Von dem hohen Bogenfenster fast achtzig Spann über dem Boden aus, nicht weit von der obersten Spitze der Weißen Burg entfernt, konnte Elaida viele Meilen über Tar Valon bis zu den wogenden Ebenen und den Wäldern hinaussehen, die an den breiten, von Nordwesten heranwogenden Fluß Erinin angrenzten, bevor er sich um die weißen Mauern der großen Inselstadt herum teilte. Unten überlagerten die langen Morgenschatten die Stadt, aber von diesem erhöhten Standpunkt aus schien alles hell und klar. Nicht einmal die sagenhaften Türme von Cairhien konnten wirklich mit der Weißen Burg mithalten. Und sicherlich auch keiner der niedrigeren Türme Tar Valons, auch wenn die Menschen nah und fern von ihnen und ihren gewölbten Himmelsbrücken sprachen.
In dieser Höhe linderte eine beständige Brise die unnatürliche Hitze, die die Welt gefangenhielt. Da das Lichterfest vorüber war, hätte Schnee den Boden bedecken sollen, aber das Wetter entsprach eher dem Höhepunkt eines Hochsommers. Ein weiteres Omen dafür, daß die Letzte Schlacht bevorstand und der Dunkle König die Welt berührte - wenn noch weitere Zeichen nötig gewesen wären. Elaida ließ sich natürlich auch beim Abstieg nicht von der Hitze berühren. Die Brise war nicht der Grund dafür, daß sie ihre Unterkunft, trotz der Unbequemlichkeit so vieler Stufen, hier oben in diese schlichten Räume verlegt hatte.
Man konnte die einfachen rostroten Bodenfliesen und die weißen, mit nur wenigen Wandteppichen geschmückten Marmorwände nicht mit der Erhabenheit des Arbeitszimmers der Amyrlin und den dazugehörigen Räumen weiter unten vergleichen. Sie benutzte jene Räume noch gelegentlich - manche hielten sie für die Macht des Amyrlin-Sitzes für unerläßlich -, aber sie lebte und arbeitete wegen der Aussicht häufiger hier. Aber nicht auf die Stadt oder den Fluß oder die Wälder, sondern auf das, was am Fuß der Burg begann.
Gewaltige Fundamentierungen waren ausgeführt worden. Hohe Holzkräne und Blöcke geschnittenen Marmors und Granits erstreckten sich jetzt über den ehemaligen Übungshof der Behüter. Steinmetze und Arbeiter schwärmten wie Ameisen über den Platz, und endlose Ströme von Wagen krochen durch die Tore in den Burghof und brachten weitere Steine heran. Auf einer Seite stand ein hölzernes ›Arbeitsmodell‹, wie die Steinmetze es nannten, das ausreichend groß war, daß Männer gebückt hineingehen und sich sehr genau ansehen konnten, wo jeder einzelne Stein plaziert werden sollte. Es war so groß wie einige Herrenhäuser. Die meisten der Arbeiter konnten jedoch nicht lesen - weder Worte noch Bauzeichnungen.
Wenn ein König oder eine Königin einen Palast besaß - warum sollte der Amyrlin-Sitz dann auf Räume verwiesen werden, die kaum besser waren als jene gewöhnlicher Schwestern? Ihr Palast würde der Weißen Burg in seiner Pracht gleichkommen und eine zehn Spann höhere Spitze als die Burg selbst aufweisen. Alles Blut war aus dem Gesicht des Steinmetzmeisters gewichen, als er das gehört hatte. Die Burg war von Ogiern unter Mithilfe von Schwestern, die die Macht gebrauchen konnten, erbaut worden. Ein Blick auf Elaidas Gesicht veranlaßte Meister Lerman jedoch, sich nur zu verbeugen und stotternd hervorzubringen, daß natürlich alles ihren Wünschen gemäß ausgeführt würde. Als habe das jemals in Frage gestanden.
Sie verzog verbittert den Mund. Sie hatte wieder Ogier-Steinmetze einsetzen wollen, aber die Ogier beschränkten sich aus irgendeinem Grund auf ihre Steddings. Ihre Aufforderung an den nächstgelegenen Stedding in den Schwarzen Hügeln war abschlägig beschieden worden. Höflich, aber dennoch abschlägig und ohne Erklärung, auch nicht für den Amyrlin-Sitz. Ogier blieben lieber für sich. Oder vielleicht zogen sie sich auch nur aus einer unruhigen Welt zurück. Ogier hielten sich von menschlichem Hader fern.
Elaida verbannte die Ogier energisch aus ihrem Geist. Sie war stolz auf ihre Fähigkeit, Mögliches von Unmöglichem unterscheiden zu können. Ogier waren eine Nebensächlichkeit Sie hatten bis auf die Städte, die sie vor so langer Zeit gebaut hatten und die sie jetzt nur besuchten, um Instandsetzungen durchzuführen, keinen Anteil an der Welt.
Sie betrachtete die Menschen dort unten, die wie Käfer über das Gelände krochen, mit leichtem Stirnrunzeln. Der Bau schritt zollweise voran. Ogier standen nicht zur Verfügung, aber vielleicht konnte die Eine Macht wieder benutzt werden. Nur wenige Schwestern besaßen die wahre Kraft, Erde zu verweben, aber es war nicht so viel Kraft erforderlich, um Steine zu verstärken oder Stein mit Stein zu verbinden. Ja... Der Palast war vor ihrem geistigen Auge bereits vollendet, Kolonnadengänge und große Kuppeln schimmerten weiß und golden, und diese eine Spitze, die bis in den Himmel reichte... Sie hob den Blick zum wolkenlosen Himmel, zu der Stelle, wo die Spitze aufragen würde, und sie seufzte tief. Ja. Die entsprechenden Befehle würden heute ausgegeben werden.
Die hohe Kastenuhr im Raum hinter ihr schlug, und auch in der Stadt läuteten Gongs und Glocken die Stunde, was hier - so hoch oben - nur schwach zu hören war. Elaida trat lächelnd vom Fenster fort, glättete ihr cremefarbenes Seidenkleid mit den roten Schlitzen und richtete die breite, gestreifte Stola des Amyrlin-Sitzes um ihre Schultern.
An der mit reichen Goldverzierungen versehenen Uhr bewegten sich mit dem Geläut kleine Gold-, Silber und Emaillefiguren. Gehörnte, rüsselbewehrte Trollocs flohen auf einer Ebene vor einer mit einem Umhang bekleideten Aes Sedai. Auf einer anderen Ebene versuchte ein Mann, der einen falschen Drachen darstellte, silberne Lichtblitze abzuwehren, die von einer zweiten Schwester geschleudert wurden. Über dem Zifferblatt, das sich über Elaidas Kopf befand, knieten ein gekrönter König und eine Königin vor der Amyrlin mit ihrer Emaillestola, und die Flamme von Tar Valon, aus einem großen Mondstein gehauen, ruhte auf einem goldenen Bogen über ihrem Kopf.
Elaida war nicht oft fröhlich, aber beim Anblick der Uhr konnte sie ein leises, erfreutes Lachen nicht unterdrücken. Cemaile Sorenthaine, von den Grauen erhoben, hatte sie in Auftrag gegeben, nachdem sie von einer Wiederkehr zu der Zeit vor den Trolloc-Kriegen geträumt hatte, als kein Regent einen Thron ohne Billigung der Burg innehaben konnte. Aus Cemailes großartigen Plänen wurde jedoch nichts, und die Uhr stand drei Jahrhunderte lang in einem staubigen Lagerraum - eine Verlegenheit, die niemand herzuzeigen wagte. Bis Elaida kam. Das Rad der Zeit drehte sich. Was einmal war, konnte wieder sein. Würde wieder sein.
Die Kastenuhr beherrschte den Eingang zu ihrem Wohnzimmer und den dahinterliegenden Schlaf- und Ankleideräumen. Edle Wandteppiche, gold- und silberdurchwirkte, farbenprächtige Arbeiten aus Tear und Kandor und Arad Doman, hingen jeweils genau gegenüber ihrem Pendant. Elaida war schon immer für Ordnung gewesen. Der rotgrüngold gemusterte Teppich, der den größten Teil der Fliesen bedeckte, kam aus Tarabon. In jeder Ecke des Raumes stand eine mit schlichten senkrechten Ornamenten verzierte Marmorsäule mit einer weißen Vase aus zerbrechlichem MeervolkPorzellan mit zwei Dutzend sorgfältig arrangierten roten Rosen darauf. Die Eine Macht war erforderlich, um jetzt Rosen erblühen zu lassen, besonders bei der Dürre und Hitze - ihrer Meinung nach eine sinnlose Gewohnheit. Vergoldete Schnitzereien in starrem cairhienischen Stil verzierten sowohl den einzigen Stuhl - niemand saß in ihrer Gegenwart - als auch den Schreibtisch. Ein einfacher Raum mit einer kaum zwei Spann hohen Decke, und doch würde er genügen, bis ihr Palast fertiggestellt war. Mit dieser Aussicht würde er genügen.
Die hohe Rückenlehne mit der aus ausgesuchten Mondsteinen gestalteten Flamme von Tar Valon ragte über ihrem dunkelhaarigen Kopf auf, als sie sich hinsetzte. Nichts verunstaltete die polierte Tischplatte außer drei zufällig angeordneten Schachteln, eine altaranische Lackarbeit. Sie öffnete die Schachtel mit dem Bild goldener Jagdfalken zwischen weißen Wolken und nahm einen schmalen Streifen dünnen Papiers auf einem Stapel Berichten und Briefen heraus.
Zum vielleicht hundertsten Mal las sie die Nachricht, die vor zwölf Tagen durch eine Brieftaube aus Cairhien überbracht worden war. Nur wenige in der Burg wußten davon. Niemand außer ihr kannte den Inhalt der Nachricht oder hätte auch nur eine Ahnung, was sie bedeutete, wenn sie sie gekannt hätten. Der Gedanke ließ sie beinahe erneut lachen.
Der Ring wurde dem Bullen durch die Nase gezogen.
Ich erwarte eine erfreuliche Reise zum Markt.
Es stand keine Unterschrift darunter, aber das war auch nicht nötig. Nur Galina Casban konnte diese herrliche Nachricht geschickt haben. Galina, der Elaida zutraute, was sie sonst nur sich selbst zugetraut hätte. Nicht daß sie irgend jemandem vollkommen vertraut hätte, aber der Anführerin der Roten Ajah vertraute sie doch mehr als sonst jemandem. Sie war immerhin selbst von den Roten erhoben worden und betrachtete sich in vielen Belangen noch immer als Rote.
Der Ring wurde dem Bullen durch die Nase gezogen.
Rand al'Thor - der Wiedergeborene Drache, der Mann, der kurz davor gestanden zu haben schien, die Welt zu vereinnahmen, der Mann, der bereits entschieden zuviel davon vereinnahmt hatte - war abgeschirmt und stand unter Galinas Kontrolle. Und niemand, der ihm vielleicht geholfen hätte, wußte davon. Bestünde auch nur die Möglichkeit, wäre der Wortlaut der Nachricht ein anderer gewesen. Aus verschiedenen früheren Nachrichten konnte man schließen, daß er das Schnelle Reisen wiederentdeckt hatte, ein Talent, das den Aes Sedai seit der Zerstörung der Welt verlorengegangen war, und doch hatte ihn das nicht gerettet. Es hatte Galina sogar in die Hände gespielt. Rand hatte offenbar die Angewohnheit, ohne Ankündigung zu kommen und zu gehen. Wer würde vermuten, daß er dieses Mal nicht gegangen war, sondern gefangengenommen wurde?
Innerhalb einer Woche - höchstenfalls zwei - wäre al'Thor in der Burg, streng überwacht, bis zur Letzten Schlacht sicher in Gewahrsam, und seine Verwüstung der Welt war aufgehalten. Es wäre Wahnsinn, einen Mann, der die Macht lenken konnte, frei herumlaufen zu lassen, aber vor allem gebe das Licht, daß es, trotz der Dürre, noch Jahre dauern möge, bis der Mann dem Dunklen König in der Letzten Schlacht gegenübertreten würde, wie es die Prophezeiung voraussagte. Es würde Jahre dauern, die Welt wieder in Ordnung zu bringen, wobei man damit beginnen müßte, rückgängig zu machen, was al'Thor getan hatte.
Natürlich war der von ihm verursachte Schaden nichts im Vergleich zu dem Schaden, den er als freier Mann noch hätte verursachen können. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, daß er hätte getötet werden können, bevor er gebraucht wurde. Nun, dieser stürmische junge Mann würde so sicher wie ein Kind in den Armen seiner Mutter geborgen sein, bis es an der Zeit war, ihn zum Shayol Ghul zu bringen. Danach, wenn er überlebte...
Elaida schürzte die Lippen. Die Prophezeiungen des Drachen schienen zu besagen, daß er nicht überleben würde, was unleugbar das Beste wäre.
»Mutter?« Elaida zuckte bei Alviarins Anrede fast zusammen. Wie konnte sie eintreten, ohne anzuklopfen! »Ich habe Nachricht von den Ajahs, Mutter.« Die schlanke und kühl wirkende Alviarin trug, passend zu ihrem Kleid, die schmale, weiße Stola der Behüterin der Chronik, die zeigte, daß sie von den Weißen erhoben worden war, aber aus ihrem Munde wurde das Wort ›Mutter‹ weniger zu einem Ehrentitel als zur Anrede einer Gleichstehenden.
Alviarins Anwesenheit genügte, um Elaidas gute Stimmung zu beeinträchtigen. Der Umstand, daß die Behüterin der Chronik aus den Reihen der Weißen und nicht der Roten kam, war stets eine unangenehme Erinnerung an Elaidas Schwäche zu der Zeit, als sie gerade erhoben worden war. Sicherlich war diese Schwäche teilweise überwunden, aber nicht vollständig. Noch nicht. Sie war es leid, bedauern zu müssen, daß sie nur so wenige persönliche Augen-und-Ohren außerhalb Andors hatte und ihre und Alviarins Vorgängerinnen entkommen waren - daß man ihnen zur Flucht verhelfen hatte; sie mußten Hilfe gehabt haben! -, bevor man den Zugang zu den Informationen der Amyrlins erfahren konnte.
Sie benötigte diesen Zugang, der ihr rechtmäßig zustand, überaus dringend. Aufgrund fester Tradition ließen die Ajahs der Behüterin der Chronik jedes Quentchen Information ihrer eigenen Augen-und-Ohren zukommen, an dem sie die Amyrlin teilhaben lassen wollten, aber Elaida war davon überzeugt, daß die Frau sogar von diesem Wenigen noch etwas zurückhielt. Und doch konnte sie die Ajahs nicht um direkte Informationen bitten. Es war schon schlimm genug, schwach zu sein, auch ohne die Welt noch um etwas bitten zu müssen, und die Burg ohnehin, die gerade den wichtigsten Teil der Welt darstellte.
Elaida behielt einen ebenso kühlen Gesichtsausdruck wie Alviarin bei und gewährte ihr nur ein Nicken als Antwort, während sie vorgab, Papiere aus der Lackschachtel durchzusehen. Sie wandte sie langsam eines nach dem anderen um und legte sie ebenso langsam wieder in die Schachtel zurück, ohne wirklich ein Wort aufzunehmen. Es war bitter, Alviarin warten zu lassen, weil es kleinlich war, aber sie konnte jemandem, der ihre Dienerin hätte sein sollen, nur mit Kleinlichkeit beikommen.
Eine Amyrlin konnte jede gewünschte Verfügung erlassen, da ihr Wort Gesetz und daher unumschränkt war. Praktisch bedeuteten viele jener Verfügungen ohne Unterstützung des Saals der Burg jedoch verschwendete Tinte und Papier. Keine Schwester würde einer Amyrlin den Gehorsam verweigern, zumindest nicht direkt, aber die Ausführung vieler Verfügungen bedingten hundert andere anzuordnende Dinge. In den besten Zeiten konnte dies langsam geschehen und gelegentlich so langsam, daß es niemals geschah.
Alviarin stand kühl und regungslos da. Elaida schloß die altaranische Schachtel, behielt aber den Streifen Papier in der Hand, der ihren sicheren Sieg bedeutete. Sie betastete den Streifen unbewußt wie einen Talisman.
»Haben Teslyne oder Joline sich endlich herabgelassen, über mehr als nur ihre sichere Ankunft zu berichten?«
Diese Frage sollte Alviarin daran erinnern, daß niemand sich als geschützt betrachten durfte. Niemanden kümmerte es, was in Ebou Dar geschah - Elaida am wenigsten von allen. Die Hauptstadt Altaras könnte im Meer versinken - außer den Händlern würden es nicht einmal die übrigen Einwohner bemerken. Aber Teslyn war fast fünfzehn Jahre lang die Vorsitzende des Saals gewesen, bevor Elaida ihr befohlen hatte, auf ihr Amt zu verzichten. Wenn Elaida eine Sitzende - eine Rote Sitzende - fortschicken konnte, die ihren Aufstieg von einer Gesandten zur Inhaberin eines mit Fliegenschmutz befleckten Throns unterstützt hatte, während niemand sicher wußte warum, aber hundert Gerüchte umgingen, konnte sie jedermann beherrschen. Aber mit Joline verhielt es sich anders. Sie hatte den Vorsitz der Grünen Ajah nur wenige Wochen innegehabt. Niemand zweifelte daran, daß die Grünen sie nur auserwählt hatten, um zu verdeutlichen, daß sie sich von der neuen Amyrlin nicht einschüchtern lassen würden, die ihr eine schreckliche Buße auferlegt hatte. Natürlich durfte sie diese Unverschämtheit nicht durchgehen lassen und hatte es auch nicht getan. Auch das wußte jedermann.
Es sollte Alviarin daran erinnern, daß sie verwundbar war, aber die schlanke Frau lächelte nur ihr kühles Lächeln. Solange der Saal seine gegenwärtige Zusammensetzung beibehielt, war sie geschützt. Sie blätterte die Papiere in ihrer Hand durch und zog dann eines hervor. »Kein Wort von Teslyn oder Joline, Mutter, nein, obwohl Ihr mit den Nachrichten, die Ihr bis jetzt von den Thronen erhalten habt...« Das Lächeln vertiefte sich beinahe zu einer Belustigung. »Sie möchten alle versuchen festzustellen, ob Ihr so stark wie ... wie Eure Vorgängerin seid.« Selbst Alviarin besaß genug Verstand, den Namen Sanche in Elaidas Gegenwart nicht zu nennen. Es entsprach jedoch der Wahrheit: Alle Könige und Königinnen und sogar einfache Adlige schienen die Grenzen ihrer Macht auszuloten. Sie mußte Exempel statuieren.
