getan werden konnte?« Ihre Stimme klang tonlos. Min hegte Zweifel darüber, wie weit Amys' Vertrauen ging.

»Was getan werden kann, wurde getan«, antwortete Cadsuane seufzend. »Jetzt können wir nur noch warten.«

»Während er stirbt?« fragte ein Mann mit barscher Stimme, und Min zuckte zusammen.

Dashiva betrat mit gefurchter Stirn den Raum. »Flinn!« fauchte er.

Niandes Buch Bei aus kraftlosen Fingern zu Boden. Sie starrte die drei Männer in den schwarzen Jacken an wie den Dunklen König selbst. Samitsu murmelte mit bleichem Gesicht etwas, das wie ein Gebet klang.

Auf Dashivas Befehl hin hinkte der grauhaarige Asha'man zum Bett gegenüber von Cadsuane und ließ seine Hände einen Fuß über dem Laken entlang Rands noch immer leblosem Körper gleiten. Der junge Narishma stand stirnrunzelnd an der Tür und betastete das Heft seines Schwerts, während jene großen dunklen Augen alle drei Aes Sedai auf einmal zu beobachten versuchten. Die Aes Sedai und Amys. Er wirkte nicht verängstigt, sondern nur wie ein Mann, der vertrauensvoll darauf wartete, daß sich diese Frauen als seine Feinde erweisen würden. Anders als die Aes Sedai ignorierte Amys die Asha'man bis auf Flinn. Ihr Blick folgte ihm, das glatte Gesicht vollkommen unbewegt. Aber sie fuhr auf sehr ausdrucksvolle Art mit dem Daumen am Heft ihres Gürteldolchs entlang.

»Was tut Ihr?« fragte Samitsu und sprang von ihrem Stuhl auf. Welches Unbehagen auch immer sie gegenüber den Asha'man hegte - die Sorge um ihren bewußtlosen Patienten überwog es. »Ihr, Flinn, oder wer immer Ihr seid.« Sie ging auf das Bett zu, und Narishma eilte heran, um ihr den Weg zu versperren. Sie versuchte stirnrunzelnd, an ihm vorbei zu gelangen, doch er legte ihr eine Hand auf den Arm.

»Noch ein Junge ohne Manieren«, murmelte Cadsuane. Nur sie schien von den drei Schwestern durch die Asha'man völlig unbeeindruckt. Sie betrachtete sie sogar über ihre zusammengelegten Hände hinweg.

Narishma errötete bei ihrer Bemerkung und zog seine Hand zurück, aber als Samitsu erneut um ihn herumzugelangen versuchte, stellte er sich ihr erneut in den Weg.

Sie beschränkte sich darauf, über seine Schulter zu blicken. »Ihr, Flinn, was tut Ihr? Ich will nicht, daß Ihr ihn mit Eurer Unkenntnis tötet! Hört Ihr mich?« Min tanzte geradezu von einem Fuß auf den anderen. Sie glaubte nicht, daß ein Asha'man Rand töten würde, nicht absichtlich, aber... Er vertraute ihnen, gewiß... Licht, selbst Amys schien zu zweifeln und blickte stirnrunzelnd von Flinn zu Rand.

Flinn zog das Laken bis auf Rands Taille herab und legte die Wunde frei. Der Schnitt sah weder besser noch schlechter aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, eine klaffende, entzündete, blutlose Wunde, die über der runden Narbe verlief. Rand schien zu schlafen.

»Flinn kann seinen Zustand nicht verschlechtern«, sagte Min. Niemand achtete auf sie.

Dashiva stieß einen gutturalen Laut aus, und Flinn sah ihn an. »Seht Ihr etwas, Asha'man?«

»Ich habe kein Talent zum Heilen«, sagte Dashiva und verzog den Mund. »Ihr seid derjenige, der meinen Vorschlag aufgegriffen und darauf gehört hat.«

»Welchen Vorschlag?« fragte Samitsu. »Ich bestehe darauf, daß Ihr...«

»Seid still, Samitsu«, sagte Cadsuane. Sie war anscheinend außer Amys die einzige im Raum, die ruhig war, aber der Art nach zu urteilen, wie die Weise Frau beständig über ihr Dolchheft strich, war sich Min nicht sicher. »Ich glaube, schaden will er dem Jungen als letztes.«

»Aber Cadsuane«, begann Niande drängend, »dieser Mann ist...«

»Ich sagte, seid still«, erwiderte die grauhaarige Aes Sedai fest.