Alviarin fuhr mit auf das Schreiben gerichtetem Blick fort: »Aber wir haben Nachricht aus Ebou Dar, von den Grauen.« Hatte sie das betont, um den Dorn noch tiefer einzutreiben? »Anscheinend befinden sich Elayne Trakand und Nynaeve al'Meara dort. Sie geben sich Königin Tylin gegenüber mit dem Segen der aufrührerischen ... Abordnung ... als Vollschwestern aus. Außerdem sind dort noch zwei andere, deren Identität noch nicht bekannt ist und die vielleicht das gleiche tun. Die Listen derer, die sich bei den Aufrührern aufhalten, sind unvollständig. Vielleicht begleiten sie sie auch nur. Die Grauen sind sich nicht sicher.«
»Warum, unter dem Licht, sollten sie sich in Ebou Dar aufhalten?« fragte Elaida herablassend. Darüber hätte Teslyn bestimmt berichtet. »Die Grauen geben jetzt wohl schon Gerüchte weiter. Tarnas Nachricht besagte, daß sie bei den Aufrührern in Salidar seien.« Tarna Feir hatte auch berichtet, Siuan Sanche dort gesehen zu haben. Und Logain Ablar, der jene boshaften Lügen verbreitete, die zu bestätigen - und noch viel weniger zu bestreiten - keine der Roten Schwestern sich herablassen konnte. Die Sanche-Frau hatte mit diesen Unannehmlichkeiten zu tun, oder die Sonne würde morgen im Westen aufgehen. Warum hatte sie nicht einfach davonkriechen und sterben können, hübsch außer Sicht, wie andere gedämpfte Frauen?
Es kostete sie Mühe, nicht tief durchzuatmen. Logain konnte in aller Stille gehängt werden, sobald die Aufrührer unterworfen waren. Die meisten Menschen hielten ihn ohnehin schon lange für tot. Die üble Nachrede der Roten Ajah, daß er ein falscher Drache sei, würde mit ihm sterben. Und wenn die Aufrührer unter Kontrolle waren, konnte die Sanche-Frau dazu gebracht werden, der Amyrlin den Zugang zu den Augen-und-Ohren zu nennen. Und die Namen der Verräter, die ihr zur Flucht verhelfen hatten. Es war töricht zu hoffen, daß Alviarins Name darunter wäre. »Ich kann mir kaum vorstellen, daß das al'Meara-Mädchen nach Ebou Dar läuft und eine Aes Sedai zu sein behauptet. Und bei Elayne kann ich es mir noch weniger vorstellen.«
»Ihr habt befohlen, daß Elayne gefunden werden soll, Mutter. Ihr sagtet, es sei genauso wichtig, wie al'Thor unter Kontrolle zu bringen. Als sie sich in Salidar unter dreihundert Aufrührern befand, konnte nichts getan werden, aber sie wird im Tarasin-Palast nicht so gut geschützt sein.«
»Ich habe keine Zeit für Geschwätz und Gerüchte.« Elaida stieß jedes einzelne Wort verächtlich aus. Wußte Alviarin mehr, als sie wissen sollte, da sie al'Thor und die Tatsache erwähnte, daß er unter Kontrolle gebracht werden sollte? »Ich schlage vor, daß Ihr Tarnas Bericht erneut lest und Euch dann fragt, ob selbst Aufrührer zulassen würden, daß eine Aufgenommene die Stola zu besitzen behauptet.«
Alviarin wartete mit sichtlicher Geduld, daß sie zum Ende käme, überprüfte dann erneut ihr Bündel Papiere und zog vier weitere Blätter daraus hervor. »Der Vertreter der Grauen hat Skizzen gesandt«, sagte sie sanft, während sie die Seiten darbot. »Er ist kein Künstler, aber Elayne und Nynaeve sind wiederzuerkennen.« Kurz darauf, als Elaida die Zeichnungen nicht entgegennahm, steckte sie die Blätter unter den Stapel Papiere.
Elaida spürte sich vor Zorn und Verlegenheit erröten. Alviarin hatte sie bewußt soweit gebracht, indem sie die Skizzen nicht sofort gezeigt hatte. Sie sagte nichts dazu - alles andere wäre noch beschämender gewesen -, aber ihre Stimme wurde kalt. »Sie sollen gefangengenommen und zu mir gebracht werden.«
Der Mangel an Neugier auf Alviarins Gesicht ließ Elaida sich erneut fragen, wieviel die Frau von dem wußte, was sie nicht wissen sollte. Das al'Meara-Mädchen könnte sich sehr wohl als Handhabe gegen al'Thor erweisen, da beide aus demselben Dorf stammten. Alle Schwestern wußten das, genauso wie sie wußten, daß Elayne die Tochter-Erbin Andors und ihre Mutter tot war. Die vagen Gerüchte, die Morgase mit den Weißmänteln in Verbindung brachten, waren vollkommener Unsinn, da sie die Kinder des Lichts niemals um Hilfe gebeten hätte. Sie war tot, ohne daß auch nur ein Leichnam zurückgeblieben war, und Elayne würde Königin sein - wenn man sie von den Aufrührern losreißen konnte, bevor die andoranischen Häuser statt dessen Dyelin auf den Löwenthron brachten. Es war keineswegs allgemein bekannt, was Elayne größere Wichtigkeit als anderen Adligen mit einem starken Anspruch auf den Thron verlieh. Natürlich zusätzlich zu der Tatsache, daß sie eines Tages eine Aes Sedai wäre.
Elaida besaß manchmal die Gabe des Vorhersagens, ein Talent, das viele vor ihr verloren glaubten, und sie hatte vor langer Zeit vorhergesagt, daß das Königliche Haus von Andor die Lösung zum Sieg in der Letzten Schlacht in Händen hielt. Fünfundzwanzig Jahre und mehr waren vergangen, und sobald deutlich wurde, daß Morgase Trakand den Thron in der Erbfolge einnehmen würde, hatte Elaida sich an die Fersen des Mädchens geheftet, das sie damals noch war. Elaida wußte nicht, wie entscheidend Elayne in dieser Sache war, aber das Vorhersagen entsprach niemals der Unwahrheit. Manchmal haßte sie dieses Talent beinahe. Sie haßte Dinge, die sie nicht kontrollieren konnte.
»Ich will sie alle vier, Alviarin.« Die anderen beiden waren gewiß unwichtig, aber sie würde kein Risiko eingehen. »Überbringt Teslyn auf der Stelle meinen Befehl. Sagt ihr - und Joline -, daß sie sich wünschen werden, niemals geboren worden zu sein, wenn sie von jetzt an nicht regelmäßig Bericht erstatten. Und gebt auch die Nachricht von der Macura-Frau an sie weiter.« Sie verzog bei diesen letzten Worten den Mund.
Der Name ließ auch Alviarin sich unbehaglich regen, was nicht verwunderlich war. Ronde Macuras böser kleiner Aufguß könnte jeder Schwester Unbehagen bereiten. Gabelwurz war nicht tödlich - zumindest wachte man wieder auf, wenn man nur eine Dosis zum Einschlafen genommen hatte -, aber wenn man eine Dosis einsetzte, die die Fähigkeit einer Frau, die Macht zu lenken, schwächte, schien dies unmittelbar gegen Aes Sedai gerichtet. Bedauerlich, daß die Nachricht nicht eingetroffen war, bevor Galina fortging. Wenn Gabelwurz bei Männern genauso gut wirkte wie anscheinend bei Frauen, hätte es ihre Aufgabe erheblich erleichtert.
Alviarins Unbehagen hielt nur einen kurzen Moment an, dann gewann sie ihre Selbstbeherrschung zurück und wurde erneut so unnachgiebig wie eine Eismauer. »Wie Ihr wünscht, Mutter. Sicherlich werden sie sofort gehorchen, wie es gewiß auch sein sollte.«
Jäher Zorn ergriff Elaida wie Feuer eine trockene Weide. Das Schicksal der Welt lag in ihren Händen, aber ständig gerieten ihr unwichtige Stolpersteine in den Weg. Schlimm genug, daß sie sich um Aufrührer und widerspenstige Herrscher kümmern mußte, aber zudem brüteten und murrten zu viele Sitzende hinter ihrem Rücken, was den anderen Frauen eine gute Grundlage bot. Sie hatte nur sechs Sitzende fest unter Kontrolle, und sie vermutete, daß mindestens ebenso viele Alviarin genau zuhörten, bevor sie abstimmten. Sicherlich wurde vom Saal nichts Wesentliches genehmigt, wenn Alviarin nicht zustimmte. Es ging nicht um offen gezeigte Zustimmung, die bestätigt hätte, daß Alviarin mehr Einfluß oder Macht besaß, als sie eine Behüterin der Chronik besitzen sollte, aber wenn Alviarin gegen etwas war... Zumindest waren sie nicht soweit gegangen, etwas zurückzuweisen, was Elaida ihnen sandte. Sie verzögerten Dinge einfach nur und ließen ihre Wünsche zu oft verkümmern. Sie mußte eigentlich noch dankbar sein. Einige Amyrlins waren zu kaum mehr als Marionetten geworden, wenn der Saal erst Geschmack daran gefunden hatte zu verwerfen, was jene vorantrieben.
Sie rang die Hände, und der Papierstreifen knisterte leise.
Der Ring wurde dem Bullen durch die Nase gezogen.
Alviarin wirkte so gefaßt wie eine Marmorstatue, aber es kümmerte Elaida nicht mehr. Der Schafhirte war auf dem Weg zu ihr. Die Aufrührer würden zerschlagen, der Saal eingeschüchtert, Alviarin auf die Knie gezwungen und jeder einzelne widerspenstige Regent zur Räson gebracht werden - von Tenobia von Saldaea, die sich vor ihrer Abordnung verbarg, bis zu Mattin Stepaneos von Illian, der sich erneut nicht festlegen wollte, sondern mit ihr und den Weißmänteln und, soweit sie wußte, auch mit al'Thor übereinzustimmen versuchte. Elayne würde auf den Thron in Caemlyn gebracht werden, ohne daß ihr dabei ihr Bruder in den Weg geriet, und sie wäre sich vollkommen bewußt, wer sie dorthin gebracht hatte. Ein wenig erneut in der Burg verbrachte Zeit würde sie zu Wachs in Elaidas Händen werden lassen.
»Ich will, daß jene Männer vernichtet werden, Alviarin.« Es war nicht nötig zu sagen, wen sie meinte.
Die halbe Burg sprach von nichts anderem als von jenen Männern in der Schwarzen Burg, und die andere Hälfte flüsterte heimlich über sie.
»Es gibt beunruhigende Berichte, Mutter.« Alviarin sah ihre Papiere noch einmal durch, aber Elaida glaubte, daß es nur ihre Unruhe verbergen sollte. Sie zog keine weiteren Blätter hervor, und wenn die Frau auch nichts lange beunruhigte - dieser unselige Misthaufen außerhalb Caemlyns mußte es tun.
»Noch mehr Gerüchte? Glaubt ihr die Geschichten über angeblich Tausende, die als Antwort auf jenen garstigen Straferlaß in Caemlyn zusammenströmen?« Es war nicht al'Thors geringste Tat, aber kaum ein Grund zur Besorgnis. Nur ein Haufen Schmutz, der beseitigt werden mußte, bevor Elayne in Caemlyn gekrönt wurde.
»Natürlich nicht, Mutter, aber...«
»Toveine soll anführen. Für diese Aufgabe sind die Roten zuständig.« Toveine Gazal war fünfzehn Jahre von der Burg fortgewesen, bis Elaida sie zurückberief. Die beiden anderen Roten Sitzenden, die verzichtet und sich gleichzeitig ›freiwillig‹ zurückgezogen hatten, waren nervöse Frauen, aber anders als Lirene und Tsutama war Toveine in ihrem einsamen Exil nur härter geworden. »Sie soll fünfzig Schwestern zur Verfügung gestellt bekommen.« Elaida hegte keinen Zweifel, daß sich höchstens zwei oder drei Männer in dieser Schwarzen Burg befanden, die tatsächlich die Macht lenken konnten. Fünfzig Schwestern sollten sie leicht überwältigen. Und doch könnten noch andere dort sein, mit denen sie sich beschäftigen müßten. Nachläufer, Zivilisten, die der Truppe nachzogen, Toren voller sinnloser Hoffnungen und unvernünftigem Ehrgeiz. »Und sie soll hundert -nein, zweihundert - Angehörige der Wache mitnehmen.«
»Seid Ihr sicher, daß das klug ist? Die Gerüchte über Tausende sind verrückt, aber ein Vertreter der Grünen in Caemlyn behauptet, daß sich in dieser Schwarzen Burg über vierhundert Mann aufhalten. Ein schlauer Bursche. Anscheinend hat er die Proviantwagen gezählt, welche die Stadt verlassen. Und Ihr seid Euch doch der Gerüchte bewußt, daß Mazrim Taim bei ihnen sein soll.«
Elaida behielt nur mühsam einen gelassenen Gesichtsausdruck bei. Sie hatte verboten, daß Taims Name erwähnt würde, und es war bitter, daß sie es nicht wagte - nicht wagte! -, Alviarin eine Strafe aufzuerlegen. Die Frau sah ihr unverwandt in die Augen. Das Fehlen eines auch nur oberflächlichen ›Mutter‹ war bezeichnend. Und die Frechheit, sie zu fragen, ob ihr Handeln klug sei! Sie war der Amyrlin-Sitz! Nicht die Erste unter Gleichgestellten - der Amyrlin-Sitz!
Sie öffnete die größte der Lackschachteln, und geschnitzte Elfenbeinminiaturen auf grauem Samt wurden sichtbar. Häufig tröstete es sie schon, wenn sie ihre Sammlung nur berührte, aber vor allem ließ es, genau wie das Stricken, das sie genoß, denjenigen, wer auch immer sie aufsuchte, seinen Platz erkennen, wenn sie den Miniaturen anscheinend mehr Aufmerksamkeit schenkte als den Worten des Betreffenden. Sie betastete zuerst eine auserlesene Katze, schlank und geschmeidig, dann eine sorgfältig gekleidete Frau mit einem eigentümlichen kleinen Tier, ein Phantasieprodukt des Schnitzers, fast wie ein in Haar gehüllter Mann, der auf ihrer Schulter kauerte, aber letztendlich erwählte Elaida einen Fisch, der so fein gearbeitet war, daß er trotz des vom Alter gelb gewordenen Elfenbeins fast echt erschien.
»Vierhundert Mann aus dem Pöbel, Alviarin.« Sie fühlte sich bereits ruhiger, da Alviarins Mund zu einer schmalen Linie geworden war. Nur ein wenig, aber sie genoß jeden Riß in der Fassade der Frau. »Wenn es so viele sind. Und nur ein Narr könnte glauben, daß mehr als einer oder zwei von ihnen die Macht lenken können. Höchstens! Wir haben in zehn Jahren nur sechs Männer mit dieser Fähigkeit gefunden. Und nur vierundzwanzig während der letzten zwanzig Jahre. Ihr wißt, wie das Land gesäubert wurde. Und was Taim betrifft...« Der Name brannte auf ihrer Zunge. Der einzige falsche Drache, der jemals entkommen konnte und gedämpft wurde, sobald er in den Händen der Aes Sedai war Das wollte sie nicht in der Chronik über ihre Regierungszeit lesen, und sicher nicht, bevor sie nicht beschlossen hatte, wie darüber berichtet werden sollte. Gegenwärtig sagte die Chronik noch nichts über die Zeit nach seiner Gefangennahme aus.
Sie strich mit dem Daumen über die Fischschuppen. »Er ist tot, Alviarin, sonst hätten wir schon längst etwas von ihm gehört, und er dient nicht al'Thor. Könnt Ihr Euch vorstellen, daß er zunächst behauptete, der Wiedergeborene Drache zu sein, um diesem dann zu dienen? Könnt Ihr Euch vorstellen, daß er in Caemlyn wäre, ohne daß Davram Bashere zumindest versuchen würde, ihn zu töten?« Sie bewegte den Daumen schneller über den Elfenbeinfisch, als sie sich in Erinnerung rief, daß der Marschall-General von Saldaea in Caemlyn Befehle von al'Thor entgegennahm. Worauf wollte Tenobia hinaus? Elaida behielt dies alles jedoch für sich und hielt ihr Gesicht ausdruckslos.
»Es ist gefährlich, die Zahl vierundzwanzig laut zu nennen«, sagte Alviarin unheilvoll ruhig, »genauso gefährlich wie die Zahl zweitausend. Die Chronik berichtet nur von sechzehn. Wir dürfen diese Jahre nicht Wiederaufleben lassen oder Schwestern, die nur wissen, was ihnen gesagt wurde, die Wahrheit herausfinden lassen. Selbst diejenigen, die Ihr zurückgerufen habt, bewahren Schweigen.«
Elaidas Gesicht nahm einen gedankenverlorenen Ausdruck an. Soweit ihr bekannt war, hatte Alviarin die Wahrheit über jene Jahre erst erfahren, nachdem sie zur Behüterin der Chronik erhoben worden war, aber ihr Wissen war persönlicherer Natur. Nicht daß Alviarin sich dessen bewußt sein könnte - jedenfalls nicht mit Gewißheit. »Tochter, was auch immer sich daraus ergibt - ich habe keine Furcht. Wer wird mir eine Strafe auferlegen und wofür?« Damit war die Wahrheit hübsch verhüllt, aber das beeindruckte die andere Frau offenbar überhaupt nicht.
»Die Chronik berichtet über einige Amyrlins, die aus einem üblicherweise unklaren Grund eine öffentliche Strafe auf sich nahmen, aber mir schien es stets, als hätte eine Amyrlin es vielleicht so aufschreiben lassen, wenn sie keine andere Wahl hatte als...«
Elaida schlug mit der Hand auf den Tisch. »Genug, Tochter! Ich bin das Burggesetz! Was verborgen wurde, wird verborgen bleiben, aus dem gleichen Grund, aus dem es zwanzig Jahre lang verborgen blieb - zum Nutzen der Weißen Burg.« Erst dann spürte sie den Schmerz in ihrer Handfläche. Sie hob die Hand und offenbarte den entzweigebrochenen Fisch aus Elfenbein. Wie alt war er gewesen? Fünfhundert Jahre? Tausend Jahre? Es kostete sie erhebliche Mühe, nicht vor Zorn zu beben. Ihre Stimme war sicherlich davon beeinträchtigt. »Toveine soll fünfzig Schwestern und zweihundert Angehörige der Burgwache nach Caemlyn zu dieser Schwarzen Burg führen, wo sie jeden Mann dämpfen sollen, der die Macht lenken kann. Hängt jeden zusammen mit so vielen anderen, wie sie lebend gefangennehmen können.« Alviarin blinzelte angesichts dieser Verletzung des Burggesetzes nicht einmal. Elaida hatte die Wahrheit ausgesprochen, wie sie sie sah. Die Amyrlin war das Burggesetz. »Und hängt auch die Toten. Sie sollen eine Warnung für jedermann sein, der auch nur daran denkt, die Wahre Quelle zu berühren. Toveine soll zu mir kommen. Ich will ihren Plan hören.«
»Alles wird Euren Befehlen gemäß ausgeführt werden, Mutter.« Die Antwort der Frau erfolgte genauso kühl und beherrscht, wie ihr Gesicht es war. »Aber wenn ich einen Vorschlag machen dürfte - vielleicht möchtet Ihr noch einmal darüber nachdenken, so viele Schwestern von der Burg fortzuschicken. Anscheinend fanden die Aufrührer Euer Angebot unzulänglich. Sie befinden sich nicht mehr in Salidar, sondern sie sind auf dem Marsch. Die Berichte kommen zwar aus Altara, aber sie dürften inzwischen bereits in Murandy sein. Und sie haben sich selbst eine Amyrlin erwählt.« Sie überflog das erste Blatt ihres Stapels Papier, als suche sie nach dem Namen. »Es ist anscheinend Egwene al'Vere.«
Daß Alviarin dies - die wichtigste Nachricht - bis jetzt aufgespart hatte, hätte Elaida vor Zorn zerspringen lassen müssen. Statt dessen warf sie den Kopf zurück und lachte. Die Überraschung auf Alviarins Gesicht ließ sie noch lauter lachen, bis sie sich die Augen wischen mußte.
»Ihr erkennt es nicht«, sagte sie, als sie zwischen Wogen der Heiterkeit wieder sprechen konnte. »Ihr seid zum Glück die Behüterin der Chronik, Alviarin, und keine Sitzende. Im Saal würden die anderen Euch, blind wie Ihr seid, innerhalb eines Monats beiseite schieben und Euch nur noch heranholen, wenn sie Eure Stimme brauchten.«
»Ich erkenne genug, Mutter.« Alviarins eiseskalte Stimme enthielt keinerlei Empfindung. »Ich sehe dreihundert und vielleicht mehr aufrührerische Aes Sedai, die mit einem von Gareth Bryne - der als großer Feldherr anerkannt ist - angeführten Heer auf Tar Valon zumarschieren. Auch wenn man die eher lächerlichen Berichte mit Vorsicht betrachtet, könnte dieses Heer über zwanzigtausend Mann umfassen, und da Bryne es anführt, werden in jedem Dorf und jeder Stadt, durch die sie ziehen, weitere hinzukommen. Ich will damit natürlich nicht sagen, daß ihre Hoffnung, die Stadt einzunehmen, berechtigt wäre, aber diese Angelegenheit ist wohl kaum ein Grund zur Heiterkeit. Chubain sollte befohlen werden, weitere Erhebungen für die Burgwache durchzuführen.«
Elaida senkte den Blick ungehalten auf den zerbrochenen Fisch, und dann stand sie auf und schritt, Alviarin den Rücken zugewandt, zum nächstgelegenen Fenster. Der im Bau befindliche Palast vertrieb den bitteren Geschmack - das und der Streifen Papier, den sie noch immer umklammert hielt.
Sie lächelte auf ihren zukünftigen Palast hinab. »Dreihundert Aufrührer, ja, aber ihr solltet Tarnas Bericht abermals lesen. Mindestens einhundert Aufrührer sind bereits kurz davor, sich loszulösen.« Sie vertraute Tarna in gewissem Umfang. Sie war eine Rote, die keine unsinnigen Gedanken hegte, und sie sagte, die Aufrührer seien bereit, den Schatten anzugreifen. Stille, verzweifelte Schafe, die nach einem Hirten suchen, sagte sie. Sie war natürlich eine Wilde, aber dennoch vernünftig. Tarna sollte bald zurückkehren und einen vollständigeren Bericht abgeben können. Nicht daß er nötig wäre. Elaidas Pläne zeigten unter den Aufrührern bereits ihre Wirkung. Aber das war ihr Geheimnis.
»Tarna war sich stets sicher, Menschen zu etwas bringen zu können, das sie nicht tun wollten.« War dies mit besonderer Betonung geäußert worden, mit einem bedeutungsvollen Unterton? Elaida beschloß, es zu ignorieren. Noch durfte sie zu vieles an Alviarin nicht beachten, aber der Tag würde kommen. Bald.
»Aber vom Heer sagt sie, Tochter, es seien höchstens zwei- oder dreitausend Mann. Wenn es mehr wären, hätten sie sich ihr gezeigt, um uns einzuschüchtern.« Elaida glaubte, daß Augen-und-Ohren stets übertrieben, um ihre Neuigkeiten wertvoller erscheinen zu lassen. Nur Schwestern konnte man wahrhaft vertrauen. Roten Schwestern jedenfalls. Einigen von ihnen. »Aber es würde mich auch nicht kümmern, wenn sie zwanzig-oder fünfzig- oder hunderttausend Mann stark wären. Könnt Ihr Euch auch nur annähernd vors teilen, warum?« Als sie sich umwandte, war Alviarins Gesicht ausdruckslos und gefaßt, eine Maske über verständnislosem Unwissen. »Ihr scheint mit allen Gesichtspunkten des Burggesetzes vertraut zu sein. Welche Strafe droht Aufrührern?«
»Anführer«, antwortete Alviarin zögerlich, »werden gedämpft.« Sie runzelte leicht die Stirn, und ihre Röcke schwangen kaum sichtbar, als sie sich nervös regte. Sogar Aufgenommene wußten das, und sie konnte sich nicht vorstellen, warum Elaida danach fragte. Gut. »Und vielen anderen droht dieselbe Strafe.«
»Vielleicht.« Die meisten Anführer könnten der Strafe vielleicht entgehen, wenn sie sich angemessen ergaben. Die gesetzliche Mindeststrafe war, vor den versammelten Schwestern in der Großen Halle gezüchtigt zu werden, gefolgt von mindestens einem Jahr und einem Tag öffentlicher Buße. Aber nichts besagte, daß die Strafe sofort abgebüßt werden mußte. Ein Monat hier, ein Monat da - und sie würden ihre Verbrechen in zehn Jahren immer noch wiedergutmachen, eine ständige Erinnerung daran, was geschah, wenn man sich ihr widersetzte. Einige würden natürlich gedämpft werden - Sheriam und einige der bekannteren sogenannten Sitzenden -, aber nur, um die anderen einzuschüchtern, ohne daß die Burg geschwächt würde. Die Weiße Burg mußte vollständig bleiben, und sie mußte stark bleiben. Stark, und fest in ihrem Griff.
»Nur eines der von ihnen begangenen Verbrechen fordert das Dämpfen.« Alviarin öffnete den Mund. Es hatte immer schon Auflehnungen gegeben, so geheim, daß nur wenige unter den Schwestern davon wußten. Die Chronik schwieg darüber. Die Listen der Gedämpften und Hingerichteten waren in Berichten zu finden, die nur der Amyrlin, der Behüterin der Chronik und den Sitzenden zugänglich waren, abgesehen von den wenigen Bibliothekaren, die sie hüteten. Elaida gab Alviarin keine Gelegenheit zu sprechen. »Jede Frau, die unrechtmäßig Anspruch auf den Titel der Amyrlin erhebt, muß gedämpft werden. Wenn sie auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg hätten, wären Sheriam oder Lelaine oder Carlinya oder eine der anderen ihre Amyrlin.« Tarna berichtete, daß Romanda Cassin ihre Zurückgezogenheit aufgegeben hatte. Romanda hätte die Stola sicherlich mit beiden Händen ergriffen, wenn sie auch nur die geringste Gelegenheit gesehen hätte. »Statt dessen haben sie eine Aufgenommene auserwählt!«
Elaida schüttelte merkwürdig belustigt den Kopf. Sie konnte jedes Wort des Gesetzestextes zitieren, der den Vorgang zur Wahl einer Amyrlin beschrieb - sie hatte ihn immerhin auch zu ihrem eigenen Nutzen gebraucht -, und nicht ein einziges Mal forderte dieser Text, daß die Frau eine vollwertige Schwester sein mußte. Aber offensichtlich mußte sie es dennoch sein, so daß jene, die das Gesetz formuliert hatten, es nicht festschrieben, und die Aufrührer hatten diese Lücke genutzt. »Sie wissen, daß ihre Sache hoffnungslos ist, Alviarin. Sie wollen sich brüsten und sich aufspielen, indem sie versuchen, einen Schutz vor ihnen drohender Strafe zu finden, und bringen das Mädchen als Opfer ein.« Was bedauerlich war. Das al'Vere-Mädchen war eine weitere mögliche Handhabe gegen al'Thor, und wenn sie die Eine Macht vollkommen beherrschte, mußte sie eine der Stärksten der letzten tausend Jahre sein. Wahrhaft bedauerlich.
»Gareth Bryne und sein Heer empfinde ich kaum als Prahlerei. Ihr Heer wird fünf oder sechs Monate brauchen, bis es Tar Valon erreicht. In dieser Zeit könnte Chubain die Anzahl der Wachen erhöhen...«
»Ihr Heer«, höhnte Elaida. Alviarin war eine Närrin! Auch wenn sie sich äußerlich gelassen gab, war sie im Grunde ein Angsthase. Als nächstes würde sie den Unsinn der Sanche-Frau über die freigelassenen Verlorenen hervorbringen. Sie kannte das Geheimnis natürlich nicht, aber genauso gut... »Bauern führen Spieße, Schlachter führen Bogen und Schneider reiten! Und bei jedem vom Weg abweichenden Schritt denken sie an die Leuchtenden Mauern, die Artur Falkenflügel im Zaum hielten.« Nein, kein Hase, ein Wiesel. Und doch wäre sie früher oder später Wieselfellbesatz an Elaidas Umhang. Das Licht vollbringe es bald. »Und bei jedem vom Weg abweichenden Schritt werden sie einen - wenn nicht zehn - Mann verlieren. Ich wäre nicht überrascht, wenn unsere Aufrührerinnen lediglich mit ihren Behütern erschienen.« Zu viele Menschen wußten von der Spaltung der Burg. Aber wenn der Aufstand gebrochen war, konnte alles als List dargestellt werden, vielleicht als Teil der Ergreifung al'Thors. Es wäre eine jahrelange Bemühung, aber Erinnerungen verblaßten mit den Generationen. Jede letzte Aufrührerin würde auf Knien dafür bezahlen.
Elaida ballte die Fäuste, als packe sie bereits alle Aufrührerinnen an der Kehle. Oder Alviarin. »Ich werde sie zerbrechen, Tochter. Sie werden wie eine verfaulte Melone zerspringen.« Ihr Geheimnis stellte das sicher, gleichgültig, an wie viele Bauern und Schneider sich Bryne klammerte, aber sollte die Frau doch glauben, was sie wollte. Plötzlich griff ihr Talent des Vorhersagens, zeigte ihr mit absoluter Sicherheit Dinge, die sie nicht deutlicher hätte erkennen können, wenn sie offen vor ihr ausgelegt worden wären. »Die Weiße Burg wird wieder vollständig sein - bis auf wenige Übrigbleibende, die verstoßen und verachtet werden -, vollständig und stärker denn je. Rand al'Thor wird dem Amyrlin-Sitz gegenüber treten und ihren Zorn erkennen. Die Schwarze Burg wird von Blut und Feuer zerrissen werden, und Schwestern werden dort einhergehen. Das prophezeie ich.«
Wie üblich zitterte sie nach dem Vorhersagen und rang nach Atem. Sie zwang sich, still und aufrecht zu stehen und langsam zu atmen. Sie ließ niemals Schwäche erkennen. Aber Alviarin... Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Lippen geteilt, als habe sie die Worte vergessen, die sie hatte aussprechen wollen. Ein Blatt entglitt dem Stapel Papieren in ihren Händen und fiel beinahe herab, bevor sie es auffing. Das brachte sie zu sich. Sie setzte blitzartig wieder ihre Maske der Gelassenheit auf, ein vollkommenes Bild der Aes Sedai-Ruhe, aber sie war eindeutig bis ins Mark erschüttert. Oh, sehr gut. Sollte sie an Elaidas sicherem Sieg zu kauen haben. Sollte sie kauen und sich die Zähne daran ausbeißen.
Elaida atmete tief durch, setzte sich dann wieder hinter ihren Schreibtisch und legte den zerbrochenen Fisch zur Seite, wo sie ihn nicht ansehen mußte. Es war an der Zeit ihren Vorteil zu nutzen. »Wir haben heute zu arbeiten, Tochter. Die erste Nachricht muß Lady Caraline Damodred überbracht werden...«
Elaida legte ihre Pläne dar und erweiterte Alviarins Wissen, weil eine Amyrlin letztendlich durch ihre Behüterin der Chronik wirken mußte, wie sehr sie die Frau auch haßte. Es war eine Genugtuung, Alviarins Augen zu beobachten, ihre Verwunderung darüber zu erkennen, was sie wohl sonst noch alles nicht wußte. Aber während Elaida ihre Befehle erteilte und die Welt zwischen dem Aryth Meer und dem Rückgrat der Welt aufteilte und zuwies, tanzte vor ihrem geistigen Auge das Bild des jungen al'Thor, der wie ein eingesperrter Bär auf dem Weg zu ihr war, um zu lernen, wie er für eine Mahlzeit tanzen sollte.
Die Chronik konnte die Jahre der Letzten Schlacht kaum festhalten, ohne den Wiedergeborenen Drachen zu erwähnen, aber sie wußte, daß ein Name größer geschrieben würde als alle anderen. Elaida do Avriny a'Roihan, jüngste Tochter eines kleineren Hauses im Norden Murandys, die als der größte und mächtigste Amyrlin-Sitz aller Zeiten in die Geschichte eingehen würde. Als die Frau, die die Menschheit rettete.
Die Aiel, die in einer tiefen Senke der niedrigen, mit braunem Gras bewachsenen Hügel standen, wirkten wie geschnitzte Figuren, da sie den durch einen heftigen Wind herangetragenen Staub nicht beachteten. Es störte sie nicht, daß zu dieser Jahreszeit hoher Schnee den Boden hätte bedecken sollen. Niemand von ihnen hatte jemals Schnee gesehen, und diese Bruthitze, obwohl die Sonne ihren Zenit noch nicht erreicht hatte, war weniger stark als dort, wo sie herkamen. Ihre Aufmerksamkeit blieb auf die südliche Anhöhe gerichtet. Sie warteten auf das Zeichen, welches das Eintreffen des Schicksals der Shaido-Aiel ankündigen würde.
Sevanna wirkte äußerlich wie die anderen, obwohl sie durch einen Kreis von Töchtern des Speers um sie herum hervorgehoben wurde, die ruhig auf den Fersen hockten, die dunklen Schleier bereits über die Gesichter gezogen, so daß nur die Augen freiblieben. Sie wartete ebenfalls und ungeduldiger, als sie schien, aber doch nicht so ungeduldig, daß alles andere ausgeschlossen gewesen wäre. Das war ein Grund, warum sie befahl und die anderen folgten. Der zweite Grund war, daß sie erkannte, was sein konnte, wenn man sich nicht von veralteten Bräuchen und starrer Tradition die Hände binden ließ.
Zu ihrer Linken befanden sich zwölf Männer und eine Frau, die jeder einen runden Schild und drei oder vier Kurzspeere trugen und mit dem graubraunen Cadin'sor bekleidet waren, der sich der Landschaft hier genauso gut anpaßte wie im Dreifaltigen Land. Efalin, deren kurze, bereits ergrauende Haare unter der um ihren Kopf gewickelten Shoufa verborgen waren, schaute hin und wieder in Sevannas Richtung. Wenn man von einer Tochter des Speers behaupten konnte, daß sie beunruhigt war, dann galt dies für Efalin. Einige Shaido-Töchter des Speers waren nach Süden gezogen, um sich den um Rand al'Thor herumscharwenzelnden Toren anzuschließen, und Sevanna bezweifelte nicht, daß andere darüber sprachen. Efalin mußte sich fragen, ob es genügte, wenn sie als Ausgleich eine Eskorte von Töchtern des Speers für Sevanna bereitstellte, als wäre sie selbst einst eine Far Dareis Mai gewesen. Zumindest zweifelte Efalin nicht daran, wo die wahre Macht lag.
Wie Efalin führten auch die Männer Shaido-Kriegergemeinschaften, und sie beäugten einander hin und wieder, während sie die Anhöhe beobachteten -besonders der wuchtige Maeric, der ein Seia Doon war, und der narbengesichtige Bendhuin von Far Aldazar Din. Nach den heutigen Ereignissen würde die Shaido nichts mehr davon abhalten, einen Mann nach Rhuidean zu schicken, der zum Clanhäuptling erklärt würde, wenn er überlebte. Bis das geschah, sprach Sevanna als Clanhäuptling, da sie die Witwe des letzten Häuptlings war. Der letzten beiden Häuptlinge. Sollten doch diejenigen, die murrten, sie bringe Pech, daran ersticken.
Goldene und elfenbeinerne Armreife klangen leise, als Sevanna die dunkle Stola um ihre Arme und ihre Halsketten richtete. Auch letztere waren überwiegend aus Gold und Elfenbein, nur eine Kette bestand aus einer Ansammlung von Perlen und Rubinen, die einer adligen Feuchtländerin gehört hatten - der Frau, die jetzt Weiß trug und die anderen Gai'shain zurück in die ›Brudermörders Dolch‹ genannten Berge brachte. Einer der Rubine von der Größe eines kleinen Hühnereis schmiegte sich zwischen ihre Brüste. Die Feuchtlande hielten reiche Beute bereit. Ein großer Smaragd an ihrem Ring fing das Sonnenlicht in grünem Feuer ein. Fingerringe waren einer der Bräuche der Feuchtländer, die es wert waren, sie sich zu eigen zu machen, ungeachtet der häufig auf sie abzielenden Blicke. Sie besäße noch mehr Ringe, wenn sie diesem in seiner Pracht entsprächen.
Die meisten Männer glaubten, daß Maeric oder Bendhuin als erster die Erlaubnis der Weisen Frauen erhielte, sich nach Rhuidean durchzuschlagen. Von dieser Gruppe vermutete nur Efalin, daß niemand die Erlaubnis bekäme. Aber sie war klug genug, ihre Vermutung vorsichtshalber nur Sevanna und niemandem sonst gegenüber auszusprechen. Sie konnten sich nicht vorstellen, das Alte abzulegen, und tatsächlich war sich Sevanna bewußt, auch wenn sie das Neue ungeduldig annehmen wollte, daß sie die Weisen Frauen langsam darauf hinführen mußte. Vieles Hergebrachte hatte sich bereits geändert, seit die Shaido die Drachenmauer in die Feuchtlande überquert hatten - die im Vergleich zum Dreifaltigen Land noch immer fruchtbar waren -, und dennoch würde sich noch mehr ändern. Wäre Rand al'Thor erst in ihrer Hand, und hätte sie den Car'a'carn erst geheiratet, den Häuptling aller Aielhäuptlinge - dieser Unsinn vom Wiedergeborenen Drachen war Feuchtländer-Geschwätz -, würden Clanhäuptlinge und auch Septimenhäuptlinge und vielleicht sogar die Oberhäupter der Kriegergemeinschaften auf andere Art benannt. Rand al'Thor würde sie benennen - natürlich nach ihren Anweisungen. Und das wäre erst der Anfang. Beispielsweise würde sich auch die Vorstellung der Feuchtländer ändern, den Rang an die Kinder und Enkel weiterzugeben.