»Ich versichere Euch«, sagte Dashiva, wobei es ihm gelang, gleichzeitig schmeichlerisch und barsch zu klingen, »daß Flinn weiß, was er tut. Er kann bereits Dinge vollbringen, von denen Ihr Aes Sedai niemals träumen würdet.« Samitsu rümpfte angekelt die Nase. Cadsuane nickte nur und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.

Flinn strich mit den Fingern die angeschwollene Wunde an Rands Seite und die alte Narbe entlang. Dies schien sanft zu geschehen. »Sie sind ähnlich, aber doch verschieden, als wären zwei Infektionen am Werk. Nur daß es keine Infektion ist. Es ist ... das Böse. Mir fällt kein besseres Wort ein.« Er zuckte die Achseln und betrachtete Samitsus mit gelben Fransen versehene Stola, während sie ihn stirnrunzelnd ansah, aber es war jetzt ein nachdenklicher Blick.

»Macht weiter, Flinn«, murrte Dashiva. »Wenn er stirbt...« Er rümpfte die Nase, als nehme er einen unangenehmen Geruch wahr, und wandte den Blick nicht von Rand ab. Er bewegte die Lippen, während er zu sich selbst sprach, und einmal stieß er einen halb wie ein Schluchzen und halb wie ein verbittertes Lachen klingenden Laut aus, ohne daß sich seine Miene auch nur einen Deut geändert hätte.

Flinn atmete tief durch und sah sich im Raum um, zu den Aes Sedai, zu Amys. Als er Min erblickte, zuckte er zusammen, und sein ledriges Gesicht rötete sich. Er bedeckte Rand hastig wieder bis zum Hals und ließ nur die alte und die neue Wunde frei.

»Ich hoffe, es stört niemanden, wenn ich dabei rede«, sagte er und bewegte seine schwieligen Hände über Rands Seite. »Zu reden scheint ein wenig zu helfen.« Er blinzelte, konzentrierte sich auf Rands Verletzungen, und seine Finger wanden sich langsam. Ganz ähnlich, als verwebe er Fäden, erkannte Min. Seine Stimme klang fast abwesend, als achte er nur mit einem Teil seines Geistes auf die Worte. »Die Kunst des Heilens hat mich sozusagen zur Schwarzen Burg gebracht. Ich war Soldat, bis ich mir einen Speer im Oberschenkel einfing. Danach konnte ich mich nicht mehr angemessen im Sattel halten und auch nicht weit laufen. Es war die fünfzehnte Verletzung in fast vierzig Jahren in der Königlichen Garde. Zumindest die fünfzehnte von Belang. Verletzungen zählen nicht, wenn man hinterher noch reiten oder laufen kann. Ich habe in diesen vierzig Jahren viele Freunde sterben sehen. Also ging ich zur Burg, und der M'Hael lehrte mich das Heilen. Wie auch andere Dinge. Eine rauhe Art der Heilung. Ich wurde einmal von einer Aes Sedai geheilt - oh, vor inzwischen fast dreißig Jahren - und dies ist im Vergleich dazu schmerzhaft. Aber es wirkt ebensogut. Dann, eines Tages, sagte Dashiva -Verzeihung: Asha'man Dashiva - er wundere sich, warum alles gleich ist, ungeachtet des Umstands, ob es sich um ein gebrochenes Bein oder eine Erkältung handelt, und wir kamen ins Reden, und... Nun, er hat selbst kein Gefühl dafür, aber ich habe anscheinend das Talent.