Der Wind frischte einen Moment auf und wehte südwärts. Er würde die Geräusche der Feuchtländerpferde und der Wagen übertönen.
Sie richtete erneut ihre Stola und versagte es sich, das Gesicht zu verziehen. Sie durfte um keinen Preis beunruhigt wirken. Ein Blick nach rechts vertrieb die Sorge sofort wieder. Über zweihundert Weise Frauen der Shaido hatten sich dort versammelt, und normalerweise beobachteten zumindest einige sie wie Geier, auch wenn aller Augen auf die Anhöhe gerichtet waren. Nicht nur eine der Frauen richtete unbehaglich ihre Stola oder glättete bauschige Röcke. Sevanna schürzte die Lippen. Schweiß perlte auf einigen jener Gesichter. Schweiß! Wo war ihre Ehre geblieben, daß sie bei jedem Blick nervös wurden?
Alle erstarrten ein wenig, als ein junger Sovin Nai auf der Anhöhe erschien und im Hinabsteigen seinen Schleier senkte. Er kam direkt zu Sevanna, wie es angemessen war, aber zu ihrer Verärgerung sprach er ausreichend laut, daß alle ihn hören konnten. »Einer ihrer dreisten Kundschafter ist entkommen. Er war verletzt, ist aber dennoch zu Pferde geflüchtet.«
Die Anführer der Gemeinschaften stürmten voran, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. Das durfte sie nicht durchgehen lassen. Sie würden im eigentlichen Kampf die Führung übernehmen - Sevanna hatte niemals in ihrem Leben mehr getan, als einen Speer nur in der Hand zu halten -, aber sie würde sie keinen Moment vergessen lassen, wer sie war. »Erhebt jeden einzelnen Speer gegen sie«, befahl sie laut, »bevor sie sich vorbereiten können.« Sofort scharten sie sich wie ein Mann um sie.
»Jeden Speer?« fragte Bendhuin ungläubig. »Ihr meint, außer den Vorposten...«
Maeric unterbrach ihn mit finsterem Gesicht. »Wenn wir keine Reserve zurückbehalten, können wir...«
Sevanna schnitt ihnen beiden das Wort ab. »Jeden Speer! Wir haben es mit Aes Sedai zu tun. Wir müssen sie augenblicklich überwältigen!« Efalin und die meisten der anderen nahmen einen unbewegten Gesichtsausdruck an, aber Bendhuin und Maeric runzelten nachdenklich die Stirn. Narren. Sie hatten ein Dutzend Aes Sedai vor sich, und doch wollten sie, trotz der mehr als vierzigtausend Algai'd'siswai, auf denen sie bestanden hatten, ihren Kundschafter-Vorposten und ihre Reservespeere bewahren, als müßten sie noch weiteren Aiel oder einem Feuchtländer-Heer gegenübertreten. »Ich spreche als Clanhäuptling der Shaido.« Sie müßte das eigentlich nicht erwähnen, aber andererseits konnte eine Erinnerung daran nicht schaden. »Sie sind nur eine Handvoll.« Sie wählte jetzt jedes Wort mit Verachtung. »Sie können überwältigt werden, wenn die Speere schnell genug sind. Ihr wart bei Sonnenaufgang noch bereit, Desaine zu rächen. Rieche ich jetzt Angst? Angst vor ein paar Feuchtländern? Haben die Shaido ihre Ehre verloren?«
Diese Worte ließen ihre Gesichter, wie beabsichtigt, versteinern. Sogar Efalins Augen wirkten wie polierte graue Edelsteine, als sie sich verschleierte. Sie gab in der Zeichensprache Anweisungen, und als die Anführer der Gemeinschaften die Anhöhe hinaufstürmten, folgten ihnen die Töchter des Speers um Sevanna. Das hatte sie nicht beabsichtigt, aber zumindest bewegten sich die Speerträger. Sie konnte sogar vom tiefsten Punkt der Senke aus erkennen, daß scheinbar kahler Boden Cadin'sorbekleidete Gestalten ausspie, die mit langen Schritten, die sogar Pferde überrunden konnten, südwärts eilten. Es galt, keine Zeit zu verschwenden. Mit dem Gedanken, später mit Efalin zu sprechen, wandte Sevanna sich den Weisen Frauen zu.
Aus denen erwählt, die die Eine Macht lenken konnten, kamen sechs oder sieben Weise Frauen der Shaido auf jede Aes Sedai um al'Thor, und doch sah Sevanna Zweifel, den sie hinter versteinerten Gesichtern zu verbergen suchten, aber er war dennoch da, an unruhigen Blicken und die Lippen benetzenden Zungen erkennbar. Heutzutage wurden viele Traditionen abgelegt, Traditionen, die so alt und stark waren wie das Gesetz. Weise Frauen nahmen nicht an Schlachten teil. Weise Frauen hielten sich weit von Aes Sedai fern. Sie kannten die uralten Geschichten, daß die Aiel ins Dreifaltige Land geschickt wurden, um die Pläne der Aes Sedai zu durchkreuzen, und daß sie vernichtet würden, wenn sie ihnen jemals wieder einen Plan verdarben. Sie hatten gehört, daß Rand al'Thor vor allen behauptet haben sollte, die Aiel hätten als Teil ihres Dienstes an den Aes Sedai geschworen, keine Gewalt anzuwenden.
Sevanna war einst sicher gewesen, daß jene Geschichten Lüge waren, aber in letzter Zeit glaubte sie, daß die Weisen Frauen sie als wahr erachteten. Natürlich hatte keine von ihnen ihr das gesagt. Es war nicht wichtig. Sie selbst hatte niemals die beiden Reisen nach Rhuidean unternommen, die erforderlich waren, um eine Weise Frau zu werden, aber die anderen hatten sie dennoch, wenn auch zum Teil widerwillig, akzeptiert. Jetzt hatten sie keine andere Wahl, als sie weiterhin zu akzeptieren. Nutzlose Traditionen würden neugestaltet werden.
»Aes Sedai«, sagte sie leise. Sie beugten sich mit gedämpft klingenden Armreifen und Halsketten zu ihr, um ihr Flüstern verstehen zu können. »Rand al'Thor, der Car'a'carn, ist in ihrer Gewalt. Wir müssen ihn befreien.« Einige runzelten die Stirn. Die meisten glaubten, sie wollte den Car'a'carn lebend gefangennehmen, um den Tod Couladins, ihres zweiten Ehemannes, zu rächen. Sie verstanden das, aber deshalb waren sie nicht hergekommen. »Aes Sedai«, zischte sie verärgert. »Wir haben unser Versprechen gehalten, aber sie haben ihres gebrochen. Wir haben nichts verletzt, sie aber alles. Ihr wißt, wie Desaine ermordet wurde.« Natürlich wußten sie es. Die sie beobachtenden Blicke gewannen jäh an Schärfe. Eine Weise Frau zu töten, kam dem Töten einer schwangeren Frau, eines Kindes oder eines Schmieds gleich. Einige blickten sehr streng drein - Theravas, Rhiales und andere. »Wenn wir diese Frauen ungeschoren davonkommen lassen, dann sind wir weniger als Tiere, dann haben wir keine Ehre. Ich aber halte an meiner Ehre fest.«
Mit diesen Worten raffte sie würdevoll ihre Rocke und erklomm mit hocherhobenem Kopf und ohne zurückzuschauen die Anhöhe. Sie war sich sicher, daß die anderen ihr folgen würden. Therava und Norlea und Dailin würden dafür sorgen, und auch Rhiale und Tion und Meira und die anderen, die sie vor einigen Tagen begleitet hatten, um zuzusehen wie Rand al'Thor von den Aes Sedai geschlagen und wieder in seine Holzkiste gesteckt wurde. Ihre Mahnung hatte noch mehr den dreizehn als den anderen gegolten, und sie wagten es nicht, sie zu enttäuschen. Desaines Tod schweißte sie zusammen.
Weise Frauen mit gerafften Röcken konnten nicht mit den Algai'd'siswai in ihren Cadin'sors mithalten, wie sehr sie es auch versuchten. Sie liefen fünf Meilen über jene wogenden Hügel - kein langer Weg -, erreichten einen Hügelkamm und sahen, daß der Tanz der Speere bereits begonnen hatte. In gewisser Weise.
Tausende von verschleierten Algai'd'siswai in Grau- und Brauntönen drängten sich um einen Kreis von Feuchtländer-Wagen. Dieser Wagenkreis umschloß eine der kleinen Baumgruppen, die in dieser Gegend hin und wieder zu finden waren. Sevanna atmete verärgert ein. Die Aes Sedai hatten sogar Zeit gehabt, alle ihre Pferde heranzubringen. Die Speerträger umzingelten die Wagen, bedrängten sie, ließen Pfeile auf sie herabregnen, aber die vorne befindlichen Soldaten schienen gegen eine unsichtbare Mauer zu stoßen. Zunächst gelangten die am höchsten fliegenden Pfeile über diese Mauer, aber dann trafen auch sie irgendwo ungesehen auf und prallten zurück. Leises Murmeln erhob sich unter den Weisen Frauen. »Erkennt Ihr, was die Aes Sedai tun?« fragte Sevanna, als könne sie die Gewebe der Einen Macht ebenfalls sehen. Sie schnaubte verächtlich. Die Aes Sedai mit ihren ruhmreichen Drei Eiden waren Narren. Wenn sie schließlich beschlössen, die Macht als Waffe zu benutzen, anstatt sie nur dazu zu verwenden, Barrieren aufzubauen, wäre es zu spät. Vorausgesetzt, die Weisen Frauen standen nicht zu lange da und schauten nur zu. Irgendwo in jenen Wagen befand sich Rand al'Thor, vielleicht noch immer geduckt in einer Kiste, darauf wartend, daß sie ihn befreite. Wenn die Aes Sedai ihn festzuhalten vermochten, dann konnte auch sie es, mit Hilfe der Weisen Frauen. Und mit Hilfe eines Versprechens. »Therava, führt Eure Hälfte jetzt westwärts. Haltet Euch zum Angriff bereit, wenn ich es tue. Für Desaine und das Toh, das die Aes Sedai uns schulden. Wir werden sie ihrem Toh begegnen lassen, wie niemand jemals zuvor seinem Toh begegnet ist.«
Es war töricht und anmaßend davon zu sprechen, daß jemand eine Verpflichtung erfüllen sollte, die er nicht anerkannt hatte, aber Sevanna hörte in dem zornigen Murmeln anderer Frauen weitere heftig geäußerte Versprechen, die Aes Sedai ihrem Toh begegnen zu lassen. Nur jene, die Desaine auf Sevannas Befehl hin getötet hatten, blieben stumm. Therava preßte kurz die schmalen Lippen zusammen, aber schließlich sagte sie: »Es wird Euren Befehlen gemäß geschehen, Sevanna.«
An einer leicht zugänglichen Anhöhe führte Sevanna ihre Hälfte der Weisen Frauen zur östlichen Seite des Kampfplatzes. Sie hatte auf dem Hügel bleiben wollen, von wo aus sie einen guten Überblick gehabt hätte -auf diese Weise führte ein Clanhäuptling oder ein Schlachtführer den Tanz der Speere -, aber in diesem einen Punkt fand sie bei Therava und den anderen, die das Geheimnis um Desaines Tod teilten, keine Unterstützung. Die Weisen Frauen bildeten einen scharfen Kontrast zu den Algai'd'siswai, als sie diese in ihren weißen Algodeblusen und den dunklen Tuchröcken und Stolas, mit den glitzernden Armreifen und Halsketten und ihrem von dunklen Kopftüchern zurückgebundenen, hüftlangen Haar aufmarschieren ließ. Trotz ihrer Entscheidung, daß sie, wenn sie an einem Tanz der Speere teilnehmen sollten, mitten hineingehen und nicht auf einem abseits stehenden Hügel warten würden, glaubte Sevanna nicht, daß sie bereits erkannten, daß der wahre Kampf heute ihre Aufgabe war. Nach dem heutigen Tag würde nichts bleiben, wie es war, und Rand al'Thor festzusetzen, war der geringste Teil ihrer Aufgabe.
Unter den Algai'd'siswai konnte man nur von der Höhe aus Männer von Töchtern des Speers unterscheiden. Schleier und Shoufas verbargen Köpfe und Gesichter, und Cadin'sors waren, abgesehen von den Unterschieden im Schnitt, die Clan, Septime und Gemeinschaft kennzeichneten, Cadin'sors. Jene am äußeren Rand der Einkreisung schienen verwirrt und murrten, während sie darauf warteten, daß etwas geschähe. Sie waren mit der Bereitschaft hierhergekommen, mit Aes Sedai-Blitzen zu tanzen, und jetzt bewegten sie sich ungeduldig im Kreis, zu weit hinten, um die Hornbogen einzusetzen, die noch immer in Lederfutteralen auf ihren Rücken hingen. Sie würden nicht mehr allzu lange warten müssen, wenn es nach Sevanna ging.
Die Hände auf den Hüften, wandte sie sich an die anderen Weisen Frauen. »Diejenigen, die südlich von mir stehen, werden unterbinden, was die Aes Sedai gerade tun. Diejenigen, die nördlich von mir stehen, werden angreifen. Vorwärts mit den Speeren!« Mit diesem Befehl wandte sie sich um und wollte die Vernichtung der Aes Sedai beobachten, die geglaubt hatten, sie müßten nur Stahl gegenübertreten.
Aber nichts geschah. Vor ihr brodelte erfolglos die Masse der Algai'd'siswai, und das lauteste Geräusch war das gelegentliche Trommeln der Speere auf Schilde. Sevanna nahm all ihren Zorn zusammen, spulte ihn wie einen Faden von einer Spindel ab. Sie war so sicher gewesen, daß sie, nachdem ihnen Desaines hingeschlachteter Leichnam gezeigt worden war, bereit wären, aber wenn es ihnen noch immer unvorstellbar war, Aes Sedai anzugreifen, würde sie sie in den Kampf jagen, wenn es sein mußte, um sie alle so sehr zu beschämen, bis sie verlangten, das Gai'shain-Weiß anlegen zu dürfen.
Plötzlich schoß eine Kugel reiner Flammen von der Größe des Kopfes eines Mannes im Bogen zischend auf die Wagen zu, dann eine weitere, Dutzende. Der Knoten in ihrer Magengrube löste sich. Weitere Feuerkugeln kamen von Westen, wo sich Therava und die anderen befanden. Rauch begann von den brennenden Wagen aufzusteigen, zunächst graue Rauchfäden, dann dichte schwarze Wolken. Das Murmeln der Algai'd'siswai änderte seine Tonlage, und obwohl sich die Frauen unmittelbar vor ihr kaum bewegt hatten, erkannten sie plötzlich, vorwärtsgehen zu müssen. Rufe hallten von den Wagen her - Männer, die vor Zorn schrien und vor Schmerz brüllten. Welche Barrieren auch immer die Aes Sedai errichtet hatten, sie waren niedergerissen. Es hatte begonnen, und nur ein Ende war möglich. Rand al'Thor würde ihr gehören. Er würde ihr die Aiel liefern, damit sie die Feuchtlande einnehmen konnte, und würde ihr, bevor er starb, die Töchter und Söhne geben, welche die Aiel nach ihr führen würden. Vielleicht würde es ihr sogar gefallen. Er sah in der Tat recht gut aus und war stark und jung.
Sie hatte nicht erwartet, daß die Aes Sedai leicht zu besiegen wären, und so war es auch, Feuerkugeln fielen zwischen Speere, verwandelten in den Cadin'sor gekleidete Gestalten in Fackeln, Blitze zuckten aus einem klaren Himmel und schleuderten Menschen und Erde in die Luft. Die Weisen Frauen lernten jedoch durch das, was sie sahen, oder vielleicht hatten sie es bereits gewußt und vorher nur gezögert. Die meisten lenkten die Macht so selten, besonders dort, wo es außer den Weisen Frauen niemand sehen konnte, daß nur eine andere Weise Frau erkannte, ob jemand von ihnen die Macht lenken konnte. Was auch immer der Grund dafür war - die Blitze fielen erst zwischen die Shaido-Speere, als weitere die Wagen anzugreifen begannen.
Nicht alle erreichten ihr Ziel. Feuerkugeln zischten durch die Luft, einige so groß wie Pferde, Silberblitze fuhren wie Himmelsspeere in den Boden und schossen manchmal seitwärts, als wären sie auf einen unsichtbaren Schild getroffen, explodierten mitten im Flug oder verschwanden einfach völlig. Donnern und Krachen erfüllte die Luft und kämpfte gegen Rufe und Schreie an. Sevanna betrachtete verzückt den Himmel. Es erinnerte an die Schaustellungen der Feuerwerker, über die sie gelesen hatte.
Plötzlich wurde die Welt in ihren Augen weiß. Sie schien zu schweben. Als sie wieder sehen konnte, lag sie ein Dutzend Schritte von ihrem vorherigen Standplatz entfernt flach auf dem Boden, alle Muskeln schmerzten, sie rang nach Atem und war von Schmutz bespritzt. Das Haar stand ihr zu Berge. Andere Weise Frauen lagen ebenfalls am Boden, rund um ein gezacktes Loch im Boden von einem Spann Durchmesser. Dünne Rauchfäden stiegen von den Gewändern einiger der Frauen auf. Nicht alle lagen am Boden - die Himmelsschlacht aus Feuer und Blitzen wurde fortgeführt -, aber zu viele. Sie mußte sie wieder in den Kampf schicken.
Sie zwang sich zu atmen und rappelte sich hoch, ohne sich die Mühe zu machen, sich abzuklopfen. »Schwingt die Speere!« rief sie. Sie ergriff Estalaines kantige Schultern und wollte die Frau hochziehen, erkannte dann aber an ihren starren blauen Augen, daß sie tot war, und ließ sie zurücksinken. Statt dessen zog sie eine benommene Dorailla hoch, entriß einer gefallenen Donnergängerin den Speer und schwang ihn hoch in die Luft. »Vorwärts mit den Speeren!« Einige der Weisen Frauen schienen dies wörtlich zu nehmen und tauchten in die Menge der Algai'd'siswai ein. Andere behielten einen kühleren Kopf und halfen jenen, die aufstehen konnten. Der Feuer- und Blitzsturm ging weiter, während Sevanna entlang der Reihen der Weisen Frauen wütete, ihren Speer schwenkte und schrie: »Schwingt die Speere! Vorwärts mit den Speeren!«
Sie verspürte den Drang zu lachen. Sie lachte. Schmutzbespritzt und mitten im Kampfgeschehen, war sie noch niemals zuvor in ihrem Leben so erheitert gewesen. Sie wünschte fast, sie hätte sich entschieden, eine Tochter des Speers zu werden. Fast. Eine Far
Dareis Mai konnte genausowenig ein Clanhäuptling werden, wie ein Mann eine Weise Frau werden konnte. Der Weg einer Tochter des Speers zur Macht bedingte, daß sie den Speer aufgab und eine Weise Frau wurde. Als Frau eines Clanhäuptlings hatte sie die Macht aber schon in einem Alter geführt, in dem einer Tochter des Speers kaum zugetraut wurde, einen Speer zu tragen, oder einem Lehrling zur Weisen Frau zugetraut wurde, Wasser zu holen. Und jetzt hatte sie alles - als Weise Frau und Clanhäuptling -, obwohl noch einiges zu tun war, um diesen letzteren Titel wahrhaftig führen zu können. Titel waren unwichtig, solange sie die Macht hatte, aber warum sollte sie nicht beides bekommen?
Ein plötzlicher Schrei ließ sie sich umwenden, und sie betrachtete fassungslos den zottigen grauen Wolf, der Dosera die Kehle herausriß. Ohne nachzudenken, stieß sie ihm den Speer in die Seite. Noch während er sich umdrehte, um nach dem Speerschaft zu schnappen, sprang ein weiterer, ihr bis zur Hüfte reichender Wolf an ihr vorbei und warf sich auf den Rücken eines der Algai'd'siswai, dann ein weiterer Wolf und immer mehr, die an in den Cadin'sor gekleideten Gestalten zerrten, wo auch immer sie hinschaute.
Eine abergläubische Furcht durchfuhr sie, während sie ihren Speer wieder herauszog. Die Aes Sedai hatten die Wölfe herbeigerufen, um für sie zu kämpfen. Sie konnte den Blick nicht von dem von ihr getöteten Wolf abwenden. Die Aes Sedai hatten... Nein. Nein! Das durfte nichts ändern. Sie würde es nicht zulassen.
Schließlich gelang es ihr, den Blick loszureißen, aber bevor sie die Weisen Frauen erneut anfeuern konnte, ließ etwas anderes sie verstummen. Ein Gewirr von Feuchtländer-Reitern mit roten Helmen und Brustharnischen schlugen mit Schwertern heftig um sich und stießen mitten zwischen den Algai'd'siswai mit langen Speeren zu. Wo waren sie hergekommen?
Sie hatte nicht erkannt, daß sie laut gesprochen hatte, bis Rhiale ihr antwortete. »Ich habe versucht, es Euch zu sagen, Sevanna, aber Ihr wolltet nicht zuhören.« Die rothaarige Frau beäugte angewidert ihren blutbeschmierten Speer. Weise Frauen sollten eigentlich keine Speere tragen. Sie legte die Waffe prahlerisch in die Armbeuge, so wie sie es Häuptlinge hatte tun sehen, während Rhiale fortfuhr. »Feuchtländer haben von Süden angegriffen. Feuchtländer und Siswai'aman.« Sie sprach das Wort mit aller für jene angemessenen Verachtung aus, die sich Speere des Drachen nannten. »Und auch Töchter des Speers. Und ... und da sind Weise Frauen.«
»Die kämpfen?« fragte Sevanna ungläubig, bevor sie erkannte, wie es klang. Wenn sie einen veralteten Brauch ablegen konnte, dann waren sicherlich auch diese sonnenblinden Narren im Süden, die sich noch immer Aiel nannten, dazu in der Lage. Sie hatte es jedoch nicht erwartet. Zweifellos hatte Sorilea sie hierhergebracht. Diese alte Frau erinnerte Sevanna an einen Bergrutsch, der alles vor sich herschob. »Wir müssen sie sofort angreifen. Sie werden Rand al'Thor nicht bekommen. Oder unsere Rache für Desaine vereiteln«, fügte sie hinzu, als sich Rhiales Augen weiteten.
»Sie sind Weise Frauen«, wandte die andere Frau tonlos ein, und Sevanna verstand verbittert. Es war schlimm genug, sich am Tanz der Speere beteiligen zu müssen, aber daß Weise Frauen ihresgleichen angreifen sollten, war mehr, als sogar Rhiale zulassen würde. Sie hatte zugestimmt, daß Desaine sterben mußte -wie sonst konnten die Weisen Frauen, ganz zu schweigen von den Algai'd'siswai, dazu gebracht werden, die Aes Sedai anzugreifen, was sie tun mußten, um Rand al'Thor und mit ihm alle Aiel in die Hände zu bekommen -, und doch war es heimlich getan worden, von gleichgesinnten Frauen umgeben. Dies würde aber vor aller Augen geschehen müssen. Narren und Feiglinge, sie alle!
»Dann bekämpft die Feinde, die zu bekämpfen Ihr Euch durchringen könnt, Rhiale.« Sie brachte jedes einzelne Wort so verächtlich wie möglich hervor, aber Rhiale nickte nur, richtete mit einem weiteren Blick auf den Speer in Sevannas Armbeuge ihre Stola und kehrte zu ihrem Platz in der Reihe zurück.
Vielleicht bestand die Möglichkeit, die anderen Weisen Frauen zum ersten Zug zu bewegen. Es wäre besser, überraschend anzugreifen, aber andererseits war alles besser, als sich Rand al'Thor von ihnen unmittelbar aus den Händen reißen zu lassen. Was sie einer Frau, welche die Macht lenken konnte und Befehle ohne Zögern ausführen würde, nicht zugestand. Was würde sie nicht darum geben, sich jetzt auf einem Hügelkamm zu befinden, von wo aus sie sehen könnte, wie der Kampf stand.
Sie hielt ihren Speer bereit, beobachtete aufmerksam die Wölfe - diejenigen, die sie sehen konnte, töteten entweder Männer und Frauen im Cadin'sor oder waren selbst bereits tot - und rief wieder ermutigende Worte. Südwärts fielen mehr Feuer und Blitze zwischen die Shaido als zuvor, aber es machte keinen für sie erkennbaren Unterschied. Der Kampf mit seinen Flammen- und Erd- und Menschenexplosionen wurde unvermindert fortgeführt.
»Stoßt mit den Speeren zu!« rief sie und schwenkte auch ihren Speer. »Stoßt mit den Speeren zu!« Sie konnte unter den aufgewühlten Algai'd'siswai keine der Narren ausmachen, die ein Stück roten Stoff um ihre Stirn gebunden und sich Siswai'aman genannt hatten. Vielleicht waren sie zu wenige, um den Verlauf der Ereignisse zu verändern. Die Feuchtländer schienen in der Tat nicht allzu zahlreich zu sein. Noch während sie zusah, wurden einige von Menschen und Pferden und zustechenden Speeren überrannt. »Stoßt mit den Speeren zu! Stoßt mit den Speeren zu!« Jubel erfüllte ihre Stimme. Auch wenn die Aes Sedai zehntausend Wölfe herbeiriefen und wenn Sorilea tausend Weise Frauen und einhunderttausend Speere herangebracht hatte, würden die Shaido dennoch siegreich aus diesem Kampf hervorgehen. Die Shaido, und sie selbst. Der Name Sevanna von den Jumai Shaido würde für immer im Gedächtnis bleiben.
Plötzlich erklang mitten im Kampflärm hohles Donnern.
Es schien aus der Richtung der Wagen der Aes Sedai zu kommen, aber Sevanna konnte nicht erkennen, ob sie oder die Weisen Frauen es verursacht hatten. Sie haßte Dinge, die sie nicht verstand, und doch würde sie Rhiale oder die anderen nicht danach fragen und ihr Unwissen zur Schau stellen. Und auch nicht zeigen, daß ihr die Fähigkeit fehlte, die alle anderen außer ihr hier besaßen. Unter ihnen zählte es nicht, aber sie haßte es auch, wenn andere Macht hatten, die sie nicht besaß.
Aus den Augenwinkeln nahm sie ein Lichtflackern unter den Algai'd'siswai wahr, das Gefühl, daß sich etwas drehte, aber als sie sich umwandte, um hinzusehen, war da nichts. Dasselbe geschah erneut, ein Lichtblitz am Rande ihres Sichtfeldes, und erneut war nichts zu sehen, als sie sich umwandte. Sie verstand zu viele Dinge nicht.
Sie beäugte die Linie der Weisen Frauen der Shaido, während sie ihnen ermutigende Worte zurief. Einige schienen durchnäßt. Sie hatten ihre Kopftücher verloren, und ihr langes Haar hing frei herab. Röcke und Blusen waren schmutzbespritzt oder sogar versengt. Mindestens ein Dutzend lagen ausgestreckt nebeneinander und stöhnten, und sieben weitere waren still, die Stolen über die Gesichter gezogen. Sevanna interessierten nur jene, die noch standen. Rhiale und Alarys mit ihrem wirren und so seltenen schwarzen Haar. Someryn, die es sich angewöhnt hatte, ihre Bluse aufgeschnürt zu tragen, um einen noch großzügigeren Einblick zu gewähren als Sevanna selbst. Und Meira, mit ihrem länglichen, noch grimmiger als sonst wirkenden Gesicht. Die kräftige Tion, die magere Belinde und Modarra, die so groß wie die meisten Männer war.
Eine von ihnen hätte es ihr sagen sollen, wenn sie etwas Neues unternahmen. Das Geheimnis um Desaine band sie aneinander. Die Enthüllung dessen würde selbst für eine Weise Frau ein Leben voller Qual - und was noch schlimmer war, voller Scham - bedeuten, wenn sie dann versuchen müßte, ihrem Toh zu begegnen, sofern sie nicht einfach nackt in die Wildnis gejagt wurde, um entweder zu leben oder zu sterben, und wahrscheinlich von jedermann, der sie fand, wie ein Tier getötet wurde. Sevanna zweifelte dennoch nicht daran, daß es ihnen genauso viel Vergnügen wie allen anderen bereitete, die Dinge vor ihr geheimzuhalten, die Weise Frauen während ihrer Ausbildung und bei den Reisen nach Rhuidean lernten. Dagegen mußte etwas getan werden, aber erst später. Sie würde keine Schwäche zeigen, indem sie fragte, was sie jetzt taten.
Sie wandte sich wieder dem Kampf zu und stellte fest, daß sich das Gleichgewicht verlagert hatte -anscheinend zu ihren Gunsten. Im Süden sanken die Feuerkugeln und Lichtblitze unverändert schwer herab, aber nicht mehr vor ihr und anscheinend auch nicht mehr im Westen und Norden. Was auf die Wagen niedergehen sollte, traf nur selten, und doch ließen die Bemühungen der Aes Sedai entschieden nach. Sie waren in die Defensive gedrängt worden. Sie siegte tatsächlich!
Noch während dieser Gedanke sie heiß durchströmte, wurden die Aes Sedai still. Nur im Süden fielen noch Feuer und Blitze zwischen die Algai'd'siswai. Sevanna Öffnete den Mund zu einem Siegesruf, als sie eine weitere Erkenntnis verstummen ließ. Feuer und Blitze brachen über die Wagen herein, brachen herein und krachten gegen irgendein unsichtbares Hindernis. Der Rauch der brennenden Wagen begann im Aufwärtsstreben die Umrisse einer Kuppel abzuzeichnen und entwich schließlich aus einer Öffnung oben in der unsichtbaren Umhüllung.
Sevanna wirbelte zu der Reihe der Weisen Frauen herum, und ihr Gesichtsausdruck bewirkte, daß mehrere der Frauen vor ihr und vielleicht auch vor dem Speer in ihrer Hand zurückwichen. Sie wußte, daß sie bereit wirkte, ihn zu benutzen. Und sie war tatsächlich dazu bereit. »Warum habt Ihr das zugelassen?« wütete sie. »Warum? Ihr solltet verhindern, was immer sie vorhatten, und sie nicht weitere Mauern errichten lassen.«
Tion wirkte, als wollte sie ihren Magen entleeren, aber sie stemmte die Fäuste in ihre breiten Hüften und sah Sevanna direkt an. »Das waren nicht die Aes Sedai.«
»Nicht die Aes Sedai?« spie Sevanna aus. »Wer dann? Die anderen Weisen Frauen? Ich sagte Euch, daß wir sie angreifen sollten!«
»Es waren keine Frauen«, erklärte Rhiale mit schwankender Stimme. »Es waren keine...« Sie schluckte mit bleichem Gesicht.
Sevanna wandte sich langsam zu der Kuppel um und dachte erst dann wieder daran, daß sie atmen mußte. Etwas war durch die Öffnung, durch die der Rauch entwich, aufgestiegen. Eines der FeuchtländerBanner. Der Rauch konnte es nicht vollständig verbergen. Karmesinrot, mit einer halb weißen und halb schwarzen Scheibe, die Farben durch eine gewundene Linie voneinander getrennt, genau wie bei den Stoffstreifen, die die Siswai'aman trugen. Rand al'Thors Banner. War er womöglich stark genug, um freigekommen zu sein, alle Aes Sedai überwältigt und dieses Banner gehißt zu haben? So mußte es sein.
Der Sturm brandete noch immer gegen die Kuppel an, aber Sevanna hörte hinter sich ein Murmeln. Die anderen Frauen dachten an Rückzug. Sie nicht. Sie hatte schon immer gewußt, daß man Macht am leichtesten erlangen konnte, indem man Menschen besiegte, die diese Macht bereits besaßen. Und sie war schon als Kind sicher gewesen, daß sie mit den Waffen geboren wurde, dies zu tun. Suladric, Clanhäuptling der Shaido, fiel ihr mit sechzehn zum Opfer, und als er starb, erwählte sie jene, die ihm höchstwahrscheinlich folgen würden. Muradin und Couladin glaubten jeder, er allein habe ihre Aufmerksamkeit erweckt, und als Muradin, wie so viele Männer, nicht aus Rhuidean zurückkehrte, konnte sie Couladin mit einem Lächeln davon überzeugen, daß er sie überwältigt hatte. Aber die Macht eines Clanhäuptlings verblaßte neben derjenigen des Car'a'carn, und selbst sie war nichts angesichts dessen, was sie jetzt vor sich sah. Sie zitterte, als hätte sie gerade in einem Schwitzzelt den unvorstellbar wundervollsten Mann gesehen. Wenn Rand al'Thor ihr gehörte, würde sie die ganze Welt erobern.
»Bedrängt sie stärker«, befahl sie. »Stärker! Wir werden diese Aes Sedai für Desaine demütigen!« Und sie bekäme Rand al'Thor.
Plötzlich erklang ein Brüllen von der Kampffront. Männer riefen und schrien. Sevanna fluchte, weil sie nicht sehen konnte, was geschah. Sie rief den Weisen Frauen erneut zu, unvermindert voranzudrängen, aber wenn überhaupt eine Reaktion erkennbar war, schien es eher, als würde der Flammen- und Blitzregen gegen die Kuppel nachlassen. Und dann konnte sie etwas sehen.
In der Nähe der Wagen explodierten in den Cadin 'sor gekleidete Gestalten und Erde mit donnerndem Krachen in der Luft, nicht nur an einer Stelle, sondern in einer langen Reihe. Der Boden explodierte immer wieder, jedes Mal ein wenig weiter von den eingekreisten Wagen entfernt. Es war keine Linie, sondern ein fester Ring explodierender Erde und Männer und Töchter des Speers, der zweifellos ganz um die Wagen herumführte. Immer und immer wieder, sich ständig erweiternd, und plötzlich drängten Algai'd'siswai an ihr vorbei, kämpften sich durch die Reihe der Weisen Frauen und liefen davon.
Sevanna schlug mit ihrem Speer auf sie ein, drosch auf Köpfe und Schultern und kümmerte sich nicht darum, wenn sie die Speerspitze befleckter zurückzog, als sie schon zuvor gewesen war. »Bleibt und kämpft! Bleibt, für die Ehre der Shaido!« Sie liefen an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. »Habt Ihr denn keine Ehre? Bleibt und kämpft!« Sie stach einer fliehenden Tochter des Speers in den Rücken, aber die anderen trampelten einfach über die gefallene Frau hinweg. Sevanna erkannte jäh, daß einige der Weisen Frauen fort waren, und sah, daß andere Verletzte aufhoben. Rhiale wandte sich zur Flucht, aber Sevanna ergriff den Arm der größeren Frau und bedrohte sie mit dem Speer. Es kümmerte sie nicht, daß Rhiale die Macht lenken konnte. »Wir müssen bleiben! Wir können ihn noch immer bekommen!«
Das Gesicht der anderen Frau war eine angstvolle Maske. »Wenn wir bleiben, sterben wir! Oder wir enden angekettet vor Rand al'Thors Zelt! Bleibt und sterbt, wenn Ihr wollt, Sevanna. Ich bin kein Steinsoldat!« Damit riß sie ihren Arm los und eilte ostwärts.
Sevanna blieb noch einen Moment stehen, von Männern und Töchtern des Speers hierhin und dorthin geschoben, die sich voller Entsetzen vorbeidrängten. Dann warf sie den Speer fort und tastete nach ihrer Gürteltasche, in der ein kleiner Würfel mit komplizierten Schnitzereien lag. Gut, daß sie gezögert hatte, ihn fortzuwerfen - sie besaß noch eine Sehne für ihren Bogen. Sie raffte ihre Röcke und schloß sich der hastigen Flucht an, aber während alle anderen vor Entsetzen flohen, lief sie mit einem Kopf voller Pläne davon. Sie würde Rand al'Thor auf Knien vor sich sehen, und die Aes Sedai ebenfalls.
Schließlich verließ Alviarin Elaidas Räume, äußerlich so kühl und gelassen wie immer, aber innerlich fühlte sie sich ausgelaugt. Es gelang ihr, steten Schrittes die lange, gewundene Treppe hinabzugehen, die gänzlich aus Marmor bestand. Livrierte Diener verbeugten sich oder vollführten den Hofknicks, während sie zu ihren Aufgaben eilten, denn sie sahen in ihrer Aes-Sedai-Ruhe nur die Behüterin der Chronik. Während sie weiter hinabging, begegnete sie zunehmend mehr Schwestern, von denen einige die Stolen in den Farben ihrer Ajahs trugen, als wollten sie durch Förmlichkeit unterstreichen, daß sie tatsächlich vollwertige Schwestern waren. Sie beäugten sie recht unbehaglich, während sie vorüberging. Die einzige, die sie nicht beachtete, war Danelle, eine verträumte Braune Schwester. Sie hatte geholfen, Siuan Sanche zu stürzen und Elaida zu erheben, aber als gedankenverlorene Einzelgängerin, die nicht einmal in ihrer eigenen Ajah Freunde besaß, schien sie nicht zu bemerken, daß sie anschließend beiseite geschoben worden war. Andere waren sich dessen nur zu bewußt. Berisha, eine hagere, hartäugige Graue, und Kera mit dem hellen Haar und den dunklen Augen, die bei Tairenern selten waren, und all der Überheblichkeit, die bei Grünen wiederum so häufig war, vollführten zumindest Hofknickse. Norine hätte es ihr beinahe gleichgetan. Mit ihren großen Augen manchmal fast so verträumt wie Danelle und genauso einsam, ärgerte sie sich über Alviarin. Wenn die Behüterin der Chronik schon aus den Reihen der Weißen erhoben wurde, hätte es ihrer Meinung nach Norine Dovarna sein sollen.