Also habe ich darüber nachgedacht, was wäre, wenn... Da. Mehr kann ich nicht tun.«

Dashiva brummte, als Flinn sich jäh auf die Fersen zurücksetzte und sich mit dem Handrük-ken über die Stirn wischte. Schweiß perlte auf seinem Gesicht, das erste Mal, daß Min einen Asha'man schwitzen sah. Der Schnitt an Rands Seite war nicht fort, aber er schien ein wenig kleiner zu sein, weniger rot und entzündet. Rand schlief noch immer, aber sein Gesicht schien jetzt weniger blaß.

Samitsu schoß so schnell an Narishma vorbei, daß er keine Gelegenheit hatte einzugreifen. »Was habt Ihr getan?« verlangte sie zu wissen und legte die Finger auf Rands Stirn. Was auch immer sie mit der Macht vorfand - sie wölbte die Brauen, und ihr Tonfall wurde statt herrisch ungläubig. »Was habt Ihr getan?«

Flinn zuckte bedauernd die Achseln. »Nicht viel. Ich konnte nicht wirklich anrühren, was falsch ist. Ich habe die bösen Kräfte in gewisser Weise vor ihm verschlossen, zumindest eine Zeitlang. Es wird nicht anhalten. Sie bekämpfen jetzt einander. Vielleicht werden sie sich gegenseitig töten, während er die restliche Heilung selbst vollzieht.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Andererseits kann ich auch nicht sagen, daß sie ihn nicht töten werden. Aber ich glaube, er hat jetzt eine bessere Chance als zuvor.«

Dashiva nickte wichtigtuerisch. »Ja, er hat jetzt eine Chance.« Man hätte glauben können, er hätte die Heilung selbst vollzogen.

Zu Flinns offensichtlicher Überraschung trat Samitsu um das Bert herum und half ihm aufzustehen. »Ihr werdet mir erklären, was Ihr getan habt«, sagte sie, wobei ihr königlicher Tonfall in krassem Widerspruch zu der Art stand, wie ihre flinken Finger den Kragen des alten Mannes richteten und seine Aufschläge glätteten. »Wenn ihr es mir nur irgendwie zeigen könntet! Aber Ihr werdet es mir beschreiben. Ihr müßt es tun! Ich werde Euch alles Gold geben, das ich besitze, oder Euch ein Kind gebären oder was immer Ihr wollt, aber Ihr werdet mir alles erzählen, was Ihr mir erzählen könnt.« Sie war sich anscheinend selbst im unklaren, ob sie befahl oder bat, während sie einen sehr verwirrten Flinn hinüber zu den Fenstern führte. Er öffnete den Mund mehr als einmal, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, ihn zum Reden zu bringen, um es zu bemerken.

Min kümmerte es nicht, was jedermann dachte; sie kletterte aufs Bett und legte sich so hin, daß sie Rands Kopf unter ihr Kinn nehmen und ihre Arme um ihn legen konnte. Eine Chance. Sie betrachtete verstohlen die drei um das Bett versammelten Menschen. Cadsuane auf ihrem Stuhl, Amys gegenüber von ihr stehend und Dashiva, der an einem der eckigen Pfosten am Fußende des Bettes lehnte, alle mit unlesbaren Auren und um sie herum tanzenden Bildern. Alle beobachteten Rand sehr angespannt. Amys sah zweifellos irgendeine Katastrophe für die Aiel voraus, wenn Rand starb, und Dashiva, der einzige, der überhaupt einen Ausdruck zeigte -ein düsteres, aber auch besorgtes Stirnrunzeln -, sah eine Katastrophe für die Asha'man voraus. Und Cadsuane... Cadsuane, die Bera und Kiruna nicht nur kannte, sondern sie wegen all ihrer Rand gegenüber geleisteten Eide wie kleine Mädchen zusammenzucken ließ. Cadsuane würde Rand nicht stärker verletzen, ›als es sein mußte‹.

Cadsuanes Blick begegnete Mins Blick einen Moment, und Min erschauderte. Sie würde ihn irgendwie beschützen, solange er sich nicht selbst beschützen konnte, vor Amys und Dashiva und Cadsuane. Irgendwie. Sie summte unbewußt ein Wiegenlied und wiegte Rand dabei sanft. Irgendwie.

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