Gegenüber der Behüterin der Chronik war Höflichkeit nicht erforderlich, nicht von einer Schwester, aber sie hofften zweifellos, daß sie vielleicht bei Elaida Fürsprache einlegte, wenn es notwendig würde. Die anderen fragten sich einfach nur, welche Befehle sie erhalten hatte, ob heute eine andere Schwester wegen irgendeiner - in den Augen der Amyrlin begangenen - Verfehlung ausgesondert würde. Nicht einmal Rote näherten sich den neuen Räumen der Amyrlin weiter als bis auf fünf Stockwerke, es sei denn, sie wurden zu ihr gerufen. Mehr als eine Schwester verbarg sich regelrecht, wenn Elaida herabkam. Die Luft schien wahrhaft erhitzt und von einer Furcht durchsetzt, die nichts mit Aufrührern oder Machthabern zu tun hatte.
Mehrere Schwestern wollten etwas sagen, aber Alviarin rauschte vorüber, wenig höflich und kaum die Sorge bemerkend, die in ihre Augen trat, wenn sie nicht innehalten wollte. Elaida beschäftigte sie genausosehr wie die anderen. Elaida war eine vielschichtige Frau. Auf den ersten Blick sah man nur eine wunderschöne, würdevoll zurückhaltende Frau, aber auf den zweiten Blick erkannte man einen Menschen aus Stahl, gefährlich wie eine gezogene Klinge. Sie überwältigte, wo andere überzeugten, und erzwang, wo andere es mit Diplomatie oder durch das Spiel der Häuser versuchten. Jedermann, der sie kannte, wußte um ihre Intelligenz, aber man bemerkte erst nach einiger Zeit, daß sie trotz ihres Verstandes nur sah, was sie sehen wollte, und wahrzumachen versuchte, was sie wahrhaben wollte. Es gab an ihr zwei unzweifelhaft beängstigende Dinge, von denen der Umstand, daß sie so oft Erfolg hatte, das geringere war. Weitaus beängstigender war ihr Talent des Weissagens.
Man konnte es leicht vergessen, da es unberechenbar war und nur selten auftrat. Niemand wußte, wann es soweit sein würde, nicht einmal Elaida selbst, und niemand wußte, was sie enthüllen würde. Jetzt konnte Alviarin die vage Gegenwart der Amyrlin ihr fast folgen und sie beobachten spüren.
Es könnte noch notwendig werden, sie zu töten. Wenn es dazu käme, wäre Elaida nicht die erste, die sie heimlich getötet hätte. Dennoch zögerte sie, diesen Schritt ohne Befehl oder zumindest eine Erlaubnis zu tun.
Sie betrat spürbar erleichtert ihre privaten Räume, als könnte Elaidas Schatten diese Schwelle nicht überschreiten. Ein törichter Gedanke. Wenn Elaida die Wahrheit vermutete, würden sie nicht einmal eintausend Meilen von Alviarins Kehle fernhalten. Elaida würde von ihr erwarten, daß sie hart arbeitete und die Befehle unter der Signatur und dem Siegel der Amyrlin persönlich niederschrieb -, aber welche dieser Befehle tatsächlich ausgeführt würden, mußte noch entschieden werden. Natürlich nicht von Elaida. Und auch nicht von Alviarin.
Ihre Räume waren kleiner als Elaidas, obwohl die Decken höher waren und ein Balkon in hundert Fuß Höhe Ausblick über den großen Platz vor der Burg bot. Manchmal betrat sie diesen Balkon, um Tar Valon vor ihr ausgebreitet zu sehen, die größte Stadt der Welt, erfüllt von zahllosen Tausenden, die weniger zählten als Spielsteine auf einem Spielbrett. Ihre Räume waren mit Domani-Möbeln ausgestattet, hell gestreiftes Holz mit Muschelschalen- und Bernstein-Einlegearbeiten, helle Teppiche mit Blumen- und Schneckenmustern und grasendem Wild. Die Einrichtung hatte der letzten Bewohnerin dieser Räume gehört, und wenn sie sie noch aus einem anderen Grund behalten hatte als dem, daß sie keine Zeit mit der Auswahl neuer Möbel verschwenden wollte, dann um sich an den Preis für Versagen zu erinnern. Leane Sharif hatte oberflächlich geplant und war gescheitert, und jetzt war sie für immer von der Einen Macht abgeschnitten, ein hilfloser Flüchtling, der auf Wohltätigkeit angewiesen war, zu einem Leben im Elend verdammt, bis sie es entweder selbst beendete oder einfach das Gesicht zur Wand drehte und starb. Alviarin hatte von einigen wenigen gedämpften Frauen gehört, die überlebt hatten, aber sie würde diese Geschichten anzweifeln, bis sie einer der Frauen begegnete. Nicht daß es sie auch nur im geringsten danach verlangte.
Durch die Fenster konnte sie die Helligkeit des frühen Nachmittags erkennen, aber noch bevor sie halbwegs in ihr Wohnzimmer gelangt war, verblaßte das Licht plötzlich zu trüber Abenddämmerung. Die Dunkelheit überraschte sie nicht. Sie wandte sich um und ließ sich sofort auf die Knie nieder. »Große Herrin, ich lebe, um zu dienen.« Eine große Frau aus dunklen Schatten und silbernem Licht stand vor ihr. Mesaana.
»Sage mir, was geschehen ist, Kind.« Die Stimme klang wie Kristallglocken.
Alviarin wiederholte kniend jedes Wort Elaidas, obwohl sie sich fragte, wieso das nötig war. Zu Anfang hatte sie unbedeutende Teile ausgelassen, und Mesaana hatte es jedes Mal erkannt und jedes Wort, jede Geste und jeden Gesichtsausdruck gefordert. Sie belauschte jene Treffen offensichtlich. Alviarin hatte versucht, eine Logik darin zu erkennen, aber es war ihr nicht gelungen. Andere Dinge waren jedoch durchaus logisch.
Sie hatte andere der Auserwählten getroffen, die Narren die Verlorenen nannten. Lanfear und Graendal waren in die Burg gekommen, die in ihrer Kraft und ihrem Wissen gebieterisch wirkten und ohne Worte verdeutlicht hatten, daß Alviarin weit unter ihnen stand, eine Küchenmagd, die Botengänge erledigte und sich vor Freude wand, wenn ein freundliches Wort an sie gerichtet wurde. Be'lal hatte Alviarin in der Nacht im Schlaf fortgezerrt - sie wußte noch immer nicht wohin. Sie war wieder in ihrem eigenen Bett erwacht, und das hatte sie noch mehr erschreckt, als sich in Gegenwart eines Mannes zu befinden, der die Macht lenken konnte. Für ihn war sie nicht einmal ein Wurm, nicht einmal ein Lebewesen, nur ein Spielstein, der sich auf seinen Befehl hin bewegte. Ishamael hatte sie zuerst, Jahre vor den anderen, aus der verborgenen Masse der Schwarzen Ajah auserwählt, um sie an deren Spitze zu setzen.
Sie hatte vor jeder Schwarzen Ajah niedergekniet und beteuert, daß sie lebe, um zu dienen, und es auch so meine, und ihren Befehlen gehorchen würde, wie auch immer diese Befehle lauteten. Immerhin waren sie nur eine Stufe niedriger gestellt als der Große Herr der Dunkelheit selbst, und wenn sie eine Belohnung für ihre Dienste erwartete - die Unsterblichkeit, die sie anscheinend bereits besaßen -, tat sie gut daran zu gehorchen. Sie hatte vor jeder Schwarzen Ajah niedergekniet, und nur Mesaana war mit einem nicht menschlichen Gesicht erschienen. Dieser Umhang aus Schatten und Licht mußte mit der Einen Macht gewoben sein, aber Alviarin konnte kein Gewebe erkennen. Sie hatte die Kraft Lanfears und Graendals gespürt, hatte vom ersten Moment an gewußt, wieviel stärker sie die Macht beherrschten als sie selbst, aber bei Mesaana spürte sie ... nichts. Als könnte die Frau die Macht überhaupt nicht lenken.
Die Logik war eindeutig - und verblüffend. Mesaana verbarg sich, weil sie erkannt werden könnte. Sie mußte in der Burg selbst wohnen. Diese Folgerung schien angesichts des Offensichtlichen unmöglich, aber eine andere Erklärung wäre nicht schlüssig. Wenn dem so war, mußte sie eine der Schwestern sein. Sie war sicherlich keine Dienerin, nicht Arbeit und Schweiß verpflichtet. Aber wer dann? Zu viele Frauen waren vor Elaidas Ruf von der Burg fortgewesen, zu viele hatten keine engen oder gar keine Freunde, Mesaana mußte eine jener Frauen sein. Alviarin wollte es unbedingt wissen. Selbst wenn sie es nicht nutzen konnte, war Wissen dennoch Macht.
»Also hat unsere Elaida eine Weissagung gemacht«, sagte Mesaana in singendem Tonfall, und Alviarin erkannte erschreckt, daß sie am Ende ihres Berichts angelangt war. Ihre Knie schmerzten, aber sie wußte es besser, als daß sie ohne Erlaubnis aufgestanden wäre. Ein Schattenfinger tippte nachdenklich an silberne Lippen. Hatte sie schon irgendeine der Schwestern diese Geste vollführen sehen? »Es scheint mir seltsam, daß sie gleichzeitig so klar und doch so unstet sein sollte. Das Vorhersagen war stets ein seltenes Talent, und die meisten, die es besaßen, formulierten ihre Weissagungen auf eine Art, die nur Dichter verstehen konnten - üblicherweise bis es zu spät war, als daß es noch wichtig gewesen wäre. Erst dann wurde stets alles verständlich.« Alviarin schwieg weiterhin. Keine der Auserwählten unterhielt sich - sie befahlen oder forderten nur. »Bemerkenswerte Prophezeiungen. Die Aufrührer zu zerbrechen - wie verfaulte Melonen -, gehörte das dazu?« »Ich bin nicht sicher, Große Herrin«, sagte Alviarin zögernd - war es Teil davon gewesen? -, aber Mesaana zuckte nur die Achseln.
»Entweder ja oder nein, und beides kann genutzt werden.«
»Sie ist gefährlich, Große Herrin. Ihr Talent könnte offenbaren, was nicht offenbart werden sollte.«
Kristallenes Lachen antwortete ihr. »Wie zum Beispiel? Dich? Deine Schwestern von den Schwarzen Ajah? Oder willst du mich vielleicht schützen? Du bist manchmal ein gutes Mädchen.« Die silberhelle Stimme klang belustigt. Alviarin spürte, wie sie errötete, und hoffte, daß Mesaana es als Scham, nicht als Verärgerung auslegte. »Willst du damit anregen, daß wir uns unserer Elaida entledigen sollten? Noch nicht, denke ich. Sie kann noch von Nutzen sein. Zumindest bis der junge al'Thor uns erreicht, und sehr wahrscheinlich auch noch danach. Schreibe ihre Befehle auf und sorge für deren Ausführung. Es ist sicherlich amüsant, sie beim Spielen ihrer kleinen Spiele zu beobachten. Ihr Kinder paßt manchmal richtig zur Ajah. Wird es ihr gelingen, den König von Illian und die Königin von Saldaea zu entführen? Ihr Aes Sedai pflegtet das zu tun, nicht wahr, aber nicht mehr seit - wann? - zweitausend Jahren? Wen wird sie auf den Thron in Cairhien bringen? Wird das Angebot, König in Tear zu werden, die Abneigung des hohen Herrn Dariin gegen die Aes Sedai bezwingen? Wird unsere Elaida vorher an ihrer eigenen Enttäuschung ersticken? Schade, daß sie sich dem Gedanken an ein größeres Heer widersetzt. Ich hätte gedacht, daß sie sich bei ihrem Ehrgeiz begeistert darauf stürzen würde.«
Die Unterredung ging dem Ende entgegen. Diese Gespräche dauerten niemals länger als Alviarin brauchte, um Bericht zu erstatten und ihre Befehle entgegenzunehmen, aber sie mußte noch eine Frage stellen. »Die Schwarze Burg, Große Herrin...« Alviarin benetzte ihre Lippen. Sie hatte viel gelernt, seit ihr Ishamael erschienen war, wovon nicht das Unwichtigste war, daß die Auserwählten weder allmächtig noch allwissend waren. Sie war aufgestiegen, weil Ishamael ihre Vorgängerin aus Zorn über seine Entdeckung, was Jarna Malari begonnen hatte, getötet hatte. Aber es hatte erst zwei Jahre später geendet, nach dem Tod einer weiteren Amyrlin. Alviarin hatte sich oft gefragt, ob Elaida mit deren - Sierin Vayus - Tod zu tun gehabt hatte. Für die Schwarze Ajah galt das sicherlich nicht. Jarna hatte Tamra Ospenya, die Amyrlin vor Sierin, wie eine Traube auspressen lassen - wodurch sie nur wenig Saft erhalten hatte, wie sich herausstellte - und dann den Eindruck entstehen lassen, sie sei im Schlaf gestorben, aber Alviarin und die anderen zwölf Schwestern des Großen Konzils hatten viele Qualen auf sich nehmen müssen, bevor sie Ishamael davon überzeugen konnten, daß sie nicht dafür verantwortlich waren. Die Auserwählten waren nicht allmächtig und wußten nicht alles, und doch wußten sie manchmal etwas, was andere nicht einmal ahnten. Es konnte jedoch gefährlich sein, Fragen zu stellen. ›Warum‹ war die gefährlichste Frage. Die Auserwählten mochten niemals nach dem Warum gefragt werden. »Ist es ausreichend, fünfzig Schwestern auszuschicken, Große Herrin?«
Augen, die wie Zwillingsvollmonde leuchteten, betrachteten sie ruhig, und ein Frösteln lief Alviarins Rückgrat hinauf. Jarnas Schicksal kam ihr blitzartig in den Sinn. Allgemein als Graue bekannt, hatte Jarna niemals ein Interesse an dem Ter'angreal gezeigt, für das niemand einen Verwendungszweck wußte - bis zu dem Tag, an dem sie in einem seit Jahrhunderten unerprobten Ter'angreal gefangen wurde. Wie er gebraucht wurde, blieb noch immer ein Geheimnis. Zehn Tage lang konnte niemand sie erreichen, sondern nur ihren erstickten Schreien lauschen. Die meisten Bewohner der Burg hielten Jarna für ein Musterbeispiel an Tugend. Als das, was hätte entdeckt werden können, begraben wurde, nahmen alle Schwestern in Tar Valon und jedermann, der die Stadt rechtzeitig erreichen konnte, an der Beerdigung teil.
»Du bist neugierig, Kind«, sagte Mesaana schließlich. »Das kann, wenn es in die richtige Bahn gelenkt wird, ein Vorteil sein. Wird es allerdings in die falsche Bahn gelenkt...« Die Drohung hing wie ein schimmernder Dolch in der Luft.
»Ich werde meine Neugier in die von Euch befohlene Bahn lenken, Große Herrin«, flüsterte Alviarin rauh. Ihr Mund war staubtrocken. »Nur wie Ihr befehlt.« Aber sie würde dennoch dafür sorgen, daß keine Schwarzen Schwestern mit Toveine gingen. Mesaana regte sich, ragte über ihr auf, so daß sie den Hals recken mußte, um zu diesem aus Licht und Schatten bestehenden Gesicht hinaufzusehen, und plötzlich fragte sie sich, ob die Auserwählten ihre Gedanken kannten.
»Wenn du mir dienen willst, Kind, dann mußt du mir dienen und gehorchen. Nicht Semirhage oder Demandred. Nicht Graendal oder sonst jemandem. Nur mir. Und dem Großen Herrn natürlich, aber außer ihm vor allen anderen mir.«
»Ich lebe, um Euch zu dienen, Große Herrin.« Die Worte wurden krächzend hervorgebracht, aber es gelang ihr dennoch, die angefügten Worte zu betonen.
Einen langen Moment sahen die silberhellen Augen unverwandt zu ihr herab. Dann sagte Mesaana: »Gut. Dann werde ich dich lehren. Aber rufe dir in Erinnerung, daß ein Schüler kein Lehrer ist. Ich bestimme, wer welche Dinge lernt, und ich entscheide, wann dieses Wissen genutzt werden kann. Sollte ich feststellen, daß du auch nur das Geringste weitergegeben oder auch nur eine Kleinigkeit ohne meine Anweisung benutzt hast, werde ich dich vernichten.«
Die glockenreine Stimme klang nicht verärgert, sondern nur sachlich. »Ich lebe, um Euch zu dienen, Große Herrin. Ich lebe, um Euch zu gehorchen, Große Herrin.« Sie hatte soeben etwas über die Auserwählten gelernt, was sie kaum glauben konnte. Wissen war Macht.
»Du hast ein wenig Kraft, Kind. Nicht viel, aber genug.«
Ein Gewebe erschien scheinbar aus dem Nichts.
»Dies«, sang Mesaana, »nennt man ein Wegetor.«
Pedron Niall brummte, als Morgase mit triumphierendem Lächeln einen weißen Stein auf dem Spielbrett setzte. Schlechtere Spieler hätten vielleicht noch zwei Dutzend mehr Steine gesetzt, aber er konnte den unausweichlichen Verlauf jetzt genauso erkennen wie sie. Zu Beginn hatte die blonde Frau, die ihm an dem kleinen Tisch gegenübersaß, gespielt, als wollte sie verlieren, um es für ihn interessanter zu machen, aber es hatte nicht lange gedauert, bis sie erkannte, daß dies zu ihrer Niederlage geführt hätte. Ganz zu schweigen davon, daß er klug genug war, die List zu erkennen und sie nicht duldete. Jetzt setzte sie all ihr Können ein und es gelang ihr, fast die Hälfte ihrer Spiele zu gewinnen. Seit etlichen Jahren hatte ihn niemand mehr so häufig besiegt.
»Dies ist Euer Spiel«, sagte er zu ihr, und die Königin von Andor nickte. Nun, sie würde wieder Königin sein, dafür würde er sorgen. In der grünen Seide mit dem hohen Spitzenkragen wirkte sie trotz des Schweißfilms auf ihren glatten Wangen jeder Zoll wie eine Königin. Sie schien jedoch kaum alt genug, eine Tochter in Elaynes Alter und noch viel weniger einen Sohn in Gawyns Alter zu haben.
»Ihr habt nicht erkannt, daß ich die Falle bemerkt habe, die Ihr von Eurem einunddreißigsten Stein an gelegt habt, Lord Niall, und Ihr habt mein Täuschungsmanöver vom einunddreißigsten Stein an als meinen wahren Angriff gedeutet.« Ihre blauen Augen funkelten aufgeregt. Morgase gewann gerne. Sie liebte es, auf Sieg zu spielen.
Natürlich diente dies alles dazu, ihn zu beruhigen -das Spiel mit den Steinen, die Höflichkeit. Morgase wußte, daß sie in der Festung des Lichts eine Gefangene war, wenn auch eine sehr verwöhnte Gefangene. Und eine geheime Gefangene. Er hatte es zugelassen, daß Geschichten über ihre Anwesenheit verbreitet wurden, hatte aber keine Erklärung abgegeben. Andors Geschichte des Widerstands gegen die Kinder des Lichts war zu beeindruckend. Er würde nichts erklären, bis die Legionen mit ihr als Galionsfigur in Andor einmarschierten. Das wußte Morgase sicherlich auch. Und wahrscheinlich wußte sie ebenfalls, daß er ihre Versuche, ihn zu dämpfen, bemerkt hatte. Der Vertrag, den sie unterzeichnet hatte, verlieh den Kindern in Andor Rechte, die sie niemals irgendwo sonst als hier in Amadicia besessen hatten, und er erwartete, daß sie bereits plante, wie sie seinen Zugriff auf ihr Land lockern und sobald es ihr möglich war ganz rückgängig machen könnte. Sie hatte den Vertrag nur unterzeichnet, weil er sie in die Ecke gedrängt hatte, und doch hatte sie aus dieser Position heraus weiterhin genauso geschickt gekämpft, wie sie ihre Steine auf dem Spielbrett setzte. Sie war trotz ihrer Schönheit sehr zäh. Nein, sie war einfach zäh und sonst nichts. Sie ließ sich von der reinen Freude an ihrem Spiel einfangen, aber er konnte dies nicht als Fehler werten, da es ihm so viele erfreuliche Momente verschaffte.
Wäre er zwanzig Jahre jünger gewesen, wäre er vielleicht mehr auf ihr wahres Spiel eingegangen. Lange Jahre als Witwer lagen hinter ihm, und der kommandierende Lordhauptmann der Kinder des Lichts hatte wenig Zeit für Tändeleien mit Frauen, wenig Zeit für anderes, als der kommandierende Lordhauptmann zu sein. Wäre er zwanzig - nun, fünfundzwanzig - Jahre jünger und sie nicht von den Tar-Valon-Hexen ausgebildet... Das konnte man in ihrer Gegenwart leicht vergessen. Die Weiße Burg war ein Sumpf der Schändlichkeit und des Schattens, und sie war bis ins Innerste davon berührt Rhadam Asunawa, der Hochinquisitor, hätte sie für ihre Monate in der Burg verurteilt und ohne Verzögerung gehängt, wenn Niall es zugelassen hätte. Er seufzte bedauernd.
Morgase behielt ihr siegreiches Lächeln bei, und ihre großen Augen beobachteten sein Gesicht mit unleugbarer Intelligenz. Er füllte ihre Becher aus einem in einer Schale mit kühlem Wasser stehenden Silberkrug mit Wein.
»Mylord Niall...« Das Zögern war genau richtig bemessen, die schlanke Hand über den Tisch halbwegs zu ihm ausgestreckt, der zusätzliche Respekt der Anrede. Einst hatte sie ihn einfach Niall genannt, verächtlicher, als sie einen betrunkenen Stallburschen angesprochen hätte. Das Zögern wäre genau richtig bemessen gewesen, wenn er sie nicht hätte einschätzen können. »Mylord Niall, Ihr könntet doch sicherlich Galad nach Amador befehligen, so daß ich ihn sehen könnte. Nur für einen Tag.«
»Ich bedaure«, antwortete er glatt, »daß Galads Pflichten ihn im Norden festhalten. Ihr solltet stolz sein. Er ist einer der besten jungen Offiziere bei den Kindern.« Ihr Stiefsohn wurde bei Bedarf sozusagen als Hebel angesetzt, jemand, der jetzt nützlicher war, wenn man ihn fernhielt. Der junge Mann war in der Tat ein guter Offizier, vielleicht der beste, der sich den Kindern zu Nialls Zeiten jemals angeschlossen hatte, und es war nicht nötig, seinen Eid auf die Probe zu stellen, indem man ihn wissen ließ, daß seine Mutter hier und nur aus Höflichkeit ein ›Gast‹ sei.
Ihre Enttäuschung zeigte sich durch ein leichtes Zusammenpressen der Lippen, das rasch wieder verging. Dies war nicht das erste Mal, daß sie diese Bitte geäußert hatte, und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Morgase Trakand ergab sich nicht einfach, nur weil feststand, daß sie besiegt war. »Wie Ihr meint, Mylord Niall«, sagte sie so sanftmütig, daß er sich fast an seinem Wein verschluckte. Unterwürfigkeit war eine neue Taktik, eine Taktik, die sie sich mühsam erarbeitet haben mußte. »Es ist nur einer Mutter...«
»Mein Lordhauptmann!« unterbrach sie eine tiefe, volltönende Stimme vom Eingang her. »Ich fürchte, ich habe wichtige Nachrichten, die nicht warten können, Mylord.« Abdel Omerna ragte in dem weißgoldenen Waffenrock eines Lordhauptmanns der Kinder des Lichts hoch auf, das kühne Gesicht an den Schläfen von flügelförmigem Weiß gerahmt, die dunklen Augen tiefliegend und nachdenklich. Er wirkte von Kopf bis Fuß furchtlos und herrisch. Und wie ein Narr, aber das war nicht auf den ersten Blick zu erkennen.
Morgase zog sich beim Anblick Omernas mit einer äußerst flüchtigen Bewegung in sich selbst zurück, die die meisten nicht einmal bemerkt hätten. Sie glaubte genau wie alle anderen, daß er ein Meisterspion für die Kinder war, ein Mann, den man fast genauso sehr, wenn nicht sogar mehr fürchten mußte wie Asunawa. Sogar Omerna selbst wußte nicht, daß er nur ein Köder war, der die Aufmerksamkeit von dem wahren Meisterspion ablenken sollte, ein Mann, der nur Niall selbst bekannt war - Sebban Balwer, Nialls trockener kleiner Stockfisch von Schreiber. Aber ob Köder oder nicht -gelegentlich ging etwas Nützliches durch Omernas Hände; und nur sehr gelegentlich etwas Schreckliches. Niall hatte keine Zweifel daran, was der Mann brachte. Nichts anderes außer ein vor den Toren aufgetauchter Rand al'Thor hätte ihn auf diese Art hereinplatzen lassen. Das Licht gebe, daß es nur der Wahnsinn eines Teppichhändlers war.
»Ich fürchte, unser Spiel ist für heute morgen beendet«, belehrte Niall Morgase und stand auf. Er verbeugte sich leicht vor ihr, als sie sich ebenfalls erhob, und sie erwiderte diese Huldigung, indem sie den Kopf neigte.
»Vielleicht bis heute abend?« Ihre Stimme hatte noch immer diesen fast fügsamen Unterton. »Das heißt, wenn Ihr mit mir speisen wollt?«
Niall nahm die Einladung selbstredend an. Er wußte nicht, worauf sie mit dieser neuen Taktik hinauswollte -sicher nicht auf das, was ein Dummkopf vermuten würde -, aber es wäre amüsant, es herauszufinden. Diese Frau steckte voller Überraschungen. Zu schade, daß sie von den Hexen verdorben war.
Omerna trat bis zu der in den Boden eingelassenen großen goldenen, lodernden Sonne vor, die im Laufe der Jahrhunderte von Füßen und Knien abgenutzt worden war. Abgesehen davon war dieser Raum sehr einfach gehalten, und die eroberten Banner, welche die Wände hoch oben unter der Decke säumten, waren vom Alter zerfetzt und zerschlissen. Omerna beobachtete, wie Morgase um ihn herumging, ohne ihn wirklich zu beachten, und als sich die Tür hinter ihr schloß, sagte er: »Ich habe Elayne oder Gawyn noch nicht gefunden, Mylord.«
»Sind das Eure wichtigen Nachrichten?« fragte Niall verärgert. Balwer berichtete, daß Morgases Tochter in Ebou Dar sei und noch immer mit den Hexen zusammensteckte. Sie betreffende Befehle waren bereits an Jaichim Carridin gesandt worden. Ihr Sohn plagte sich in Tar Valon, wo sogar Balwer nur wenige Augen-und-Ohren hatte, anscheinend noch immer mit den Hexen herum. Niall nahm einen großen Schluck kühlen Wein. Seine Knochen fühlten sich in letzter Zeit alt und brüchig an, und doch ließ die vom Schatten erzeugte Hitze seine Haut ausreichend schwitzen und trocknete seinen Mund aus.
Omerna zuckte zusammen. »Oh... Nein, Mylord.« Er suchte in einer Tasche seiner weißen Weste herum und zog dann eine kleine Knochenhülse mit drei roten Längsstreifen hervor. »Ihr wolltet dies gebracht bekommen, sobald die Taube in...« Er brach ab, als Niall ihm die Hülse aus der Hand riß.
Darauf hatte er gewartet. Das war der Grund, warum noch keine Legion mit der - wenn auch nicht als Führerin - voranreitenden Morgase auf dem Weg nach Andor war. Wenn nicht alles Varadins Wahnsinn entsprungen war, den Fieberphantasien eines Mannes, der seine Ausgeglichenheit verloren hatte, während Tarabon in Anarchie versank. Andor würde warten müssen. Andor, und vielleicht noch mehr.
»Ich ... ich habe die Bestätigung erhalten, daß die Weiße Burg wahrhaftig gespalten ist«, fuhr Omerna fort. »Die... die Schwarze Ajah hat Tar Valon eingenommen.« Kein Wunder, daß er beunruhigt klang, wenn er ketzerische Reden führte. Es gab keine Schwarze Ajah. Alle diese Hexen waren Schattenfreunde.
Niall beachtete ihn nicht und brach mit dem Fingernagel das Wachssiegel der Hülse. Er hatte Balwer dazu benutzt, diese Gerüchte in Umlauf zu bringen, und jetzt kehrten sie zu ihm zurück. Omerna glaubte jedes Gerücht, das er hörte, und er hörte sie alle.
»Und es gibt Berichte, daß die Hexen sich mit dem falschen Drachen al'Thor beraten, Mylord.«
Natürlich berieten sich die Hexen mit ihm! Er war ihre Schöpfung, ihre Marionette. Niall ignorierte das Geschwätz des Narren und trat wieder an den Spieltisch, während er eine schmale Papierrolle aus der Hülse zog. Er ließ niemals jemanden mehr über diese Nachrichten wissen, als daß sie existierten, und selbst das wußten nur wenige. Seine Hände zitterten, als er das dünne Papier entrollte. Seine Hände hatten nicht mehr gezittert, seit er sich vor über siebzig Jahren als Junge seinem ersten Kampf gegenübergesehen hatte. Jene Hände schienen jetzt kaum noch mehr als Knochen und Sehnen, aber sie besaßen noch immer genug Kraft für das, was er tun mußte.
Die Botschaft kam nicht von Varadin, sondern von Faisar, der zu einem anderen Zweck nach Tarabon gesandt worden war. Nialls Magen rebellierte beim Lesen. Die Nachricht war in deutliche Worte gehalten, nicht in Varadins Geheimschrift. Varadins Berichte waren stets Werke eines Mannes am Rande des Wahnsinns - wenn nicht bereits darüber hinaus -, aber Faisar bestätigte die schlimmsten dieser Berichte und mehr. Viel mehr. Al'Thor war eine tollwütige Bestie, ein Zerstörer, der aufgehalten werden mußte, aber jetzt hatte noch ein zweites wahnsinniges Wesen sein Haupt erhoben, eines, das vielleicht noch gefährlicher als die Tar-Valon-Hexen mit ihrem zahmen falschen Drachen war. Aber wie, unter dem Licht, konnte er beide bekämpfen?
»Es ... es scheint, als hätte Königin Tenobia Saldaea verlassen, Mylord. Und die ... die Drachenverschworenen ziehen brandschatzend und mordend durch Altara und Murandy. Ich habe gehört, das Horn von Valere sei in Kandor gefunden worden.«
Noch immer recht aufgewühlt, schaute Niall auf und sah Omerna neben sich, der sich die Lippen leckte und sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischte. Er hoffte zweifellos, einen Blick auf die Botschaft erhäschen zu können. Nun, es würde nur zu bald jedermann davon erfahren.
»Anscheinend war eine Eurer wilden Phantasien letztendlich doch nicht so wild«, sagte Niall, und das war der Moment, in dem er den Dolch zwischen seinen Rippen spürte.
Das Entsetzen ließ ihn ausreichend lange erstarren, daß Omerna den Dolch wieder herausziehen und erneut zustoßen konnte. Es waren schon andere kommandierende Lordhauptmänner vor ihm auf diese Art gestorben, und doch hatte er niemals geglaubt, daß Omerna sein Mörder sein könnte. Er versuchte, mit ihm zu kämpfen, aber er hatte keine Kraft mehr in den Armen. Er klammerte sich an Omerna, der ihn stützte - Auge in Auge.
Omernas Gesicht war gerötet. Tränen standen in seinen Augen. »Es mußte getan werden. Es mußte sein. Ihr habt die Hexen ungehindert in Salidar belassen und...« Er stieß Niall von sich, als erkenne er plötzlich, daß er die Arme um den Mann gelegt hatte, den er gerade ermordete.
Jetzt wich auch alle Kraft aus Nialls Beinen. Er fiel schwer gegen den Spieltisch und warf ihn um. Schwarze und weiße Steine wurden über den glatten Holzboden um ihn herum verstreut. Der Silberkrug prallte auf dem Boden auf und verspritzte Wein. Die Kälte in Nialls Knochen sickerte jetzt auch in seinen übrigen Körper.
Er war sich nicht sicher, ob sich die Zeit für ihn verzögert hatte oder alles wahrhaftig so schnell geschah. Stiefel stapften über den Boden; erschöpft hob er den Kopf und sah Omerna mit großen Augen vor Eamon Valda zurückweichen. Valda war in jeder Beziehung ebenso sehr das Bild eines Lordhauptmanns wie Omerna in seinem weiß-goldenen Waffenrock und der weißen Weste, aber Valda war nicht so groß, nicht so eindeutig herrisch. Das Gesicht des dunklen Mannes wirkte jedoch stets hart, und jetzt hielt er zudem ein Schwert in Händen - die mit einem Reiher versehene Klinge, die er so hoch schätzte.
»Verrat!« brüllte Valda und stieß Omerna das Schwert in die Brust.
Niall hätte gelacht, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Er atmete schwer und konnte das Blut in seiner Kehle gurgeln hören. Er hatte Valda noch nie gemocht - tatsächlich verachtete er den Mann - aber irgend jemand mußte es erfahren. Er ließ seinen Blick wandern und sah den Streifen Papier aus Tanchico nicht weit von seiner Hand entfernt liegen. Dort könnte er übersehen werden, aber nicht, wenn dieser Leichnam es festhielt. Und die Nachricht mußte gelesen werden. Seine Hand schien sehr langsam über den Boden zu kriechen, streifte das Papier, stieß es fort, während er es doch verzweifelt ergreifen wollte. Seine Sicht verschwamm. Er versuchte mit aller Kraft zu sehen. Er mußte... Der Nebel wurde dichter. Ein Teil von ihm wollte den Gedanken abschütteln. Da war kein Nebel. Aber der Nebel wurde dichter, und dort draußen lauerte ein unsichtbarer, verborgener Feind, der so gefährlich wie al'Thor oder noch gefährlicher war. Die Nachricht. Was? Welche Nachricht? Es war Zeit, aufzusitzen und das Schwert zu ziehen, Zeit für einen letzten Angriff. Beim Licht, Sieg oder Sterben -er kam! Er bemühte sich, einen Laut auszustoßen.
Valda wischte seine Klinge an Omernas Waffenrock ab und erkannte dann plötzlich, daß der alte Wolf noch immer atmete, ein kratzendes, gurgelndes Geräusch. Er beugte sich grinsend herab, um dem ein Ende zu bereiten - aber eine hagere, langfingrige Hand ergriff seinen Arm.
»Wollt Ihr jetzt kommandierender Lordhauptmann werden, mein Sohn?« Asunawas ausgemergeltes Gesicht gehörte einem Märtyrer, und doch brannten seine dunklen Augen mit einer Inbrunst, die selbst diejenigen entmutigen mußte, die nicht wußten, wer er war. »Ihr könntet es sehr wohl werden, wenn ich bestätige, daß Ihr Pedron Nialls Mörder getötet habt. Aber nicht, wenn ich hinzufügen muß, daß Ihr auch Nialls Kehle zerfetzt habt«
Valda entblößte die Zähne zu etwas einem Lächeln Ähnlichen und richtete sich dann auf. Asunawa liebte die Wahrheit. Er liebte sie sehr. Er konnte sie zwar drehen und wenden, aber soweit Valda wußte, log er niemals wirklich. Ein Blick in Nialls glasige Augen und auf die sich unter ihm ausbreitende Blutlache stellte Valda zufrieden. Der alte Mann starb.
»Könnte, Asunawa?«
Der Blick des Hochinquisitors loderte heftiger, als Asunawa zurücktrat und seinen schneeweißen Umhang von Nialls Blut entfernte. »Ich sagte könnte, mein Sohn. Ihr habt seltsam gezögert, Euch einverstanden zu erklären, daß Morgase der Hand des Lichts übergeben werden muß. Wenn ihr dieses Einverständnis nicht gebt..,«
»Morgase wird noch gebraucht.« Valda mochte die Zweifler nicht, die Hand des Lichts, wie sie sich nannten. Wer konnte Menschen mögen, die niemals einem Feind gegenübertraten, der nicht entwaffnet und in Ketten war? Sie hielten sich von den Kindern fern, abgesondert. Auf Asunawas Umhang war nur der scharlachrote Hirtenstab der Zweifler zu sehen und nicht die flammende Sonne der Kinder, die seinen eigenen Waffenrock zierte. Schlimmer noch war der Umstand, daß sie glaubten, ihre Arbeit mit Folterwerkzeugen und heißen Eisen sei die einzige wahre Arbeit der Kinder. »Morgase verschafft uns Andor, also könnt Ihr sie erst haben, wenn Andor in unserer Hand ist. Und wir können Andor erst übernehmen, wenn der Pöbel des Propheten vernichtet ist.« Nialls Brust bewegte sich jetzt kaum noch. »Es sei denn, Ihr wollt Amadicia gegen Andor eintauschen, anstatt beide zu besitzen? Ich will al'Thor hängen und die Weiße Burg zu Staub zermahlen sehen, Asunawa. Ich habe Euren Plan nicht unterstützt, nur um jetzt zuzusehen, wie Ihr mittendrin alles verwerft.«
Asunawa war nicht überrascht. Er war kein Feigling. Nicht hier in der Festung, wo sich Hunderte von Zweiflern aufhielten und die meisten der Kinder darauf achteten, sich ihnen gegenüber nicht falsch zu verhalten. Er ignorierte das Schwert in Valdas Händen, und das Gesicht des Märtyrers nahm einen traurigen Ausdruck an. Sein Schweiß schien wie Tränen des Bedauerns. »In dem Fall, da Lordhauptmann Canvele glaubt, dem Gesetz müsse Genüge getan werden, fürchte ich...«
»Ich denke, Canvele stimmt mit mir überein, Asunawa.« Das galt seit der Dämmerung, seit er erkannt hatte, daß Valda eine halbe Legion in die Festung gebracht hatte. Canvele war kein Narr. »Die Frage ist nicht, ob ich kommandierender Lordhauptmann sein werde, wenn die Sonne heute untergeht, sondern wer die Hand des Lichts bei der Suche nach der Wahrheit anführen wird.«
Asunawa war kein Feigling und noch weniger töricht als Canvele. Er zuckte nicht zusammen und fragte Valda auch nicht, wie er dies bewerkstelligen wollte. »Ich verstehe«, sagte er nach einem Moment, und dann sanfter: »Beabsichtigt Ihr, das Gesetz vollständig zu verhöhnen, mein Sohn?«
Valda mußte fast lachen. »Ihr könnt Morgase prüfen, aber sie steht nicht zur Debatte. Ihr könnt es tun, wenn ich mit ihr fertig bin.« Was noch etwas dauern könnte. Es würde nicht über Nacht zu bewerkstelligen sein, einen Ersatz für den Löwenthron zu finden, der ihre Beziehung zu den Kindern verstand, wie König Ailron es hier tat.
Vielleicht verstand Asunawa und vielleicht auch nicht. Er öffnete den Mund, als vom Eingang her ein Keuchen erklang. Nails Schreiber mit dem verkniffenen Gesicht, den geschürzten Lippen und den wulstigen, schmalen Augen stand dort und versuchte krampfhaft, nicht zu den auf dem Boden ausgestreckten Körpern zu blicken.
»Ein trauriger Tag, Meister Balwer«, sagte Asunawa, die Stimme betrübt und schwermütig. »Der Verräter Omerna hat unseren kommandierenden Lordhauptmann Pedron Niall getötet - das Licht erleuchte seine Seele.« Kein Vorstoß auf die Wahrheit. Nialls Brust bewegte sich nicht mehr, und ihn zu töten, war Verrat gewesen. »Lordhauptmann Valda kam zu spät, um ihn zu retten, aber er tötete Omerna als gerechte Strafe für sein Vergehen.« Balwer zuckte zusammen und begann unruhig seine Hände zu kneten.
Der einem Vogel ähnliche Bursche verursachte Valda Unbehagen. »Da Ihr schon hier seid, Balwer, könnt Ihr Euch auch nützlich machen.« Er mochte nutzlose Menschen nicht, und der Schreiber war die Reinform der Nutzlosigkeit. »Überbringt diese Nachricht jedem Lordhauptmann in der Festung. Sagt ihnen, daß der kommandierende Lordhauptmann ermordet wurde und daß ich ein Treffen des Konzils der Gesalbten einberufe.« Seine erste Handlung nach seiner Ernennung zum kommandierenden Lordhauptmann würde sein, den vertrockneten kleinen Mann aus der Festung hinauszubefördern und einen Schreiber zu erwählen, der nicht ständig zusammenzuckte. »Gleichgültig, ob Omerna von den Hexen oder vom Propheten gekauft wurde - ich will Pedron Niall gerächt sehen.«
»Wie Ihr befehlt, Mylord.« Balwers Stimme klang trocken und klein. »Es soll so geschehen, wie Ihr sagt.« Anscheinend war er jetzt in der Lage, Nialls Körper anzusehen. Er betrachtete kaum etwas anderes, während er sich schnell und unter Verbeugungen zurückzog.
»Also scheint es, daß Ihr letztendlich doch unser nächster kommandierender Lordhauptmann sein werdet«, sagte Asunawa, sobald Balwer gegangen war.
»So scheint es«, antwortete Valda trocken. Ein winziger Streifen Papier lag neben Nialls ausgestreckter Hand, die Art Papier, die man benutzt, wenn man Nachrichten mit Brieftauben versendet. Valda beugte sich herab, hob ihn auf und stieß dann angewidert den Atem aus. Das Papier hatte in einer Weinlache gelegen. Was auch immer darauf gestanden hatte, war verloren, die Tinte verwischt.
»Und die Hand wird Morgase bekommen, wenn sie ihren Zweck für Euch erfüllt hat.« Dies war keineswegs als Frage gemeint »Ich werde sie Euch persönlich übergeben.« Vielleicht könnte eine Kleinigkeit arrangiert werden, um Asunawas Appetit eine Weile zu stillen. Dadurch könnte sichergestellt werden, daß auch Morgase verbesserungsfähig blieb. Valda ließ das Papier auf Nialls Leichnam fallen. Der alte Wolf hatte seine Schlauheit und seine Kraft im Alter verloren, und jetzt wäre es an Eamon Valda, die Hexen und ihren falschen Drachen zur Räson zu bringen.
Bäuchlings auf einem Hügel liegend, überblickte Gawyn das Unglück unter der Nachmittagssonne. Die Quellen von Dumai lagen jetzt viele Meilen südlich von ihm, jenseits gewellter Ebenen und niedriger Erhebungen, aber er konnte den Rauch von den brennenden Wagen noch immer sehen. Er wußte nicht, was dort noch alles geschehen war, nachdem er durch einen Ausbruch so viele Jünglinge wie möglich davongeführt hatte. Al'Thor hatte die Angelegenheit scheinbar gut unter Kontrolle gehabt, al'Thor und jene schwarz gewandeten Männer, die anscheinend die Macht lenken konnten und Aes Sedai und Aiel gleichermaßen erledigten. Die Erkenntnis, daß Schwestern flohen, hatte ihm gezeigt, daß es Zeit war zu verschwinden. Er wünschte, er hätte al'Thor töten können. Für seine Mutter, die durch den Einfluß dieses Mannes umgekommen war - Egwene leugnete es, aber sie hatte keine Beweise - und für seine Schwester. Selbst wenn Min die Wahrheit gesagt hatte - er hätte sie überreden sollen, das Lager mit ihm zu verlassen, ungeachtet dessen, was sie wollte; es hatte heute zu vieles gegeben, was er hätte anders machen sollen -, wenn Min also recht hatte und Elayne al'Thor liebte, dann war dieses schreckliche Schicksal Grund genug, ihn zu töten. Vielleicht hatten die Aiel es für ihn erledigt. Aber das bezweifelte er.
Mit verbittertem Lachen hob er sein Fernrohr an. Eines der goldenen Bänder trug eine Inschrift. »Von Morgase, der Königin von Andor, für ihren geliebten Sohn Gawyn. Möge er für seine Schwester und Andor ein lebendiges Schwert sein.« Jetzt waren dies bittere Worte.
Jenseits verbrannten Grases und kleiner, verstreut liegender Ansammlungen von Bäumen war nicht viel zu sehen. Der Wind blies noch immer heftig und wühlte Staubwolken auf. Gelegentlich bewies eine blitzartige Bewegung in einer Senke zwischen den gedrungenen Hügelkämmen, daß Menschen unterwegs waren. Es stand außer Frage, daß es sich um Aiel handelte. Sie verschmolzen zu geschickt mit der Landschaft, als daß es grün gewandete Jünglinge sein konnten. Das Licht gebe, daß mehr als jene entkommen waren, die er hatte hinausbringen können.
Er war ein Narr. Er hätte al'Thor töten sollen. Er mußte ihn töten. Aber er konnte es nicht. Nicht weil der Mann der Wiedergeborene Drache war, sondern weil er Egwene versprochen hatte, keine Hand gegen al'Thor zu erheben. Sie war als niedrig gestellte Aufgenommene aus Cairhien entschwunden und hatte Gawyn nur einen Brief hinterlassen, den er immer wieder las, bis das Papier an den Faltstellen fast riß. Und er wäre nicht überrascht zu erfahren, daß sie al'Thor auf irgendeine Weise zu Hilfe geeilt war. Aber er durfte sein Wort nicht brechen - am wenigsten der Frau gegenüber, die er liebte. Er würde sein Wort ihr gegenüber niemals brechen. Was auch immer ihn das kosten mochte. Er hoffte, daß sie den Kompromiß billigen würde, den er im Einklang mit seinem Ehrgefühl gewählt hatte. Er hatte keine Hand erhoben, um Schaden zuzufügen, aber auch nicht, um Hilfe anzubieten. Das Licht gebe, daß sie das niemals von ihm verlangte. Es hieß, daß Liebe den Verstand eines Mannes verwirrte. Er war der Beweis dafür.
Hastig preßte er das Fernrohr ans Auge, als eine Frau auf einem schwarzen Pferd auf freies Feld galoppierte. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber keine Dienerin würde richtige Reitkleidung tragen. Also war es mindestens einer Aes Sedai gelungen zu entkommen. Wenn die Schwestern der Falle lebend entkommen waren, dann waren vielleicht auch noch weitere Jünglinge entkommen. Mit etwas Glück könnte er sie finden, bevor sie von den Aiel nach und nach niedergemetzelt würden. Zuerst mußte er sich jedoch um diese Schwester kümmern. Er wäre in vielerlei Beziehung lieber ohne sie weitergezogen, aber wenn er sie allein ließ und sie vielleicht ein unbemerkter Pfeil erwischte, wollte er nicht dafür verantwortlich sein. Während er jedoch Anstalten machte, sich zu erheben und ihr zuzuwinken, stolperte das Pferd, fiel hin und warf sie ab.
Er fluchte abermals, als ihm das Fernrohr einen aus der Flanke des Schwarzen herausragenden Pfeil offenbarte. Er suchte hastig die Hügel ab und versagte sich einen dritten Fluch. Vielleicht zwei Dutzend verschleierte Aiel standen auf einem Hügelkamm und blickten auf Pferd und Reiterin herab, weniger als hundert Schritte von der Aes Sedai entfernt. Gawyn schaute rasch zurück. Die Schwester erhob sich schwankend. Wenn sie ihren Verstand zusammennahm und die Macht gebrauchte, sollten wenige Aiel sie in keiner Weise verletzen können, besonders wenn sie sich gegen weitere Pfeile hinter dem gestürzten Pferd verschanzte. Dennoch hätte er sich besser gefühlt, wenn er sie erreicht hätte. Er rollte sich von dem Hügelkamm fort damit die Aiel ihn nicht sahen, und glitt die Rückseite des Hügels hinab, bis er sich aufrichten konnte.
Er hatte fünfhunderteinundachtzig Jünglinge nach Süden geführt, fast alle, die in ihrer Ausbildung ausreichend weit fortgeschritten waren, um Tar Valon zu verlassen, aber weniger als zweihundert Jünglinge warteten in der Senke auf ihren Pferden. Bevor das Unglück die Quellen von Dumai traf, war er überzeugt gewesen, daß ein Komplott im Gange gewesen war, ihn und die Jünglinge nicht zur Weißen Burg zurückkehren zu lassen. Nun, er wußte es nicht genau, und er wußte auch nicht, ob der Plan von Elaida oder Galina erdacht worden war, aber er hatte ausreichend gut funktioniert, wenn auch nicht ganz so, wie man es sich gedacht hatte. Es war kaum verwunderlich, daß er lieber ohne Aes Sedai weiterzog, wenn er die Wahl hätte.
Er blieb neben einem großen grauen Wallach mit einem jungen Reiter stehen. Die Jünglinge brauchten sich nur alle drei Tage zu rasieren, und einige wenige gaben auch das nur vor, aber Jisao trug die Silberburg am Kragen, die ihn bereits als erfahrenen Kämpfer auswies, als Siuan Sanche abgesetzt wurde; seither hatte er auch einige durch seine Kleidung verdeckte Narben davongetragen. Er gehörte zu jenen, die sich kaum jemals rasieren mußten. Seine dunklen Augen schienen jedoch zu einem dreißig Jahre älteren Mann zu gehören. Gawyn fragte sich, wie seine eigenen Augen wirkten.
»Jisao, wir müssen eine Schwester aus...«
Die ungefähr hundert Aiel, die über die niedrige Erhebung im Westen herantrabten, schraken überrascht zurück, als sie die Jünglinge in der Senke sahen, aber weder die Überraschung noch die überlegene Anzahl der Jünglinge hielt sie zurück. Sie verschleierten sich blitzartig, galoppierten den Hang hinab und schossen jeweils zu zweit mit zustoßenden Speeren heran. Die Aiel wußten gewiß, wie man Reiter bekämpfte, aber auch die Jünglinge hatten kürzlich harte Lektionen im Kampf gegen Aiel erhalten, und wer langsam lernte, lebte in ihren Reihen nicht lange. Einige trugen schmale Lanzen mit eineinhalb Fuß Stahl. Sie konnten ihre Schwerter genauso gut führen wie alle anderen. Sie kämpften zu zweit und zu dritt, wobei sie einander den Rücken deckten und ihre Pferde in Bewegung hielten, damit die Aiel die Tiere nicht verstümmeln konnten. Nur die schnellsten Aiel gelangten in jene Kreise wirbelnden Stahls. Die kampferprobten Pferde waren selbst Waffen, die mit ihren Hufen Schädel zerschmetterten und Männer mit ihrem Gebiß packten und wie Hunde schüttelten, wobei die Kiefer die Gesichter der Menschen halbwegs fortrissen. Die Pferde schrien im Kampf, und die Männer brummten vor Anstrengung und brüllten in der Erregung, die Männer im Kampf ergriff, die Erregung, die ihnen zeigte, daß sie lebten und weiterleben würden, um einen weiteren Sonnenaufgang zu erleben, und wenn sie bis zur Taille in Blut waten müßten. Sie schrien, wenn sie töteten, und sie schrien, wenn sie starben. Es schien kaum ein Unterschied.
Gawyn hatte jedoch keine Zeit zuzuhören oder zuzusehen. Als einziger Jüngling zu Fuß erweckte er Aufmerksamkeit. Drei mit dem Cadin'sor bekleidete Gestalten sprangen zwischen den Pferden hindurch und eilten mit bereitgehaltenen Speeren auf ihn zu. Vielleicht dachten sie, sie hätten leichtes Spiel mit ihm, da sie zu dritt nur einem Kämpfer gegenübertraten. Er belehrte sie eines Besseren. Sein Schwert glitt mühelos aus der Scheide. Dreimal spürte er den Stoß der ins Fleisch eindringenden Klinge in seinem Handgelenk, und blitzschnell lagen drei verschleierte Aiel am Boden. Zwei bewegten sich noch schwach, aber sie waren bereits genauso kampfunfähig wie der dritte. Als nächstes stand ihm eine andere Herausforderung bevor.
Ein hagerer Bursche, der Gawyn um eine Handbreit überragte, bewegte sich wie eine Schlange voran, der Speer flimmernd, während sein Schild vorschoß und sich neigte, um Gawyns Schwertstreiche mit einer Macht abzulenken, die dieser bis in die Schultern spüren konnte, wobei der Aielmann Hiebe gegen seine Rippen in Kauf nahm, während Gawyn eine klaffende Wunde am Oberschenkel davontrug, die nur durch eine schnelle Drehung kein Durchstoß geworden war.
Sie umkreisten einander, blind für alles, was um sie herum geschah. Blut sickerte heiß Gawyns Bein hinab. Der Aielmann führte einen Scheinangriff aus, hoffte, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und führte einen neuerlichen Scheinangriff aus. Gawyn änderte ständig seine Stellung, das Schwert hoch erhoben oder tief gehalten, in der Hoffnung, daß der Mann einen seiner Halbstöße ein wenig zu weit ausdehnen würde.
Letztendlich entschied der Zufall die Angelegenheit. Der Aielmann stolperte plötzlich, und Gawyn traf ihn ins Herz, bevor er auch nur das Pferd sah, das den Mann von hinten angestoßen hatte.
Früher hätte er Bedauern empfunden. Er war in dem Glauben aufgewachsen, daß ein Kampf zweier Männer ehrenvoll und sauber durchgeführt werden sollte. Aber die Kämpfe und Scharmützel, die er seit über einem halben Jahr erlebte, hatten ihn eines Besseren belehrt. Er stellte dem Aielmann einen Fuß auf die Brust und zog seine Klinge frei. Nicht gekonnt, aber schnell, denn im Kampf war Langsamkeit oft tödlich.
Aber als er sein Schwert freigezogen hatte, bestand kein Grund mehr für Schnelligkeit. Männer lagen am Boden, Jünglinge und Aielmänner, einige stöhnend, einige still, und die restlichen Aiel flüchteten gen Osten, von zwei Dutzend Jünglingen verfolgt - einschließlich einiger, die es besser wissen sollten. »Halt!« schrie Gawyn. Wenn die Dummköpfe es zuließen, getrennt zu werden, würden die Aiel ihnen den Garaus machen. »Keine Verfolgung! Halt, sagte ich! Halt, verdammt!« Die Jünglinge verhielten widerwillig ihre Pferde.
Jisao wendete seinen Wallach. »Sie wollten auf dem Weg zu ihrem Ziel uns über den Haufen reiten, Mylord.« Sein Schwert war bis auf halbe Länge blutverschmiert.
Gawyn bekam die Zügel seines kastanienbraunen Hengstes zu fassen und schwang sich in den Sattel, ohne sich die Zeit zu nehmen, seine Klinge zu säubern oder in die Scheide zurückzustecken. Es war auch keine Zeit nachzusehen, wer tot war oder wer vielleicht noch lebte. »Vergeßt sie. Diese Schwester wartet auf uns. Hai, laßt Eure Männer nach den Verwundeten sehen. Und behaltet die Aiel im Auge; daß sie sterben, bedeutet nicht, daß sie aufgeben. Alle anderen folgen mir.« Hai salutierte mit dem Schwert, aber Gawyn war bereits losgeritten.
Das Scharmützel hatte nicht allzu lange gedauert, aber doch zu lange. Als Gawyn den Hügelkamm erreichte, war nur noch das tote Pferd zu sehen, dessen Satteltaschen umgestülpt waren. Er warf einen prüfenden Blick durch sein Fernrohr, konnte aber weder die Schwester noch die Aiel noch sonst ein Lebewesen entdecken. Nur der vom Wind aufgewühlte Staub und ein Gewand auf dem Boden neben dem Pferd, das sich im Wind bewegte, regten sich. Die Frau mußte sehr schnell davongelaufen sein.
»Sie kann nicht weit gekommen sein, selbst wenn sie gerannt ist«, sagte Jisao. »Wir können sie finden, wenn wir uns verteilen.«
»Wir werden sie suchen, nachdem wir uns um die Verwundeten gekümmert haben«, erwiderte Gawyn bestimmt. Solange Aiel in der Nähe waren, würde er seine Männer nicht aufteilen. In wenigen Stunden würde die Sonne untergehen, und er wollte vorher ein festes Lager auf übersichtlichem Gelände errichtet haben. Natürlich wäre es hilfreich, wenn er bis dahin eine oder zwei Schwestern fände. Jemand müßte Elaida diese Katastrophe erklären, und es wäre ihm lieber, wenn sich eine Aes Sedai und nicht er selbst Elaidas Zorn stellen müßte.
Er wandte seinen Kastanienbraunen seufzend um und ritt den Hügel wieder hinab, um nachzusehen, welche Opfer der Kampf dieses Mal gefordert hatte. Das war seine erste richtige Lektion als Soldat gewesen: Man müßte den Preis stets bezahlen. Er hatte das Gefühl, als wären bald neuerliche Rechnungen fällig.
Die Welt würde die Quellen von Dumai während der kommenden Ereignisse vergessen.